KAPITEL 21

David konnte den Fernseher hören: Sam hatte bestimmt den Zeichentrickkanal eingestellt. Es war so still ohne Maxi. Sie sollte heute zurückkommen, und David war froh. Er mochte das Krankenhaus nicht und wollte auch nicht noch einmal dorthin. Es war gruselig mit all den kranken und verletzten Leuten.

Er stieg aus dem Bett, stand einen Moment in seinem Pyjama da und machte sich selbst vor, dass seine Mutter zu Hause wäre. Sie wäre in der Küche, um ihnen Pfannkuchen und Eier zu machen. Sie würde ihnen Saft einschenken. Im Winter mischte sie immer heimlich ein paar Tropfen Echinacea in ihren Saft, weil sie es sonst nicht nahmen. Aber er tat so, als würde er es nicht wissen, und trank den Saft, um ihr eine Freude zu machen. Oder vielleicht wusste sie ja auch, dass er von den Tropfen wusste. Vielleicht verstellten sie sich ja beide. Vielleicht verstellte sie sich auch jetzt, und das alles hier war nur ein Riesenschwindel. Vielleicht war sie in der Küche und machte Pfannkuchen. Vielleicht war es Dienstagmorgen und nicht Donnerstagmorgen, und sie war spät zurückgekommen, und es war alles nur ein böser Traum gewesen, der jetzt vorüber war.

Er ging am Bad vorbei in die Küche.

Eine Schüssel mit durchweichtem Gorilla-Munch stand in einer Milchpfütze auf dem Küchentresen. Sams Frühstück. Die Zeichentrickfilme waren zu laut aufgedreht.

Dad saß am Esszimmertisch, auf dem es schlimmer aussah als je zuvor. Er hatte einen Notizblock und einen Kugelschreiber vor sich liegen und telefonierte.

»Morgen, David.« Dad legte auf. Er sah ziemlich übel aus. David nahm an, dass er die ganze Nacht wach gewesen war. Nach dem Spätfilm hatte er wahrscheinlich den nächsten gesehen und dann den nächsten auch noch. David wusste nicht, was sein Vater mitten in der Nacht tat, aber Schlafen war es offenbar nicht.

»Wie spät ist es?« Er wusste nicht, warum er fragte, denn er konnte ja selbst die Küchenuhr sehen. Es war nach neun. So lange schliefen sie sonst nie.

»Ich habe schon in der Schule angerufen«, sagte sein Vater. »Mach dir darum keine Sorgen. Sie haben gesagt, dass am ersten Tag nicht besonders viel geschieht.«

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Mrs. Soundso.« Sein Vater versuchte ein Lächeln, aber es missglückte.

»Kenn ich nicht.«

David nahm sich eine Schüssel aus dem Schrank und füllte sich etwas Gorilla-Munch ein. Seine Mom hielt sehr viel von Reformkost-Cornflakes, und sie schmeckten auch tatsächlich ganz gut, wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte. Ob Dad und Grandma weiterhin bei diesen Gorilla-Munch bleiben oder zu den normalen Marken zurückkehren würden? David goss etwas Milch in die Schüssel, holte sich einen Löffel und setzte sich mit dem Rücken zu seinem Vater an den Frühstückstresen. Er wollte mithören, wollte herausfinden, was los war. Aber sein Dad hatte aufgehört, Telefonnummern zu wählen, und jetzt hörte man nur noch Davids Kauen und ab und zu ein blechernes Lachen aus dem Fernseher. Nach ein paar Minuten sprach Dad. »David.«

David legte seinen Löffel zur Seite und drehte sich um.

Dad stützte die Hände flach auf den Tisch. »Wir fahren heute alle zusammen nach Hause. Ihr bleibt bei Grandma in New York, und ich werde wieder hierher zurückkommen und auf Mom warten.«

»Und was ist mit Maxi?«

»Wir holen sie aus dem Krankenhaus ab, und dann fahren wir.«

»Ich will aber nicht wegfahren.«

»Du fährst aber. Wie wir alle.«

»Du hast uns gestern gesagt, dass sie Mom finden werden. Wir müssen auf sie warten. Wir dürfen nicht einfach wegfahren.«

»Wir fahren aber. Iss dein Frühstück und zieh dich an.« Dad stand auf. Er hatte dieselben zerknitterten Shorts an wie gestern und auch das abgetragene schwarze T-Shirt mit dem großen roten Fuß, der einem kleinen Mann weit voranschritt und unter dem Keep On Truckin’ zu lesen stand. David war es immer peinlich, wenn Dad dieses alte Shirt trug, aber es hieß, es sei das allererste Geschenk gewesen, das Mom ihm gemacht hatte, als sie angefangen hatten, miteinander zu gehen. Dad mochte nämlich die Grateful Dead. Mom spielte sogar manchmal einige ihrer Songs auf dem Cello, um Dad eine Freude zu machen. Wenn sie das tat, ging David immer aus dem Zimmer. Ältere Leute waren wirklich langweilig. Aber in diesem Augenblick würde er alles dafür geben, Mom etwas auf dem Cello spielen zu hören. Er würde seinen Vater noch nicht einmal auf das erbärmliche T-Shirt ansprechen.

Doch sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Kein Cello erklang. Stattdessen sollte er weggebracht werden. Was passierte dann mit Mom?

»Nein. Ich fahre nicht mit.«

»David, ich brauche deine Mithilfe. Wir müssen ins Krankenhaus fahren, um Maxi abzuholen.«

»Ich will aber nicht dahin.«

»Es muss sein. Es dauert ja nur ein paar Minuten.«

»Bitte, Dad. Ich bleibe hier bei Grandma.«

Sein Vater sah ihn einen Augenblick lang an, als müsse er nachdenken. »Du kommst mit mir.«

Sam kam in die Küche. »Was ist los?«

»Ich bleibe hier«, sagte David.

»Sam«, sagte Dad, »zieh dich an. Du und David, ihr kommt mit mir mit, um Maxi abzuholen.«

»Aber wir wollen nicht ins Krankenhaus.« Sam warf David einen Blick zu. »Hol doch Maxi ab und bring sie her. Wir warten hier mit Grandma.«

»Grandma schläft noch. Und jetzt zieht euch an.«

»Ich bin wach.« Sarah kam im Bademantel in die Küche, noch ziemlich verschlafen, aber doch lächelnd. »Lass sie doch hier bei mir bleiben, Will. Du bist doch höchstens eine Stunde unterwegs. Wenn du zurück bist, sind wir so weit, dass wir fahren können.«

Dad sah Grandma an und überlegte. David kannte diesen Blick, wenn Dad etwas nicht einsah, aber doch aus irgendeinem Grund meinte, er solle nicht widersprechen. Er war bei seiner Arbeit der Boss und gewohnt, den Leuten aufzutragen, was sie zu tun hatten, aber gleichzeitig wusste er auch, dass er nicht zu sehr herumkommandieren durfte, weil sonst die Gefahr bestand, dass er nur das Gegenteil erreichte. Manchmal sagte Mom ihnen, dass Dad eine Menge Stress hatte. Aber was war mit dem Stress, den es bedeutete, ein Kind zu sein? Was war mit dem Stress, unter dem sie im Augenblick standen? Ihre Mutter war fort. Ihre Mutter.

»Ich bleibe hier bei Grandma«, sagte David abermals. Er wollte ohne seine Mutter nicht nach New York zurückfahren. Wenn niemand sonst sie fand, vielleicht konnte er es ja.

»Ich auch.« Sam trat David zur Seite.

Nach einer Weile holte Dad tief Luft. »Also gut. Aber niemand verlässt das Haus.«

»Wohin sollten wir schon gehen?« Grandma nahm ihren Wasserkessel zur Hand und trat an die Spüle.

Dad betastete seine Tasche, um sicherzugehen, dass er Geldbörse und Schlüssel hatte. Dann ging er zu David und Sam und gab ihnen beiden einen Kuss auf die Stirn.

»Ich bin bald wieder zurück.«

»Bis später dann, Dad«, sagte David.

Er sah, wie sein Vater in die Garage ging, und gleich danach hörte er, wie der Mietwagen angelassen wurde und davonfuhr.

Sobald ihr Vater fort war, ging David in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Sam folgte ihm. Danach schlichen sich beide ins Zimmer ihrer Eltern. Auf der Kommode lagen Geldscheine und Münzen. David griff nach dem Geld und stopfte sich etwas davon in die Tasche.

»Was machst du da?«, wollte Sam von ihm wissen.

»Sag ich dir später.«

»Du stiehlst Dads Geld.«

»Hast du nicht gehört? Ich sag’s dir später. Und ich stehle es nicht, sondern ich leih es nur.«

»Grandma!«, rief Sammy lauthals.

David hielt Sam den Mund zu. »Mach das nicht, oder ich nehm dich nicht mit!«

»Wohin?«

»Sei still, oder ich sag es dir nicht.«

Sam sah verwirrt aus.

»Psst, okay?« David presste einen Finger auf die Lippen.

»Na gut, okay.«

David dirigierte Sammy zur Vordertür, die bereits offen stand. Grandma stand in ihrem Morgenmantel draußen und unterhielt sich mit einem Mann. Es war der Doktor von gestern, dem sie vor der Polizeiwache begegnet waren. Dr. Bell. David öffnete die Fliegentür, und Sam folgte ihm nach draußen. Cool – der Doktor hatte einen roten Sportwagen.

Als er David und Sam bemerkte, sagte der Doktor: »Hallo, Jungs«, und zwinkerte ihnen mit seinem einen Auge zu.

»Hi, Dr. Bell«, sagte David.

»Ich habe Ihre Enkel gestern kennen gelernt«, sagte er zu Sarah. »Zusammen mit ihrem Vater, auf der Polizeiwache.«

David und Sam strichen um das Auto herum, während die Erwachsenen sich unterhielten. Irgendwas über einen Namen, den der Doktor für Dad überprüft hatte. Sie hörten Grandma sagen: »Sie hätten doch auch anrufen können«, aber der Doktor erwiderte: »So hatte ich zumindest einen Vorwand, mich in den Wagen zu setzen.«

»Das ist in der Tat ein großartiger Wagen, den Sie da haben«, sagte Sarah. »Mein verstorbener Mann liebte alte Autos, und ich hab so manchen Sonntagnachmittag damit verbracht, mich mit ihm auf Oldtimer-Shows umzusehen. Lassen Sie mich raten. Das da ist eine Corvette?«

Bell schmunzelte und wartete darauf, dass Grandma weiterriet.

»Aus den späten Fünfzigern. Ich schätze mal, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig?«

»Es ist eine 57er Corvette, Modell 283.« Bell nickte entschieden. »Ich habe sie erst diese Woche gekauft. Auf der anderen Seite der Brücke in Fall River war eine Show. So schwer es dem Verkäufer gefallen ist, sich von dem guten Stück zu trennen, so leicht ist es mir gefallen, damit davonzufahren.« Er lachte unvermittelt und scheppernd, als würde eine Hand voll Münzen auf einen Fliesenboden fallen.

»Sind Sie Sammler?«

»Ich überlege es mir gerade. Bald gehe ich nämlich in den Ruhestand, und da werde ich etwas brauchen, um meine Zeit auszufüllen.«

»Warum nicht«, erwiderte Sarah. »Wenn Sie es sich leisten können. Jonah hat sehr viel Freude an seinen Autos gehabt, wenngleich ich es nie geduldet habe, dass er gleichzeitig mehrere besitzt. Er behielt es immer ein Jahr lang und verkaufte es schließlich, um ein anderes zu erstehen. Ich glaube, mit Autos zu handeln gefiel ihm fast noch besser, als sie zu besitzen.«

Der Doktor sah hinüber zu David und Sam. Er schmunzelte und ging auf sie zu.

»Wollt ihr beiden mal einsteigen?«

David zuckte die Achseln, aber Sam war sofort Feuer und Flamme. Er rutschte auf den Fahrersitz und ließ den Beifahrersitz für David frei. Das war nicht fair, denn David war ja älter, aber wenn er so lange zögerte … Sie saßen im Wagen und taten so, als würden sie gemeinsam ein Rennen um den Grand Prix fahren.

»Jungs.« Grandmas Stimme holte sie aus dem Rennfahrertraum in die Wirklichkeit zurück. »Ich zeige Dr. Bell, wo die Toilette ist. Ich bin gleich wieder da.«

Die Erwachsenen gingen nach drinnen, und David sah seine Chance.

»Komm.« Er stieg aus dem Wagen. »Schlag die Tür nicht zu, sei leise.«

»Wieso?«

»Kommst du jetzt?«

Sam stieg aus und schloss leise die Tür.

David lief die Auffahrt hinunter, vorbei an den Gärten seiner Großmutter in Richtung der Hauptstraße.

»Ich glaube nicht, dass wir das Haus verlassen dürfen«, sagte Sam, der hinter seinem großen Bruder hertrottete.

»Das ist egal«, sagte David. »Wir haben keine andere Wahl.«

Sobald sie außer Sichtweise des Hauses waren, fing David an zu rennen. Der Schotterweg war lang und schmal und auf beiden Seiten dicht von Bäumen gesäumt, die fast den gesamten Blick auf den Himmel nahmen. Das Sonnenlicht glitzerte durch die Blätter. Alle in der Familie liebten diese verzauberte Straße, und wenn ihre Mutter am Steuer saß, dann verlangsamte sie die Fahrt, damit sie sich im kühlen grünen Licht treiben lassen konnten.