KAPITEL 17

Bobby Robertson passte ins Profil, aber Geary wusste auch, dass es nur selten so einfach war.

»Wir haben keine Beweise«, sagte er zu Amy, als sie zur Wache zurückfuhren.

»Wir haben die Bilder, wir haben die Kassetten. Und wenn wir seine Festplatte überprüfen, finden wir wahrscheinlich noch mehr.«

»Indizien. Das reicht nicht.«

»Wir kriegen ihn. Wenn wir seinen Wagen zur Spurensicherung bekommen, haben wir ihn am Wickel. Aber vorher wird er uns zu Emily Parker führen, und dann werden es nur noch Pflichtübungen sein. Dann brauchen wir nur noch die i-Pünktchen zu setzen …«

»Und die t-Striche, ja ja ja.«

Sie warf ihm einen ihrer tödlichen Blicke zu, und er mäßigte seinen Ton.

»Wenn er uns zu Emily führt und wir sie lebend vorfinden, dann ist es leicht. Aber was, wenn er es nicht tut?«

Sie fuhr auf einen Parkplatz am Hintereingang. »Er wird es tun.«

»Vielleicht. Aber etwas kommt mir trotzdem komisch vor.« Geary löste seinen Gurt und stieg aus dem Wagen. Amy schlug ihre Tür zu und schaute ihn über die Kühlerhaube hinweg an.

»Was?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Irgendwas.«

Einer der Kommentare klang ihm im Ohr, die Bell beim Lunch vorgebracht hatte. »Berufstätig, zweifellos. Wahrscheinlich angestellt. Er schafft es, seine Opfer zu verstecken und selbst zu bestimmen, wann und wo er sie präsentiert. Das erfordert nicht nur Einfallsreichtum, sondern auch die entsprechenden Mittel.«

Geary stimmte dieser Einschätzung zu. Aber soweit er sehen konnte, war bei Bobby Robertson beruflich alles Fehlanzeige, und außer Sozialhilfe hatte er wahrscheinlich keine Einkünfte. Der Mann war eine krankhafte Mischung aus Dreistigkeit und Nervosität, die Geary Magenschmerzen bereitete.

»Sie haben Recht«, räumte Amy ein. »Wir sollten vorerst noch nichts ausschließen.«

Sie öffnete die Tür, beugte sich in den Wagen und drückte energisch auf den Konsolenknopf, der die Verbindung zur Einsatzzentrale herstellte, von der sie doch nur durch die Steinmauer hinter sich getrennt waren. Eine Stimme antwortete mit einem butterweichen Hallo, nachdem sie krächzend eine Abfolge von Zahlencodes durch den Äther geschickt hatte.

»Funken Sie Landberg und Graves an«, trug Amy der Stimme auf. »Sagen Sie ihnen, sie sollen zum Gooseberry Way Nr. 18 fahren. Die Spurensicherung soll ebenfalls dorthin. Wenn niemand zu Hause ist, sollen sie in die Garage gehen und dort einen zusammengerollten Teppich markieren, der in der linken Ecke bei der automatischen Tür steht. Wenn doch jemand zu Hause ist, sollen sie warten, ich bin mit dem Durchsuchungsbeschluss auf dem Weg.«

Sie beendete das Gespräch und schlug mit Schwung die Wagentür zu. »Jetzt zufrieden?«

»Zufrieden ist nicht das richtige Wort. Beeindruckt auch nicht. Sie haben den richtigen Instinkt, aber ziehen die falschen Schlüsse.«

»Also, wo sollen wir uns denn sonst noch umsehen?«

Geary schüttelte den Kopf. Nichts war schlimmer, als auf Sand zu bauen.

»Ich werde jetzt beim Boss Bericht erstatten«, sagte sie. »Kommen Sie mit?«

Auf dem Weg durch den Korridor streckte Amy ihren Kopf zur Tür der Einsatzzentrale hinein. »Haben Sie die beiden erreicht?«

Offenbar hatte alles geklappt, denn in ihren dunklen Zügen stand nun jene Entschlossenheit, die er langsam immer besser kennen lernte. Sie schlängelte sich durch den Korridor und bog in die Eingangshalle ab, um ihre Telefonzettel zu holen. Komisch, dachte Geary, jetzt waren sie schon alle mit Handys und Pagern ausgerüstet, zusätzlich zu den hoch technisierten Kommunikationsgeräten in den Streifenwagen, und doch benutzten sie noch immer diese rosa Notizzettel, statt Nachrichten über Voice-Mail zu empfangen. Aber das war auch gut so, denn genau dabei hätte er nicht mehr mitgespielt und Kaminer gesagt, er möge seinen Namen von der Gehaltsliste fernhalten. Stattdessen hätte er dann weiter auf eigene Faust an dem Fall gearbeitet.

Amy griff mit der Hand durch die schmale Öffnung in der Trennscheibe aus Plexiglas, schaute zu Suellen am Rezeptionstresen und blieb plötzlich mit dem Blick an etwas hängen. Geary trat hinter sie und sah, was es war. Links und rechts neben Suellen saßen, wie Assistenten, die beiden Parker-Jungen. Sie hatten Polizeimützen auf dem Kopf, Dienstmarken an ihren T-Shirts und spielten Karten.

»Hallo?« Amys Atem ließ das Plexiglas beschlagen. »Was hat das hier zu bedeuten?«

Geary zwinkerte den Jungen zu. Der Kleine winkte, und der Große starrte ihn nur an. Warum waren sie immer noch hier, fragte sich Geary. Wo war denn nun Parkers Schwester?

»Sie sitzen hier bei mir, während ihr Dad sich mit dem Chief unterhält.« Suellen wirkte wie eine Großmutter, die ganz in ihrem Element ist. Geary musste wieder an Ruth denken. Sie hätte eine großartige Oma abgegeben, aber dafür hätte man erst einmal Kinder haben müssen. Er seufzte. Dafür war es nun zu spät.

»Wo?«, fragte Amy.

»In seinem Büro.«

Geary folgte Amy durch die Korridore, bis sie zu einer Tür kamen, in deren Mitte das Staatssiegel von Massachusetts wie eine Zielscheibe prangte. Sie klopfte energisch an.

Kaminer selbst öffnete schwungvoll die Tür. Roger Bell und Will Parker saßen nebeneinander auf zwei Besucherstühlen gegenüber von Kaminers großem Schreibtisch. Sie drehten sich zur Tür um. Bell nickte Geary zu. Grünes kurzärmeliges Hemd. Grüne Augenklappe. Klassisch Bell.

Geary sah zu Will hinüber. »Ich habe Ihre Jungs vorne gesehen.«

»Meine Schwester ist im Ausland. Aber Freunde sind auf dem Weg hierher.« Will wandte sich an Kaminer. »Ich möchte meine Jungs vom Cape wegbringen.«

»Gute Idee«, sagte Kaminer.

»Wie geht’s dem Baby?«, fragte Geary.

»Die Ärztin sagt, sie ist bald wieder gesund. Ich muss sie aber bei mir behalten.«

»Das dürfte kein Problem sein«, sagte Bell. »Er ist nur an den Jungs interessiert.«

Wills Blick ruhte einen Augenblick auf Bell, als könne oder wolle er diese Aussage einfach nicht verarbeiten.

»Tja, Boss, die Zeit läuft uns davon.« Geary versetzte Kaminer einen leichten Klaps auf die Schulter, ging hinüber zu Bell und Parker und setzte sich auf den letzten freien Stuhl.

Kaminer schüttelte den Kopf, sodass sein lockiges blondes Haar wippte. »Noch bin ich nicht Ihr Boss.« Er wandte sich an Amy: »Den letzten Stand, bitte«, marschierte um seinen Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen Chefsessel mit der hohen Rückenlehne.

Amy war die Einzige, die stand. Will Parker erhob sich und bot ihr seinen Platz an. Geary bemerkte die Art, wie sie das Angebot von sich wies: stoisch, mit einem kurzen Kopfschütteln.

Parker blieb stehen, und der Stuhl blieb leer.

Amy sah zuerst auf Parker und dann zu Kaminer hinüber. »Sir?«

»Er kann bleiben«, sagte Kaminer.

»Aber …«

Seine Augen blitzten sie an. Offenbar hatte er sich wieder einmal entschieden, mit zweischneidigem Schwert zu fechten. Er würde Parker Vertrauen schenken und gleichzeitig Amy grünes Licht geben, ihn unter die Lupe zu nehmen. Kaminers eigenwillige Ironie strapazierte ihre Nerven, aber er war nun mal der Boss.

Amy berichtete von der Durchsuchung, die sie in Robertsons Haus vorgenommen hatten. Kaminer, Bell und Parker hörten aufmerksam zu.

»Was ist mit dieser Harmon?«, fragte Kaminer.

»Ich hab ihr gesagt, sie soll sich von Robertson fernhalten. Dass wir sie wegen Behinderung der Ermittlungen drankriegen, falls sie irgendetwas tut.«

»Er wird zurzeit verfolgt?« Man sah an seinem Gesicht, wie Will kurz durchatmete. Geary wusste, dass all seine Hoffnungen jetzt darauf gerichtet waren, dass Robertson die Polizei ohne Umweg direkt zu Emily führen konnte.

»In diesem Moment«, antwortete Amy.

Geary schüttelte den Kopf. Bell beobachtete ihn abwartend. Geary wusste, dass sein alter Freund derselben Meinung wie er sein würde.

»Mir behagt das nicht«, schaltete sich Geary ein. »Ich finde nicht, dass wir uns zufrieden geben sollen, nur weil Robertson pervers ist und die richtige Haarfarbe hat. Er passt nicht ins Profil.«

Kaminer legte den Kopf in den Nacken. »Wie meinen Sie das?«

Bell sprang Geary bei. »Ihr Mister Robertson ist ein ernst zu nehmender Verdächtiger, ohne Zweifel. Aber ich muss sagen, dass ich Dr. Gearys Unbehagen teile. Es erweist sich oft als Fehler, sich mit der erstbesten Lösung zufrieden zu geben. Voreilige Schlüsse führen häufig in die Irre. Finden Sie nicht auch, Mister Parker?«

Will wirkte überrascht, von Bell angesprochen zu werden. »Das mag wohl sein.«

Bell nahm die Gelegenheit wahr, Will jetzt auf eine Weise anzusehen, die unangemessen erschienen wäre, wenn er ihn nicht vorher angesprochen hätte. Ein kluger Schachzug. Bell war es nicht wirklich auf Wills Antwort angekommen. Geary fragte sich, wie lange sie wohl schon dort gesessen hatten, bevor er zusammen mit Amy aufgetaucht war. Worum sich das Gespräch wohl gedreht hatte? Er hatte Bell Hunderte Mal in Aktion gesehen, und sein Instinkt sagte ihm, dass Will die Prüfung bereits bestanden hatte.

Kaminer beugte sich vor und stützte seine Ellbogen in das Durcheinander von Papieren auf dem Schreibtisch. »Hier ist der Plan. Ich hab die State Police und das FBI angefordert. Sie sind auf dem Weg. Wir werden mit ihnen zusammenarbeiten, und zwar ohne Rangeleien über die Zuständigkeit. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Und ich postiere jemanden oben am Gooseberry Way; wir müssen wissen, wer ein und aus geht. Zudem ziehe ich Caruso und Miles ab, denn die beiden brauchen Schlaf. Stattdessen setze ich Petersen und Shechter auf Robertson an.«

Gut, dachte Geary – die beiden hatten Robertsons Pädophilie-Sammlung mit eigenen Augen gesehen und würden ihn wie hungrige Raubvögel im Auge behalten.

»Sie beide«, sagte Kaminer und richtete den Blick auf Amy, aber Geary nahm an, dass er der Zweite sein sollte, »fahren rauf nach Taunton und reden mit der Mutter, die überlebt hat.«

»Ausgezeichnete Idee.« Bell schürzte die Lippen unter seinem sorgfältig gestutzten Bart. »Die Frage ist nur, woran sie sich erinnern kann.«

Das Taunton State Hospital stand wie ein baufälliges Schloss am Ende einer langen privaten Auffahrt. Als sie langsam auf den Parkplatz zufuhren, bemerkte Geary einen jungen Mann mit fahler Haut, der gebeugt am Straßenrand stand und sie anstarrte, als sei ihr Chevy ein außerirdisches Raumschiff, das soeben in sein Territorium eingedrungen war. Der junge Mann wartete, bis das Raumschiff an ihm vorübergeflogen war, wie ein braver Junge der immer schön alle Verkehrsregeln gelernt und beachtet hatte, bis eines Tages das Monster in seine Seele eingedrungen war und ihn in andere Welten entführt hatte. Geary und Amy kommentierten den Anblick nicht. Stumm parkten sie den Wagen und gingen über den Rasen. Geary bemerkte, dass Amy jeden Augenkontakt mit den Patienten vermied. Ob sie das wohl auf der Polizeischule gelernt hatte? Ihnen nicht in die Augen zu sehen, weil sie sich provoziert fühlen und angreifen könnten? Das Gegenteil traf für seine klinischen Psychologiestudien zu: Wenn man keinen Blickkontakt bekam, verlor man die Patienten.

Das Innere des Gebäudes bestand ausschließlich aus kalten, harten Flächen: Stein und Beton, Metall und Glas. Einige Türen waren mit Ketten verschlossen. Auf einem Schild stand das Wort Besucher, dazu ein Pfeil nach links. Sie folgten ihm durch eine Schwingtür in einen langen Korridor.

»Und jetzt?« Amy schien nicht gerade begeistert zu sein.

»Auf ins Wunderland, würde ich sagen.«

Sonnenschein überflutete den ausgetretenen Steinfußboden. Sie kamen an einer unbeschrifteten Tür nach der anderen vorbei, bis sie schließlich eine mit der Aufschrift Besucher sahen.

»Man fühlt sich so richtig willkommen, stimmt’s?«, sagte Amy und stieß die Tür auf.

Der Raum war leer bis auf einen grauen Metallschreibtisch, auf dem ein Computer stand. Besucher blinkte mitten auf dem Bildschirm. Es gab weder eine Maus noch eine Tastatur. Sie näherten sich dem Computer, sahen einander an und streckten gleichzeitig die Finger aus, um das Wort zu berühren. Auf dem Bildschirm erschienen ein eingeblendetes Keyboard und die Instruktion, den Namen der Person, die man besuchen wollte, einzugeben. Amy tippte WINFREY, JANICE und dann auf Enter. Eine neue Oberfläche blitzte auf: Janice Winfrey, 5. Stock, Anmeldung in der Schwesternstation.

»Okay, dann los!« Geary klatschte in die Hände, und ein Echo hallte inmitten all der unnatürlichen Stille.

»Psst!«, zischte Amy. Sie sah aus wie Alice auf dem Weg durch den Spiegel und schien sich zu fragen, ob alles nur ein Traum war oder ob sie aus Versehen selbst unter die Insassen dieses Krankenhauses geraten war.

Geary hakte sie unter. »Kommen Sie, meine Liebe, wir bringen Sie direkt zur Aufnahme. Haben Sie keine Angst, das Kaninchen ist echt, aber auch ganz freundlich.«

Amy löste ihren Arm mit einem Ruck und versuchte es mit einem finsteren Blick, aber stattdessen zogen sich ihre Mundwinkel zu einem angedeuteten Grinsen in die Höhe.

Sie fanden den Fahrstuhl und fuhren hinauf in den fünften Stock. Als sich die Türen öffneten, wurden sie von einem seltsamen Bild begrüßt: Eine Ansammlung von Gesichtern starrte ihnen entgegen. Ungefähr zehn Leute standen eng aneinander gepresst. Offenbar warteten sie darauf, in den winzigen Vorraum gelassen zu werden, der den Fahrstuhl vom Stationstrakt trennte. Es handelte sich zweifellos um Patienten, und einige waren so sediert, dass sie überhaupt nicht auf den Anblick der Besucher reagierten, die aus dem Fahrstuhl traten. Andere wieder bemerkten die Besucher durchaus, und Geary nahm wahr, dass in manchen Gesichtern etwas wie Neugier stand.

Eine hoch gewachsene Schwester in weißer Tracht kam schnellen Schrittes mit einem Schlüsselbund in der Hand zur Tür. Sie sagte etwas, das mit eifrigem Nicken aufgenommen wurde, drehte sich um und schloss die Tür auf. Geary und Amy drückten sich an die Wand, um den Patienten Platz zu machen, die in den Vorraum fluteten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Schwester so aufgeräumt, dass es unpassend wirkte.

»Wir sind Besucher«, sagte Geary.

Das Lächeln blieb unbeeindruckt. »Und wen möchten Sie besuchen?«

»Janice Winfrey.«

Das Lächeln verging, und ihre Augenbrauen hoben sich. »Tatsächlich? Sie hat schon seit Jahren keinen Besuch mehr gehabt. Und Sie sind?«

Die Patienten hatten sich in den Aufzug gedrängt. Die Schwester hielt die Tür mit einem Fuß auf.

»Freunde«, sagte Amy.

»Ach wirklich?« Es war deutlich, dass sie ihnen nicht glaubte. »Na ja, warum nicht. Vielleicht können Sie ja zu der armen Janice durchdringen. Den Korridor hinunter nach rechts, und sagen Sie Nancy bei der Anmeldung, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Ihr harter roter Fingernagel tippte auf das Namensschild unter ihrer linken Schulter: Margaret Nelson. »Ich bin in zwanzig Minuten wieder zurück. Wir haben Ausgang und machen einen Spaziergang über das Gelände.« Sie lächelte ihrer Mannschaft im Fahrstuhl zu, und die Patienten nickten und zappelten in Erwartung ihres Ausflugs.

Nancy an der Anmeldung würdigte sie kaum eines Blickes. Als sie hörte, dass Margaret Nelson auf dem Weg in die Außenwelt ihren Besuch genehmigt hatte, zuckte sie die Achseln, nahm einen Schlüssel von einem Brett, das lediglich mit Nummern gekennzeichnet war, und nuschelte: »Folgen Sie mir.«

Sie wurden zu Zimmer Nummer 513 geführt. Nancy schloss auf, öffnete die Tür sperrangelweit und ging davon.

In einem verschlissenen grünen Sessel in einer Ecke des Zimmers saß die Frau, die einmal Janice Winfrey gewesen war. Ihr Gesicht war zum Fenster gerichtet, aber ihre Miene war ausdruckslos. Sie schien weder den Sommernachmittag wahrzunehmen noch die anderen Patienten, die sich auf dem Rasen ergingen, oder die Truppe ihrer Nachbarn vom fünften Stock, die das Glück hatten, mit Margaret Nelson als Führerin das Gelände durchstreifen zu dürfen. Was Janice Winfrey vor sich sah, spielte sich nicht vor ihren Augen ab und geschah auch nicht im gegenwärtigen Moment.

Sie war eine kleine, feingliedrige Frau mit hellbraunem Teint. Ihr Haar war kurz rasiert, sodass sie beinahe wie eine Gefängnisinsassin aussah. Gekleidet war sie in ein Hauskleid in hellem Orange und mit Blumenmuster, wie man es in jedem Billigladen kaufen konnte, weit entfernt von dem, was sie bestimmt in besseren Tagen getragen hatte: ein maßgeschneidertes Kleid, stellte sich Geary vor, hellblau, mit einer Perlenkette um den zarten Hals.

Amy sprach sie als Erste an: »Mrs. Winfrey?«

Janice reagierte nicht.

»Mrs. Winfrey, ich bin Amy Cardoza. Und das hier ist Dr. Geary.«

»John«, sagte er. »Dürfen wir reinkommen?«

Sie hätte eine Wachsstatue sein können.

Geary hatte solche Menschen schon früher gesehen. Sie befanden sich in einer Art Wachkoma, das sie aus ihrem Geist ausschloss, aber in ihrem Schmerz fesselte. Es war wie das Gegenteil einer Amnesie: Statt zu vergessen, verloren sie sich in einer Flut der Erinnerung. Ein Schleusentor ließ sich nicht mehr schließen, und sie ertranken in ihrem Trauma. Es musste die Hölle auf Erden sein, und Geary konnte sich nur ansatzweise eine Vorstellung davon machen.

Dennoch musste er versuchen, zu ihr durchzudringen. Er näherte sich ganz langsam und ging vor ihr auf die Knie, um mit dem Kopf auf ihrer Höhe zu sein. Dann sah er ihr in die Augen. Sie waren wie Murmeln. Ihre Haut war überzogen mit zarten Rissen, die mit zunehmendem Alter zu Furchen werden würden. Sie war erst in den Dreißigern, aber sie wirkte uralt. Amy stand im Hintergrund und sah ihnen zu. Als Geary die Hand ausstreckte, konnte er aus dem Augenwinkel sehen, dass Amy den Kopf schüttelte. Er führte trotzdem seine Absicht aus und berührte Janice’ Hand, so sanft es ging.

Janice blinzelte, nur einmal, aber es war eine Reaktion.

Amy trat einen Schritt näher.

Geary atmete tief durch und beobachtete die Augen. »Wir hatten gehofft, mit Ihnen sprechen zu können«, sagte er. »Über Chance.«

Janice’ Augen schlossen sich abrupt. Ihre Lippen wurden starr.

»Lassen Sie«, flüsterte Amy. »Sie machen ihr Angst.«

Geary zog seine Hand zurück, blieb ihr aber nahe und kniete weiterhin vor ihr.

»Es gibt da noch eine Frau«, flüsterte Geary, »eine Mutter wie Sie. Sie ist verschwunden. Sie hat Kinder.«

Janice war in ihren alten Zustand zurückgefallen. Es schien kein Funken Leben in ihr zu sein.

Geary spürte, wie sich Amys Hand auf seine Schulter legte. Ihre Augen waren braun wie die von Janice Winfrey, aber sie waren lebendig. Eine Zärtlichkeit sprach aus ihrem Gesicht, die ihn verwirrte, und er wusste nicht, warum. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie ihm bedeuten aufzuhören.

»Sie will ja«, sagte Geary, »aber sie kann nicht.«

Margaret Nelson erschien in der Tür. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie?«, sagte sie. »Nichts. Sie ist schon fast sieben Jahre hier, und sie hat nie ein Wort gesagt, nicht ein einziges Mal.«

Die Patienten, die sie auf dem Weg hinaus sahen, die sich hin und her wiegten, schaukelten und sich mit den Ausgeburten ihrer Phantasie unterhielten, diese Menschen schienen glücklich zu sein im Vergleich zu Janice Winfrey.

Sie sprachen kein Wort miteinander, bis sie wieder im Auto saßen. Amy legte die Hände aufs Lenkrad. »Was tut er ihnen nur an?«

»Das ist die Frage.« Geary kurbelte sein Fenster hinunter.

Amy fuhr los. Die Klimaanlage lief, aber Geary ließ sein Fenster offen, um den Fahrtwind zu spüren und das Rauschen des Verkehrs zu hören. Amy erhob keinen Einwand. Sie empfand wohl dasselbe: Erleichterung, wieder draußen zu sein.

Sie hatten die Brücke überquert und befanden sich wieder auf dem Cape, als ihr Handy läutete. Amy griff zwischen die Sitze und kramte in ihrer braunen Ledertasche. Geary fragte sich, was sie wohl alles darin haben mochte, denn sie brauchte ganze zwanzig Sekunden, um das Telefon zu finden. Und das, während sie am Steuer saß.

Sie meldete sich und hörte zu. Ihr Blick blieb auf die Straße gerichtet, aber Geary war trotzdem unruhig. Er saß nicht gern als Beifahrer in einem Auto, dessen Fahrer telefonierte. Außerdem gefiel ihm auch der Ausdruck des Erstaunens auf Amys Gesicht nicht.

»Wann?«, fragte sie und lauschte dann wieder. »Ist das sicher?«

Ohne hinzusehen, warf sie das Handy zurück in ihre Tasche.

»Emily Parkers Haar«, teilte sie ihm mit. »Die Spurensicherung hat die Übereinstimmung zwischen einem Haar aus dem Auto und einem aus ihrer Haarbürste festgestellt.«

Geary verstand nicht. Wie konnten sie Haar in Robertsons Auto gefunden haben, wenn er noch gar nicht festgenommen worden war? »Ich dachte, wir wollten warten, ob er uns vielleicht zu ihr führt?«

Amy gab Gas, als sie sich der Ausfahrt auf die Route 151 näherten.

»Sie übertreten die Geschwindigkeit.« Geary lachte, aber sie wurde nicht langsamer.

»Es war nicht sein Wagen«, sagte sie. »Es war der 47er Ford.«

Der Wagen von Ragnatelli’s Vintage Automobiles, den sie beschlagnahmt hatten, nachdem Ragnatelli tot aufgefunden worden war.

»Also war es nicht Robertson …«

»Und es gibt noch eine Neuigkeit.«

Amy schwenkte in die Ausfahrt. Geary musste sich am Armaturenbrett festhalten, um nicht auf sie draufzufallen.

»CLIS hat was in der Datenbank gefunden.«

Das Criminalistics Laboratory Information System, das wissenschaftliche Informationssystem des FBI. Geary hatte es oft benutzt.

»In Marjorie Lipnors Blut wurden Spuren von Pancuronium gefunden.«

»Wann? Nachdem sie sich das Leben genommen hatte?«, fragte Geary. »Das Zeug bleibt nicht lange im Blut.«

»Nein, es war in den ersten Proben, die genommen wurden, als man sie gefunden hatte. CLIS hat daraufhin Vergleiche mit den anderen Fällen angestellt. Das Blut von Terry McDaniel wies ebenfalls Spuren von Pancuronium auf.«

»Aber sie wurde tot aufgefunden, und Pancuronium tötet nicht.« Dann verstand Geary plötzlich. »Es ist ein Muskellähmer. Es lässt den Körper zeitweilig erstarren, nicht aber den Geist.«

Amy kniff die Augen fast ganz zu, als wollte sie diese Vorstellung verdrängen, aber die Straße weiter im Blick behalten.