KAPITEL 30
In Manhattan war die Welt konstruiert wie ein Gitternetz, und man brauchte nicht mehr als Grundschulmathematik, um sich zurechtzufinden. Aber hier war es ein Gewirr, keine Straße ging geradeaus, überall waren Kurven. David wusste nicht, wo er war, und fragte sich allmählich, ob Sam nicht gut daran getan hatte zurückzubleiben. Vielleicht hätte er alles ein wenig besser planen sollen. Zum Beispiel ein Fahrrad in einem Versteck bereitstellen und einen Rucksack mit Vorräten mitnehmen. Es war heiß, und er war durstig. Langsam wurde er auch hungrig. Zumindest war er umsichtig genug gewesen, etwas von Dads Bargeld einzustecken.
Dad würde inzwischen vor Zorn aus der Haut gefahren sein. Wie er wohl bestraft werden würde, wenn er nach Hause kam? Wenn er je wieder nach Hause fand. Vielleicht waren sie ohne ihn zurück in die Stadt gefahren und hatten David allein zurückgelassen. David verharrte einen Augenblick, setzte sich ins Gras am Straßenrand und gestand sich ein, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Er hatte Unrecht. Dad würde das Cape niemals ohne ihn verlassen. Er würde ihn suchen und dabei bestimmt ums Leben kommen. Es würde alles Davids Schuld sein, und sie würden keine Eltern mehr haben, sondern bei Grandma leben müssen, die nicht einmal daran denken konnte, Maxi ihre Medizin zu geben. Sie würden Waisenkinder werden, nur weil David so dumm gewesen war, zu glauben, er könnte seine Mutter eher finden als Dad oder die Polizei oder das FBI. Als ob ein elfjähriger Junge jemanden finden könnte, den nicht einmal alle Erwachsenen zusammen finden konnten. Er hatte beim Aikido viel über Selbstvertrauen und Stärke gelernt und über Kämpfe und Vermeidung von Kämpfen; er hatte seinen braunen Gürtel, aber er hatte nicht gelernt, sich klug zu verhalten. Jetzt würden alle erfahren, was für ein Dummkopf er war. Dad wusste es. Grandma wusste es. Sam wusste es. Eines Tages würde auch Maxi es wissen. Würde Mom es je erfahren?
Sein großer Plan war gewesen, sich zum Stop & Shop zu begeben und von dort aus die Suche zu beginnen. Er wusste, dass der Supermarkt irgendwo an der Route 151 lag, aber dann war er an eine große Kreuzung gekommen, und nirgendwo hatte mehr 151 gestanden. Jetzt hieß die Straße Quinaquisset Avenue, und er hatte keine Ahnung, wo er war.
Doch hier konnte er nicht sitzen bleiben. Mühsam machte er sich wieder auf den Weg. Als er an einer kühlen Brise merkte, dass das Meer nicht weit sein konnte, bog er in die nächste Querstraße ein. Simon’s Narrow Road. Hier waren weniger Autos unterwegs. Und ein Schild in Form eines Schwans versprach ihm, dass er in 500 Metern zu einem Restaurant käme, das ein Mittagsbüfett für drei Dollar fünfundneunzig anbot. Büfett war gut, dann konnte man so viel essen und trinken, wie man wollte. Er würde es schlau anstellen und einen großen Becher Wasser mitnehmen oder vielleicht sogar eine Flasche kaufen, wenn er noch genügend Geld hatte.
David lief weiter. Die Aussicht auf Essen hatte seine Sinne belebt. Der Aikido-Sensei hatte ihnen einmal gesagt, dass sie einen »inneren Kompass« besäßen und dass sie dem »wahren Pfad« folgen würden, wenn sie auf diesen Kompass achteten. Entweder er befolgte diesen Ratschlag jetzt, oder er würde nie mehr irgendwo ankommen. Egal. Er war bereits einen Schritt weiter. Er konnte einfach nicht mehr bei Grandma rumsitzen wie ein dummer Junge und sich die Lügen der Erwachsenen anhören. Im Dojo hatte er gelernt, sich nicht vor anderen zu fürchten, und das tat er auch jetzt nicht, aber langsam bekam er Furcht vor sich selbst, und das war ein ganz neues Gefühl.
Er kam an der Yardarm Road vorbei und am Spinnaker Drive, bis er schließlich gleich hinter Bryants Cove eine Art Schuppen sah, vor dem an Ketten dasselbe Schild in Form eines Schwans hing wie vorher an der Straße. Darauf stand Mute Swan, geöffnet. In Manhattan würde ein Lokal, das so aussah, Pleite gehen, aber hier war es ein Ort, den die Erwachsenen nur allzu gern aufsuchten. Es war unglaublich, wie wankelmütig sie waren.
David ahnte, dass es seltsam aussehen würde, wenn er allein in ein Restaurant ging. Vielleicht sollte er so tun, als würden seine Eltern im Auto auf ihn warten. Er öffnete die Holztür und betrat eine Art Lobby mit einem Tresen, unter dem sich ein gläserner Schaukasten befand, und einer Registrierkasse. Hinter dem Glas war Konfekt ausgestellt, und David spürte, wie sich sein Magen vor Hunger verkrampfte. Er wollte nicht auffallen, also betätigte er die kleine Glocke neben der Kasse. Er würde sich so verhalten, als ob seine Eltern draußen im Auto auf ihn warteten.
Ein Teenager erschien hinter dem Tresen. »Du hast geläutet?«
David nickte. »Gibt’s das Büfett auch zum Mitnehmen?«
Der Teenager schüttelte den Kopf. »Wir können aber ein Sandwich oder so was einpacken.«
»Okay. Mit Thunfisch?« Er hätte am liebsten einen Hamburger gehabt, aber es würde zu lange dauern, den zu braten. Er wollte lieber nicht warten.
»Weißbrot oder Vollkorn?«
»Vollkorn, glaub ich. Und etwas Wasser, bitte.« David drehte sich um und winkte einem roten Kombi zu, in dem eine Frau saß.
»Bin gleich wieder da.« Der Teenager verschwand um die Ecke.
Das Restaurant war voller Gäste, aber David blickte keinen von ihnen an, weil er Angst hatte aufzufallen. Stattdessen betrachtete er den Schaukasten, der mit Konfekt gefüllt war sowie mit Beanie Babies und einheimischem Kunsthandwerk, Schnitzereien und winzigen Zeichnungen von Booten und Muscheln auf etwas Hartem und Cremefarbenem, das noch am ehesten an Knochen erinnerte. Er versuchte immer noch das Konfekt zu ignorieren, als ein Mädchen angerannt kam und anfing, die Beanie Babies im Schaukasten zu zählen.
»Siebenundzwanzig«, sagte sie. »Nicht schlecht. Welche gefällt dir am besten?«
David kümmerte sich nicht um sie. Sie war noch jünger als Sam, und kleine Mädchen nervten ihn.
»Mir gefällt die bunt eingefärbte da vorne.« Sie drückte einen Finger gegen das Glas, und David sah es: ein silbernes Armband mit Glücksbringern genau wie das seiner Mutter. Sie bemerkte, dass er auf das Armband sah, und schüttelte das Handgelenk, um mit dem Schmuckstück anzugeben. »Das ist mein eigenes«, sagte sie.
Plötzlich wurde David bewusst, dass es nicht nur wie das Armband seiner Mutter aussah, sondern dass es tatsächlich dasselbe war. Es konnte gar nicht anders sein. Die Glücksanhänger waren genau dieselben. Ein Herz, ein Schwimmer, drei Babys, eine Münze, ein Cello, ein Schwert.
»Das Armband gehört meiner Mutter«, sagte David.
»Nein, es ist meins.« Sie hielt ihre Hand in die Höhe, als könne sie damit etwas beweisen.
»Wo hast du es gefunden?«
Sie sah das Armband an, dann David, dann wieder das Armband und schließlich wieder David. Wahrscheinlich überlegte sie, was für eine Geschichte sie als Nächstes erzählen sollte. Kleine Kinder. Vor nicht allzu langer Zeit war Sam in ihrem Alter gewesen. Plötzlich wusste David, wie er das Mädchen überzeugen konnte.
»Ich kauf es dir ab.«
»Oh? Für wie viel?«
Er kramte in der Hosentasche und zählte sein Geld. »Sieben Dollar und zweiundsechzig Cent.«
»Okay!« Sie fummelte am Verschluss, aber bekam ihn nicht auf. Komisch, denn er war doch ständig aufgesprungen, und dadurch war das Armband seiner Mutter immer wieder vom Handgelenk gerutscht.
»Wo hast du es gefunden?«
»Das kostet Sie noch mehr, Mister.«
»Mehr hab ich aber nicht.«
»Schade –«
»Du kannst es behalten, wenn du mir sagst, wo du es gefunden hast.« David begriff dass dies noch mehr wert war als das Armband selbst.
»Mehr willst du für sieben Dollar nicht?« Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, abgebrüht auszusehen. Aber das gelang ihr nicht. Sie war und blieb ein kleines Mädchen.
»Und zweiundsechzig Cent.«
»Wie heißt du?«
»David. Wo hast du es gefunden?«
»Ich bin Daisy. Ich kann es dir zeigen. Es ist gleich hier unten.«
Daisy wirbelte herum und rannte aus dem Restaurant. David hörte, wie sich Schritte dem Tresen näherten, und beschloss, besser zu verschwinden, bevor der Teenager mit seiner Bestellung zurückkäme und er bezahlen müsste. Er rannte hinter Daisy her, hinaus aus dem Mute Swan, an all den parkenden Autos vorbei und ein weiteres Stück der Simon’s Narrow Road entlang.
»Komm mit!«, rief Daisy mit glockenheller Stimme.
David folgte ihr. Hoffentlich brachte sie ihn wirklich zu der Stelle, wo sie das Armband seiner Mutter gefunden hatte, und spielte nicht nur einfach Verstecken mit ihm. Aber er war älter als sie und schneller, und er konnte ihr immer noch das Armband abkaufen. Sie liefen bis ans Ende der gepflasterten Straße und auf einen Sandweg, der durch eine Gruppe vertrockneter Büsche führte. Schließlich kamen sie auf einen mit Gras bewachsenen Hügel, an dem eine sandige Bucht lag. Der Anblick des dunkelgrünen Wassers erinnerte David daran, wie durstig er war.