KAPITEL 22

Amy Cardoza saß allein am Computer und brachte ihre Aufzeichnungen auf den letzten Stand. Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem kalten Kaffee. Die bittere Brühe schmeckte furchtbar, aber sie zwang sich, sie zu trinken. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und brauchte jetzt das Koffein.

Sie tippte einen Absatz über die gestrige Pressekonferenz ein, die ihr in der Erinnerung vorkam wie ein böser Traum: Wie sie mit ausdruckslosem Gesicht neben Sorensen, Kaminer und Geary vor der Polizeiwache gestanden hatte; wie ihre müden Augen von den TV-Scheinwerfern geblendet worden waren; wie sie kurz das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen; wie sie sich bemüht hatte, jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht zu tilgen, während Chief Kaminer die Erklärung, auf die sich geeinigt hatten, in einen Strauß aus Mikrophonen gesprochen hatte:

»Emily Parker ist am Montagnachmittag, dem 3. September, vom Parkplatz eines Supermarkts in Mashpee verschwunden. Der Zeitpunkt und die Umstände ihres Verschwindens deuten darauf hin, dass wir es eventuell mit einem Serientäter zu tun haben.«

»Wie kommen Sie darauf?« Amy erkannte den Reporter, der beim Boston Globe für Verbrechen zuständig war, an seiner markanten Brille. Sie hatte ihn bei einem Fernsehinterview gesehen.

»Dazu können wir im Moment nichts weiter sagen.«

»Haben Sie schon irgendwelche Spuren?«, fragte ein junger Mann von einem Lokalsender aus Rhode Island.

»Wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht. Es gibt mehrere Verdächtige, die wir im Moment unter die Lupe nehmen, aber mehr können wir zurzeit nicht sagen.«

»Sind die Opfer in der Vergangenheit lebend aufgefunden worden?« Die Stimme gehörte einer Frau, die Amy unbekannt war.

Kaminer versuchte einen Blick von Sorensen zu erheischen, aber der sah zur Seite.

»Es tut mir Leid, aber auch dazu kann ich im Augenblick nichts sagen.«

»Wie stehen die Chancen, dass Mrs. Parker noch lebt?« Der Reporter von CNN beugte sich vor.

»Wir werden morgen eine weitere Pressekonferenz abhalten«, sagte Kaminer, »aber im Moment gibt es keinen Grund zu glauben, dass sie nicht lebt. Wir hoffen, sie lebend zu finden.« Er blickte aus schmalen Augen in die Kamera und schien Mister White direkt anzusprechen. »Wir werden jeden einzelnen Quadratzentimeter des Cape absuchen. Es wird kein Ort übrig bleiben, an dem Sie sich verstecken können.«

Es folgten einige Augenblicke betretenen Schweigens, die endeten, als Sorensens Assistentin Janet Fotos von Emily Parker zu verteilen begann. Emily war eine attraktive Frau, und auf dem Foto lächelte sie entspannt. Warum lächelten sie nur immer?

»Noch eine Frage, Chief.«

»Das war’s fürs Erste. Danke.« Die Mitglieder des Teams drehten sich um und gingen in die Wache zurück. Die Reporter verfolgten sie bis zur Tür.

Amy hoffte, dass der Streifenwagen, den Kaminer an den Beginn des Gooseberry Way beordert hatte, diese Geier von der Familie fernhalten würde. Jetzt von der Presse gehetzt zu werden hatte ihr gerade noch gefehlt.

Sie ließ ihren Text über den Bildschirm des Computers laufen und begann mit der Zusammenfassung des nächsten Punkts, dem soeben erhaltenen Bericht der Spurensicherung über den Teppich aus der Goodman-Parker-Garage: nichts als typischer Haushaltsschmutz sowie Sand, Erde und Pizzasauce. Ein Pluspunkt für den alten Mann. Geary besaß einen ausgezeichneten Instinkt, das musste sie ihm lassen. Wie hatte er sich so sicher sein können, dass sie mit dem Teppich ihrer aller Zeit vergeudete? Der Vollständigkeit halber tippte sie einen kurzen Absatz und ließ es dabei bewenden.

Sie strich mit dem Finger über die Naht des leeren Papierbechers, schloss die Augen und beschwor die weiche Behaglichkeit ihres leeren Betts herauf, die zerknüllten Laken, die Nachgiebigkeit ihres Kissens, wenn sie den Kopf drehte. Als sie dabei war, dem Verlangen nach Schlaf nachzugeben, stand ihr plötzlich Emily Parker vor Augen. Gefesselt und geknebelt, in einer Kapsel voll Schrecken. In Erwartung des Todes, der dann doch nicht eintrat. Stattdessen etwas viel Schlimmeres: der ihres Kindes.

Eine Mutter, die Zeugin der brutalen Ermordung ihres Kindes wird und die am Leben gelassen wird, um es wieder und wieder zu durchleben.

Amys Magen revoltierte.

Das war es also.

Sie öffnete die Augen und blickte in das kalte Neonlicht. Ihre Finger krallten sich um den Pappbecher, zerknüllten ihn und warfen ihn quer durch den Raum in den Papierkorb.

»Treffer!« Es war Gearys Stimme.

Amy wirbelte aufgeschreckt herum. Das Adrenalin wirkte stärker als der Kaffee. Geary stand in der Tür und grinste.

»Jetzt hätte ich mich wohl erschrecken sollen«, sagte sie.

»Haben Sie sich doch auch, oder?«

»Da müssen schon ganz andere kommen als Sie, um mir Angst zu machen.«

Sie presste die Fingerspitzen an die Schläfen und kniff die Augen fest zu. »Das Koffein macht mir zu schaffen.«

»Warum fahren Sie nicht für ein paar Stunden nach Hause und gönnen sich eine Mütze Schlaf?« Geary unterstrich den Vorschlag mit einem Kopfnicken. »Niemand kann so lange ohne Schlaf auskommen.«

»Und was ist mit Ihnen?« Sie betrachtete Geary, der stets gleich zerknautscht aussah. »Sie sind doch auch die ganze Nacht wach gewesen.«

»Ich schlafe, wenn ich tot bin.«

»Ein guter Spruch. Was dagegen, wenn ich ihn mir mal ausborge?«

»Wenn Sie wollen.«

Sie schlug schwungvoll auf die Enter-Taste, und der Drucker spuckte ihren aktualisierten Bericht aus.

»Ich hätte da was, um Ihre Lebensgeister zu wecken.« Gearys wässrige Augen funkelten wieder. »Snow ist zurück.«

»Endlich.«

»Gut gelaunt und in alter Frische nach ausgiebiger Nachtruhe.«

»Wie bitte?«

»Schätze, als er von Fall River zurückkam, war für ihn schon Bettzeit.«

»Und dann ist er nach Hause gefahren?«

Sie eilten den Korridor hinunter zum Konferenzraum. Geary stieß die Tür auf, und Amy betrat als Erste den Raum, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Alle Laptops waren eingeschaltet, auf den Gesichtern lag Erschöpfung. Einige der Special Agents waren draußen im Einsatz und hatten ihre Computer geisterhaft blinkend zurückgelassen. Das halbe Cape war inzwischen mit dem Fall befasst und die ganze Ostküste alarmiert. Immer mehr Verstecke schieden aus, aber es ging dennoch nicht schnell genug. Obwohl sie alle verfügbaren Mittel aufgeboten hatten, hatten sie noch immer nicht herausgefunden, wo sie suchen sollten.

Snow, der bei Sorensen und Janet saß, sah geschniegelt und ausgeruht aus. Als Amy näher kam, roch sie sein süßliches Rasierwasser, aber auch den Umkleideraumgeruch von Schweiß und schlechtem Atem.

»Al!« Sie tätschelte seine Schulter und zwang sich ein Lächeln ab. Sorensen sah ihr zu, amüsiert, aber auch grimmig. »Schönen Urlaub gehabt?«

»Was für einen Urlaub? Was soll das?« Snow fuhr mit der Hand an seiner Bügelfalte entlang. »Ich bin kurz zu Hause vorbeigefahren, um zu duschen und mich zu rasieren. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war.«

»Nicht mal den Fernseher angemacht? Auch nicht Radio gehört? Die Ermittlungen sind Hauptthema in allen Nachrichten«, sagte Amy.

»Habe ich tatsächlich nicht.« Snow hob die Schultern in einer verlegenen Geste. »Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Dann wäre ich natürlich sofort hergekommen.«

»Um ein paar Überstunden zu machen?«

»Okay, Amy, ich verstehe.« Er schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf seine Knie. Dann sah er sie so duldsam an, als sei ihr Ärger mit Nachsicht zu entschärfen. Sie stellte sich vor, dass Snows Ehefrau sich in so einem Augenblick entschieden haben musste, ihn zu verlassen. »Wollen Sie nun meinen Bericht hören oder nicht?«

Amy zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Dann beugte sie sich so jäh nach vorne, dass Snow instinktiv zurückwich. »Sie haben Glück, dass der Chief nicht hier ist. Ich würde ihn sonst über alles unterrichten.«

»Nur zu, Amy.« Snow lächelte. Ihr wurde klar, dass er, wenn sie Kaminer je von seinem Übergriff berichten würde, denselben nichts sagenden Gesichtsausdruck aufsetzen und es einfach leugnen würde.

Sie hätte am liebsten laut geschrien.

»Sie hätten zuerst Ihren Bericht abgeben sollen«, schnauzte sie, »und danach nach Hause zu Ihrem Teddybär fahren. Egal, was Sie herausgefunden haben, wir hätten es gestern gebraucht, wir arbeiten gegen die Uhr, uns bleibt keine Zeit.«

Der leichte Druck von Gearys Hand auf ihrer Schulter beruhigte sie.

Sorensen beobachtete sie, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Gleichzeitig versuchte sie, sich deswegen keine Gedanken zu machen. Sie schob das Haar hinter die Ohren, lehnte sich zurück und kreuzte die Arme über der Brust. »Wir hören.«

Snow fuhr sich mit der Zunge über die oberen Zähne, bevor er anfing. »Sal Ragnatelli hatte seit zehn Jahren einen Stand auf diesem Automarkt. Die Leute, die ihn kannten, mochten ihn. Er war umgänglich und immer zu Scherzen aufgelegt. Aber in diesem Jahr« – Snow sah kurz zu Sorensen, um dann wieder seinen Blick auf Amy ruhen zu lassen – »geschah irgendetwas. Er war wegen irgendetwas aus der Fassung gebracht, so sehr aus der Fassung, dass er Dienstag mitten am Tage seinen Stand schloss. Seine Kumpel meinten, so was hätte er noch nie getan, denn diese Stände sind ganz schön teuer, und mittags ist der Publikumsverkehr am größten.«

»Er hat also am Nachmittag seinen Stand geschlossen«, sagte Amy.

Snow nickte. »Und ein paar Stunden später kam er zurück, ziemlich erregt. Öffnete seinen Stand wieder und blieb bis zum Schluss. Alles, was er zu dem Typen am Nachbarstand gesagt hat, war, dass jemand ihm auf den Geist ging.«

Amy beugte sich vor. »Hat er diesen Jemand beschrieben?«

»Eigentlich nicht. Ein Kunde, der eine Oldtimer-Corvette in bestem Zustand kaufen wollte, der aber, als es um den Kaufpreis ging« – Snow zuckte die Achseln –, »nicht in aller Freundlichkeit verhandeln wollte, sondern auf einem absurd niedrigen Preis beharrte.«

Sorensen hörte aufmerksam zu, während Janet auf ihrem Laptop schrieb. Einige der Agents aus der Spezialeinheit hatten ihre Arbeit unterbrochen und hörten zu. Manche standen auf und versammelten sich um Snow.

»Ragnatelli soll gesagt haben« – Snow zog ein winziges Notizbuch aus seiner Hemdtasche –, »›wenn er ein Auto stehlen will, warum macht er es dann nicht wie jeder andere Dieb und nimmt es sich einfach, wenn niemand hinsieht? Dieser Idiot versucht tatsächlich, mich dazu zu bekommen, dass ich ihm den Wagen schenke.‹ Das war es, wörtlich.«

»Und dann?«, fragte Amy.

Snow zuckte die Achseln. »Ragnatelli kümmerte sich um seinen Stand, schloss pünktlich und fuhr zu seinem Motel zurück. Die junge Frau an der Rezeption sah ihn kurz nach acht reinkommen und kurz vor neun wieder gehen. Ich habe alle Läden und Restaurants in der Gegend überprüft und herausgefunden, dass er im Truck Stop Diner einen Burger gegessen und seine Frau von einem Münzfernsprecher aus angerufen hat. Danach ist er zu einer Apotheke gefahren und hat Aspirin gekauft, und zwar keine Markenware. Der Apotheker erinnerte sich daran, dass er die Preise verglichen hat.« Snow hielt inne und schien erst jetzt zu bemerken, wie viele Leute ihm zuhörten. Er setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Der Apotheker war der letzte Mensch, der Ragnatelli lebend gesehen hat. Er hat erwähnt, dass Ragnatelli einige Male auf seine Uhr schaute, als müsse er noch irgendwohin, aber er schien es auch nicht besonders eilig zu haben, seine Verabredung einzuhalten.«

»Und dann?«

»Das war’s. Am nächsten Morgen wurde er tot aufgefunden. Die zuständigen Cops gehen davon aus, dass er um halb elf Uhr abends gestorben ist.«

»Da hat Ragnatelli also am Kundendienst gespart.« Tom schüttelte den Kopf. »Der Kunde darf nie zu kurz kommen.«

»Oder er war ein wenig zu großzügig damit«, sagte Geary. »Vielleicht war es sein Fehler, überhaupt mit diesem Kunden gesprochen zu haben. Der scheint nämlich jemand gewesen zu sein, der ein Nein nicht akzeptiert hat.«

»Die Corvette?«, fragte Sorensen Snow.

»Weg.«

»Nummernschilder?«

»Händlerschilder, die neben Ragnatellis Leiche gefunden wurden.«

»Perfekt.« Ingram nickte Jones zu.

»Er zeigt uns, dass er seinen Willen bekommen hat«, sagte Jones.

»Hat die Kontrolle übernommen und sich daran geweidet«, führte Ingram den Gedanken weiter.

»Okay«, sagte Amy. »Wer immer also Ragnatelli getötet hat, ist in der Corvette davongefahren. Und wer immer Emily Parker entführte, hat das in einem von Ragnatellis anderen Autos getan und es wieder zurückgebracht.«

»Ragnatelli war der Einzige, der ihn hätte identifizieren können«, sagte Brad und rückte näher heran.

»Es ging ihm gar nicht um den Wagen«, sagte Geary.

»Nein.« Amy schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. »Er wollte einen Zeugen ausschalten.«

»Er wusste, dass Mrs. Parker mit dem Ford in Zusammenhang gebracht worden war«, sagte Sorensen ruhig. »Woher?« Mit geröteten Augen sah er sich im Raum um. »Haben die Medien davon berichtet?«

»Nein«, sagte Brad. »Ich hab das an so vielen Stellen überprüft, wie ich konnte. Die Medien haben nichts Neues, außer dass wir hier sind. Das ist gestern Abend landesweit berichtet worden.«

Sorensen nickte langsam. »Er weiß also, dass wir sein Puzzle zusammenfügen« – sein Blick huschte zu Amy – »und er weiß, dass wir Emily Parker mit dem Ford in Verbindung gebracht haben.« Mit einem Mal fiel alle Coolness von ihm ab. Mit einem Ruck beugte er sich vor und schlug so hart mit der Faust auf den Tisch, dass Janets Laptop erschüttert wurde. »Wie konnte er herausfinden, dass wir sie mit dem Ford in Verbindung gebracht haben?«

Schweigen. Lauter Experten, und niemand wusste es.

»Er wird seine Deadline vorziehen.« Geary sah Sorensen an. »Wir müssen mit allem rechnen.«

»Ich werde Fall River alarmieren, dass Emily Parker sich vielleicht in ihrem Zuständigkeitsbereich befindet«, sagte Amy. »Und ich werde die Fahndung nach der Corvette einleiten.«

»So eine Karre kann ja nicht so besonders schwierig aufzuspüren sein«, sagte Snow.

»Nein«, fuhr Amy ihn bissig an, »wenn sie noch auf der Straße ist.«