KAPITEL 24
John Geary stand im Konferenzraum mit dem Rücken zur Wand und hörte Sarah zu, die die Ereignisse des Morgens schilderte. Will saß neben ihr. Er hielt sein Töchterchen etwas zu fest auf seinem Schoß. Aus seiner Miene war jede Zuversicht verschwunden, und die schwarzblauen Ränder unter seinen Augen sahen aus, als hätte er Boxhiebe ins Gesicht bekommen.
»Er ist ein Doktor«, sagte Sarah und sah Geary an. »Und er ist Ihr Freund. Natürlich habe ich ihm vertraut.«
Geary hörte zu, konnte es aber nicht glauben. Roger Bell in einer Corvette? Mörder? Er kannte den Mann seit fast dreißig Jahren, und wie die meisten Kriminalpsychiater war er ein Spinner, aber noch lange kein Psychopath.
Tränen überschwemmten Sarahs blasse Augen, und sie schluchzte. »Ich hab überall nach David und Sam gesucht, überall.«
»Ich hätte meine Jungs nicht hier lassen dürfen.« Will konnte nur noch heiser flüstern. »Ich hätte sie zwingen sollen, mit mir zu kommen.«
Niemand erwiderte etwas. Er hatte Recht. Er hätte es tun sollen, aber jetzt war es zu spät.
»Es ist nicht deine Schuld, Will«, sagte Sarah, »sondern meine.«
Die arme alte Frau. Das war eine ganz andere Welt als jene, in der sie aufgewachsen war. Töchter, die vermisst wurden, Enkelkinder, die geraubt wurden, gute Freunde, die sich als Irre entpuppten.
Sarah wiederholte jede Einzelheit der Geschehnisse des Morgens, wieder und wieder. Dabei starrte sie auf ihre Hände in ihrem Schoß. Geary registrierte eine Information nach der anderen, aber sein Verstand wollte nicht darauf reagieren, sondern wehrte ungläubig den Gedanken ab, dass sein alter Freund ein Serienmörder sein sollte. Das konnte nicht sein; er hatte Bell sein halbes Leben lang gekannt und ihm vertraut.
Und doch wusste Geary, dass sein alter Freund problemlos an dem Cop vorbeigekommen wäre, der am Gooseberry Way postiert gewesen war. Schließlich arbeitete Bell an dem Fall mit.
Alle Straßen im Umkreis von zwanzig Meilen um den Gooseberry Way herum waren gesperrt.
Die Corvette war leicht zu erwischen, wenn sie noch auf der Straße war. Und Roger Bell war so gut wie tot, wenn er tatsächlich hinter dem Steuer saß.
Geary wusste, dass sie gute Chancen hatten, die Jungen zu retten. Und Emily Parker zu finden, möglicherweise sogar lebendig.
Lieber nicht wissen wollte er, dass Roger Bell Mister White war.
Geary hörte eine Stimme neben sich. Man sprach mit ihm.
»Wie lange wissen Sie es schon?«
Es war Sorensen, dessen Laseraugen sich in Gearys Hirn hineinbrannten.
»Bell hat noch nie Autos gesammelt«, antwortete Geary.
»Wie lange wissen Sie es?«
»Ich weiß es noch immer nicht.«
»Ihr Dr. Bell könnte Mister White sein.« Sorensens Worte breiteten sich bis in alle Ecken des Raums aus. »Sie müssen einen Verdacht gehabt haben.«
Geary richtete den Blick auf Sorensen, auf dessen scharfkantiges Gesicht, das eng anliegende Silberhaar, die Augen, die von all den Schrecken angefüllt waren, die sie gesehen hatten. Hier war ein Mann, der sich alles vorstellen konnte.
»Niemals.«
Wie hieß es so schön? Je dichter man etwas vor Augen hatte, desto schwieriger war es zu erkennen. Konnte Geary tatsächlich so kurzsichtig gewesen sein? So gänzlich blind?
Bell passte in das Profil – beinahe. Er war kein großer Planer und kam zu jedem seiner Termine zu spät. Außerdem war seine Mutter gestorben, als er noch klein war. Er war als Einzelkind von einem Vater, der ihn vergötterte, und einer liebevollen Stiefmutter aufgezogen worden. Abgesehen vom frühen Verlust seiner Mutter, hatte es in Bells Leben, soweit Geary wusste, keinen anderen bedeutsamen emotionalen Konflikt gegeben. Er konnte es sich einfach nicht zusammenreimen; es ergab keinen Sinn.
Und doch hatte auch er es schon erlebt: ein scheinbar ungetrübter Geist, der plötzlich tödliches Gift verspritzt.
Die Idee, sich auf dem Cape zur Ruhe zu setzen, ein Buch über alte Fälle zu schreiben, den Psychopathen als kriminelles Genie zu definieren, als Mitautor an dem Buch zu fungieren – all das war von Roger gekommen. War all das geplant gewesen, um Geary an genau diesen Punkt zu führen? War es möglich, dass sich all die Jahre der Freundschaft in einem Labyrinth des Verrats auflösten?
Geary löste sich von der Wand, trat vor und schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Roger ist es nicht.«
Sorensen wandte sich empört ab.
»Hören Sie, Sorensen«, sagte Geary. »Ich kenne Roger zu lange, um einfach mit den Fingern zu schnippen und mich hier einzureihen. Ich höre auf meinen Instinkt. Er ist es nicht.«
Sorensen drehte sich aufreizend langsam wieder um und starrte Geary auf eine unangenehme Art und Weise an. Geary trat einen Schritt vor und sagte nochmals:
»Unmöglich.«
»John.« Amys Ton war beherrscht. »Alles deutet jetzt auf ihn. Versuchen Sie, diesen Fall wie jeden anderen zu betrachten.«
Aber es ist kein x-beliebiger Fall mehr.
Geary wandte seinen Blick von Amy ab. »Ich bin bald zurück«, sagte er und verließ den Raum.
Geary wusste, dass sie ihn beschatteten, als er zurück nach Cotuit Bay Shores fuhr, aber es scherte ihn nicht. Er passte auf, dass er die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht überschritt, und fuhr auf direktem Weg, vorbei an gepflegten Rasenflächen und grauen Holzhäusern, zu Rogers Strandhaus am Forsythe Court. Der Wetterhahn auf dem Dach drehte sich im Wind.
Obwohl Rogers Rasen gepflegt aussah – er mähte ihn einmal die Woche –, wirkte sein Haus neben den anderen fast identischen Häusern einzigartig. Und plötzlich wusste Geary auch, warum. Alle anderen Häuser schmückten sich mit Blumenbeeten, die überquollen von Stiefmütterchen, Petunien, Löwenmaul, Gänseblümchen, Geranien und Kletterrosen. Die Nachbarn hatten ihren Häusern dadurch Charakter gegeben, Roger nicht. Sein Haus zeichnete sich im Gegenteil dadurch aus, dass nicht eine einzige Blume im Garten oder in den Fenstern zu sehen war. Er hatte nichts als seinen rostigen Wetterhahn. Es war auch das einzige Haus, vor dem drei Polizeiwagen geparkt hatten.
Geary fuhr in die Einfahrt und stieg aus seinem Wagen. Die Garagentür war geschlossen, und er warf einen Blick durch eines der beiden verschmutzten Fenster. In der Garage stand Rogers blauer Nissan. Geary wandte sich um und ging über den mit Feldsteinen gepflasterten Weg zur Vordertür. Er läutete und schlug ein paar Mal mit dem Messingklopfer gegen die Tür. Die Tür ging auf, und vor ihm stand ein Cop, den er noch nie gesehen hatte.
»Detective Geary, Mashpee PD«, stellte er sich vor.
Der Cop war jung. Er betrachtete Geary von oben bis unten und behielt dabei seine Gedanken für sich. Eine gute Entscheidung, denn Geary stand der Sinn ganz und gar nicht nach blöden Kommentaren.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«
»Ich nehme an, der Verdächtige ist nicht hier.«
»Korrekt.«
Weitere Cops durchstöberten das Haus, was Geary gar nicht gefiel. Er drehte sich um und ging zurück. Der zivile Wagen, der ihm gefolgt war, kam auf den Platz gefahren und drehte eine Runde. Jetzt erkannte er in seiner Zwangsbegleitung die Officer Sagredo und Graves. Geary winkte. Sagredo winkte zurück. Graves schien ihn deswegen zu tadeln, und sie hielten weiter Abstand.
Roger war also fort, obwohl sein Wagen in der Garage stand. Niemand ging hier in der Gegend zu Fuß, außer vielleicht zu den Anlegern. Aber auch das war eigentlich unwahrscheinlich, weil die Ausrüstung, die man für eine Bootsfahrt brauchte, sehr viel wog. Aber Roger hatte seinen SeaRay Sundancer an der Old Post Road bei Point Isabella in der North Bay liegen, und vielleicht hatte er beschlossen, einen kleinen Ausflug zu unternehmen.
Geary stieg wieder in seinen Wagen und fuhr langsam aus dem Forsythe Court heraus, damit Sagredo und Graves nicht den Anschluss verloren.
Er sah sie, als er in die Point Isabella Road einbog. Auf einem Parkplatz am Anleger stand sie: die Corvette. Sie war schnittig und tomatenrot, ihr Kühlergrill bleckte sein blitzendes Chromgebiss.
Geary lenkte seinen Wagen auf einen leeren Parkplatz. Sagredo und Graves kamen direkt neben ihm zum Stehen. Sie stiegen alle gleichzeitig aus ihren Autos, jeder von ihnen hatte es gesehen. Es hatte keinen Sinn, Überraschung vorzugeben. Die Corvette war hier. Aber nur Geary konnte sehen, dass Bells Boot fort war.
Bell hatte hier immer ein Boot liegen gehabt. Ebendas hatte ihn nämlich schon vor Jahren aufs Cape gelockt. Geary erinnerte sich jetzt an einen ihrer gemeinsamen Ausflüge, bei dem sie gen Horizont gefahren waren, während Ruth daheim ihr Abendessen vorbereitet hatte. Er erinnerte sich an das Gefühl von Freundschaft, das in ihm aufgestiegen war, an die Zwanglosigkeit jenes Nachmittags. Der einzige Missklang war entstanden, als ihm ein Hautausschlag auf Bells Brust aufgefallen war, kaum sichtbar unter seiner ergrauten Brustbehaarung. Aber im Sonnenschein waren sie deutlich zu erkennen gewesen: Linien aus vernarbtem Gewebe, die seine Brust wie ein Netz überspannten.
»Hat jemand deine Brust als Dart-Zielscheibe benutzt, Roger?«
Das Lachen, amüsiert, aber beherrscht.
»Ein Hautausschlag, den ich als Kind hatte«, hatte Bell geantwortet. »Es fällt mir schon gar nicht mehr auf.«
Bei der Erinnerung wurde Geary übel. Er trat auf den Anleger und blieb an Bells leerem Liegeplatz stehen. Daniel Lipnors Rumpf kam ihm in den Sinn, der noch warm auf der Babyschaukel gelegen hatte, die schmale Brust von frischen Nadelstichen übersät. Er war sechs Jahre alt gewesen und groß für sein Alter, hatte ausgesehen wie sieben.
Sieben Jahre alt. Alle sieben Jahre, auf den Tag genau.
Was war Roger im Alter von sieben Jahren geschehen, am 3. September?
Was war mit seiner Brust geschehen?
Was verbarg er unter seiner Augenklappe?
Kalter Schweiß sammelte sich auf Gearys Haut, und eine Welle von Übelkeit überkam ihn. Er fiel auf die Knie und stützte seine Handflächen auf den Rand des Anlegers. Sagredo und Graves näherten sich ihm und hielten dann inne. Ihr Job war es zu beobachten, nicht mehr. Geary beugte sich über das dunkle Wasser und erbrach sich.
»Roger hat ein Boot«, sagte Geary leise.
»Was für eins?« Amy durchquerte den Raum und blieb vor ihm stehen. Sie nahm sein Gesicht in die Hände und drehte es in ihre Richtung. »Wo hat er es liegen?«
»Nimmerland.«
Amy blinzelte. »Was?«
»Er hat es Nimmerland genannt. Peter Pan. Der Junge ohne Mutter, der nicht groß werden wollte.«
»John, wir verlieren Zeit.«
»Es ist ein SeaRay Sundancer, klein, Innenkabine, funktionstüchtige Kombüse. Latrine. Nichts Außergewöhnliches. Liegt bei Point Isabella in der North Bay, ist jetzt aber nicht dort. Er muss rausgefahren sein. Die Corvette hat er auf dem Anleger geparkt.«
Kaminer und Sorensen stürzten sich wie beutegierige Raubtiere auf ihre Telefone. Wenige Minuten später wussten sie, dass Bells Boot sich seit einer Woche nur unregelmäßig an seinem Liegeplatz befunden hatte.
»Jeden einzelnen Yachthafen!«, bellte Kaminer in sein Telefon. »Die Küste rauf und runter, von Connecticut bis nach Maine. Jeden Anleger an der Ostküste, haben Sie mich verstanden? Jeden lausigen kleinen Anleger an jeder Pfütze!«
»Sir«, sagte Amy, »was machen wir mit Robertson? Er wird noch immer beschattet.«
»Holen Sie ihn her«, sagte Kaminer. »Wir werden schon zusammenbringen, was wir brauchen, um ihn wegen Handel mit Kinderpornographie einzubuchten. Ich lasse diesen kranken Abschaum in meiner Stadt nicht frei herumlaufen. Schließlich habe ich Enkelkinder.«
Geary zwang sich dazu aufzustehen. Ihm war ein wenig schwindlig. Er brauchte Kaffee, musste wach werden. Musste dieser neuen bitteren Wahrheit ins Gesicht schauen, wollte es aber nicht, konnte es noch immer nicht recht glauben.
Will Parker stand auf und ging zu Geary hinüber. Parker, den das schlimmste Unglück seines Lebens ereilt hatte und der dennoch besser dran war als Geary. Denn er war nicht verraten worden. Geary war fassungslos. Er hatte so oft erlebt, wie Menschen durch einen Schock aus dem selbstzufriedenen Vertrauen in die Sicherheit ihrer klar definierten Welt herausgerissen wurden. Andere Menschen. Nicht er selbst.
Will stand vor Geary und streckte einen Arm aus, damit er sich stützen konnte. Geary nahm das Angebot an.