KAPITEL 7
Im Haus herrschte Stille. Die Kinder schliefen noch. Sarah saß am Küchentisch. Sie hatte kein Auge zugetan – obwohl sie das Schlafmittel genommen hatte. Die Sonne ging gerade auf, die ersten Strahlen spiegelten sich im See. In den letzten Jahren waren sie und Jonah oft schon zu dieser Stunde auf den Beinen gewesen und hatten ihren Tee hinunter an den Strand mitgenommen. Sie hatten auf zwei grünen Liegestühlen gesessen und aufs Wasser geblickt. Zusammen hatten sie sich am Anblick der Sonne erfreut, die ihren Bogen über den Himmel begann, orange-rosafarbenes Licht in die verblassende Dunkelheit mischte und sanft den Morgen einleitete. Sie hatten ihren Tee getrunken, an vergangene Tage gedacht und den kommenden besprochen. So hatte Sarah den Tag am liebsten begonnen.
Sie betrachtete das Foto von Emily, das sie auf Wills Wunsch zur Polizeiwache gefaxt hatte. Damals war Emily mit Maxi schwanger gewesen, und ihr Gesicht war auf dem Foto runder als gewöhnlich, aber Sarah fand, dass sie gut getroffen war. Emily hatte die beiden Jungen beobachtet, die auf dem Sofa eng zusammengerückt waren, weil David Sam etwas vorgelesen hatte. In ihrem Gesicht stand die Freude darüber, dass die beiden einander so nahe waren, dass David so liebevoll mit dem damals fünfjährigen Sam umging und dieser mit Ehrfurcht auf die Fähigkeiten seines großen Bruders reagierte. Die Intensität dieses Moments hatte Sarah beeindruckt, und da ihre Kamera zufällig auf dem Tresen neben ihr gelegen hatte, hatte sie nach dem Apparat gegriffen und ihn auf ihre Tochter gerichtet. Genau in dem Moment, als Sarah abgedrückt hatte, hatte Emily mit ihren haselnussbraunen Augen in die Kamera geschaut. Dieselben Augen, in die Sarah geblickt hatte, als ihr ihre eben geborene Tochter in den Arm gelegt worden war, die Augen, die im Laufe der Jahre Fragen gestellt, angeklagt und innige Liebe ausgedrückt hatten.
Sarah fuhr mit den Fingerspitzen über das Hochglanzfoto. Wo mochte ihre Kleine jetzt sein? Was musste sie durchmachen? Hatte sie Angst? Hatte sie Schmerzen?
Wenn Emily nur nicht zum Einkaufen gefahren wäre. Sie hatten doch eigentlich nichts gebraucht.
Sie konnte den Morgen nicht mit Nichtstun und Abwarten verbringen; sie musste mithelfen, Emily zu finden. Neben Ricky’s Market hatte ein Copy-Shop aufgemacht. Ihre Nachbarin Barbara würde sich bestimmt gerne um die beiden Jungen kümmern. Maxi würde sie mitnehmen, das würde sie schaffen.
Sarah nahm einen Bogen weißes Papier aus dem Faxgerät und klebte Emilys Foto genau in die Mitte. In fetten schwarzen Buchstaben schrieb sie VERMISST über das Foto und darunter: Emily Parker, vermisst seit Montagnachmittag, 3. September 2001. Zuletzt gesehen beim Stop & Shop am Mashpee-Kreisel. 39 Jahre alt, 1,70m groß, 67 Kilo, rotblondes Haar, haselnussbraune Augen, Sommersprossen. Sarah hätte nur zu gerne gewusst, was Emily angehabt hatte, aber zumindest konnte sie das Armband beschreiben, das ihre Tochter nur zum Duschen und Schlafen ablegte. Sie trägt ein silbernes Armband mit folgenden Glücksanhängern: Schwimmer, Cello, Schwert, Münze, Herz, drei Babys.
Sarah legte den Stift zur Seite und betrachtete ihr Werk. Als Jonah nach einem kurzen Kampf gegen den Krebs im Alter von 77 Jahren gestorben war, war ihr seine plötzliche Abwesenheit unfassbar erschienen, aber sie war dennoch nicht ganz unerwartet gekommen. Die Leere jedoch, die Emily hinterließ, war unwirklich. Es konnte einfach nicht sein, dass so etwas ihrer Tochter widerfuhr. Sarah hatte die ganze Nacht lang mit aller Kraft gegen die Tränen gekämpft, um die Kinder nicht zu wecken und um sich nicht selbst in noch größere Angst zu versetzen, als sie ohnehin schon verspürte. Aber jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie weinte, bis sie nicht mehr konnte. Ein hohler Klagelaut entrang sich ihrer Kehle und hallte im ganzen Haus wider.
Kurz darauf hörte sie oben Bewegung. Stimmen. Die Jungen redeten. Maxi wimmerte.
Sarah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bemerkte, dass sie immer noch die gleiche Bluse wie gestern trug. Sie durfte die Kinder nicht merken lassen, dass sie gar nicht ins Bett gegangen war. Mit hastigen Schritten eilte sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück, zog sich aus und warf sich den Morgenmantel über. Kaltes Wasser ins Gesicht, um die schmerzliche Angst als bloße Erschöpfung zu tarnen. Als sie sich gerade das Gesicht trocken rieb, wurde die Badezimmertür aufgestoßen.
Sammy warf sich in ihre Arme. »Ich hab Hunger!«
»Guten Morgen, mein Kleiner.« Sie küsste sein vom Schlaf zerzaustes Haar.
Dann erschien David in der Tür. Er hielt eine der glitzernden Pokémon-Karten in der Hand, an denen Sam so hing.
»Das ist meine!« Sam hechtete nach Davids Hand.
»Ich weiß, du Blödmann. Ich hab sie auf dem Fußboden gefunden. Du musst besser auf deine Sachen aufpassen.«
»Gib her!«
»Wie heißt das Zauberwort?«
Sam rang David zu Boden. Sarah wollte die zappelnden Körper gerade voneinander trennen, als Maxis Geschrei lauter wurde.
Großmütter waren nicht dazu gemacht, so viel Chaos zu bewältigen.
»Hört auf mit der Rangelei.«
Sie hatte ein Mädchen aufgezogen, ein Einzelkind. Jungen waren nicht ihre Kragenweite.
»Ich hab gesagt …«
Sam war stark, aber David war größer und gelenkiger, mit Leichtigkeit drückte er seinen kleinen Bruder zu Boden. Sammy zappelte tapfer, aber David gab nicht nach. War unbeugsam. Wie oft hatte er ihr seine »unbeugsamen Arme« demonstriert.
»Los, Oma«, forderte er dann und streckte ihr seinen Arm entgegen, »versuch mal, ihn zu beugen.«
Sie hatte es nie ernsthaft versucht, denn sie war sicher, den Arm ohne Schwierigkeiten beugen zu können. »Meine Güte!«, rief sie dann jedes Mal aus.
»Nein, versuch es wirklich mal!«, hatte David beharrt.
Einmal hatte sie es richtig versucht und mit Erstaunen festgestellt, dass sie den Arm nicht einen Millimeter bewegen konnte.
David und Sam hatten diese Technik beim Aikido-Training für Kinder gelernt, dort, wo Will Emily kennen gelernt hatte. Ihr Plan war es, eine Familie von Schwarzgurten zu werden. Will und Emily hatten beide diesen Grad erreicht. Emily war seit der Geburt ihrer Kinder aus der Übung gekommen, aber Will trainierte jeden Samstagmorgen mit seinen Söhnen.
So stolz Sarah auch sonst auf die Fähigkeiten ihrer Enkel war, in diesem Moment wurde es ihr zu viel. »Ich dachte, beim Aikido lernt man, sich zu verteidigen, nicht zu kämpfen?«, fragte sie die Jungen vorwurfsvoll. Das war ihre letzte Zuflucht, und sie wirkte.
David löste sich zuerst und warf die Arme in die Höhe. Sam lag wie keuchend unter ihm, seine wachen Augen blitzten listig. Seine Hände schossen unter Davids Achseln und kitzelten ihn. David fing an zu kichern und versuchte seinerseits Sam zu kitzeln. Die glänzende Karte lag unbeachtet neben ihnen.
Sarah eilte hinüber ins Kinderzimmer. Maxi stand in ihrem Kinderbettchen, hielt sich am Gitter fest, das Gesicht tränenüberströmt. Sarah nahm das Baby ihrer Tochter auf den Arm. Maxis Körper war ganz heiß. Sie zog ihr den Pyjama aus und öffnete ein Fenster. Ob sie die Klimaanlage einschalten sollte? Sie musste die Temperatur überprüfen.
Maxis Blick flog zur Tür.
»Mommy Bae?« Mommy Baby. Maxis Spezialausdruck für zwei unzertrennliche Hälften eines Wesens.
Eine Welle der Erleichterung durchlief Sarah, und sie drehte sich um, aber in der Tür zum Schlafzimmer stand niemand. Keine Mommy Bae, keine Emily.
»Bald kommt deine Mommy, mein Schatz. Gehen wir in die Küche und sehen nach, was es zum Frühstück gibt.«
Maxi fing wieder an zu weinen. Sarah drückte ihr Enkelkind an die Brust und streichelte Maxis flaumiges blondes Haar, während sie schweren Schritts die Treppen hinaufging.
In der Küche waren die Jungen dabei, den Tisch mit Schüsseln und Löffeln für Cornflakes zu decken. Sam holte sämtliche Packungen hervor und reihte sie auf dem Tresen auf, während David die Milchtüte aus dem Kühlschrank nahm. Sarah beschloss, sich zurückzuhalten und sie nicht darauf hinzuweisen, dass sie weder die gesamte Auswahl auf einmal herausholen noch die Milch bei dieser Hitze draußen lassen sollten.
»Bravo«, sagte sie stattdessen. »Was seid ihr beide doch für tolle Helfer.«
Die Jungen setzten sich, während Sarah für Maxi eine Flasche fertig machte. Sam fragte als Erster: »Wo ist Mommy?«
»Sie ist gestern Abend doch nicht ins Kino gegangen, oder?«, fragte David.
Sarah wünschte, sie hätte sie nicht belogen, aber was hätte sie sagen sollen? Mommy ist verschwunden, und ihr werdet sie vielleicht nie Wiedersehen.
»Sie ist schon weg, sie hat etwas in Hyannis zu erledigen.«
Sammy zuckte mit den Achseln, und David sah sie fragend an. Sarah war erleichtert, dass er nicht anfing zu diskutieren. Doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie sagen sollte, wenn die beiden herausfanden, dass Emily seit gestern nicht nach Hause gekommen war. Hoffentlich würde Will bald zurück sein. Es war seine Aufgabe, es den Kindern zu erklären.
Kaum waren die Jungen mit ihren Cornflakes fertig, stoben sie vom Tisch. Maxi war mäkelig, aß nur die Hälfte ihrer Reisflocken, sah sich gelegentlich um und wimmerte »Mommy Bae«.
Sarah rief Barbara an, die zusagte, in zwanzig Minuten da zu sein. Sie schickte die Jungen zum Anziehen, machte sich fertig und bereitete eine zweite Flasche für Maxi vor, die sie mit auf die Fahrt nehmen wollte. Sam, noch immer im Pyjama, rannte durch die Küche, zwickte seine Schwester in die Schulter und lief lachend davon. Maxi schrie heftig. Sarah versuchte, sie zu beruhigen, als es schon an der Tür läutete und Barbara ihr gewohntes »Juuhuu!« ertönen ließ.
Sarah machte fünfzig Farbkopien und kaufte eine Rolle Klebeband. Mit der Annahme, dass Maxi sie nicht behelligen würde, hatte sie falsch gelegen. Die Kleine zeterte und schlug unentwegt mit den Beinen gegen Sarahs Hüfte, während der Fotokopierer surrend seine Arbeit tat. Als sie sah, wie Maxi an ihrem Ohr zupfte, fiel Sarah ein, dass sie vergessen hatte, der Kleinen ihr Antibiotikum zu geben. Sie sollte es zweimal am Tag einnehmen und hatte es bisher noch gar nicht bekommen. Sarah schimpfte mit sich selbst. So etwas durfte ihr nicht passieren. Sie musste sich zusammenreißen, musste gut für die Kinder ihrer Tochter sorgen. Behutsam schaukelte sie Maxi auf der Hüfte und sang »Leuchte, leuchte, kleiner Stern«, während der Kopierer Emilys Bild ausspuckte: VERMISST VERMISST VERMISST.
Das erste Plakat hängte sie gleich im Copy-Shop auf, dann eins bei Ricky’s Market und zwei weitere an den benachbarten Läden. Zwei am Stop & Shop, eins in jedem Laden des Einkaufskomplexes und eins an der Drive-in-Bank gegenüber dem Parkplatz. Überall tummelten sich bereits Leute, die frühmorgens einkauften.
Die fünfzig Kopien waren schneller weg, als sie dachte. Als sie die Commons hinter sich hatte, waren nur noch einige wenige übrig. Sie fuhr zum Deer-Crossing-Einkaufszentrum und brachte die übrigen Plakate dort an. Es war erst halb elf, als sie fertig war.
Als Sarah gerade daheim in die Garage fuhr, schlief Maxi ein. Das Baby war erschöpft, und Sarah beschloss, es im Auto schlafen zu lassen. Wills Mietwagen parkte draußen, und wenn sie das Haus mit Maxi betrat, würden ihre Stimmen die Kleine bestimmt aufwecken.
Sarah ging durch die Abstellkammer hinein und ließ die Außentür offen, um Maxi zu hören, wenn sie aufwachte. Sie wollte so dicht an der Garage nicht laut rufen, also schlich sie leise hinein. Es war niemand zu sehen. Sie sah überall nach. Niemand. Vielleicht hatte Barbara die Jungen mit zu sich nach Hause genommen. Hektisch wählte Sarah Barbaras Nummer. Barbara antwortete sofort: »Will ist zurückgekommen. Wusste gar nicht, dass er auf dem Cape war. Er sah nicht gut aus, Sarah.«
»Weißt du, wo sie jetzt sind?«
»Keine Ahnung. Er hat mich gefragt, wo du bist. Was ist denn eigentlich los?«
»Ich erklär’s dir später. Nimm’s bitte nicht persönlich. Heute ist nicht unser bester Tag.«
»Dabei hat er doch gerade eben erst begonnen …«
Sarah bedankte sich bei Barbara und legte auf.
Der Strand. Vielleicht hatte er sie zum Schwimmen mitgenommen.
Sie stieß die Verandatür auf, eilte die Treppen hinab, durch das Wäldchen zu ihrem Privatstrand.
Sie hatte fast richtig geraten. Will und die Jungen waren am Strand, jedoch nicht im Wasser.
Will stand vor den Jungen, den Rücken zum Ufer. Sie übten Aikido. Will bewegte sich mit kraftvoller Anmut und war so konzentriert, dass er Sarah gar nicht bemerkte. Die Bewegungen der Jungen spiegelten die seinen. Die langsamen Drehungen, das plötzliche Ausstrecken eines Arms, das sanfte Absenken. Dann wieder dieselben Bewegungen in die andere Richtung, die Blicke nach vorn gerichtet, auf nichts reagierend. Ihre Kontrolle war atemberaubend. Sie waren wie Schwalben, die sich auf einem unsichtbaren Luftstrom bewegten. Etwas Schöneres hatte Sarah nur selten gesehen, und sie wusste, dass sie diesen Augenblick nie vergessen würde. Alle drei wirkten leicht wie Federn, schienen aber gleichzeitig vor Kraft zu bersten.
Als die Bewegungsfolge zum Abschluss kam, fiel Wills Blick kurz auf Sarah. Er nickte und fuhr dann fort.
»Haltet die Balance«, forderte er seine Söhne auf. »Ihr müsst eins mit euch selbst sein.«
Die Jungen standen einander gegenüber, die Beine gespreizt, sodass sich ihre Füße in den Sand gruben. Sie hielten die Hände gegeneinander gepresst, und abwechselnd lehnte sich einer zum anderen herüber. Sam versuchte, David umzustoßen, und reagierte leicht unwillig, als sich dieser widersetzte.
»Sucht das Gleichgewicht, es geht nicht darum, stärker zu sein als der andere«, sagte Will.
Sam gab ein wenig nach und nun waren sie im Einklang miteinander.
Erst jetzt wandte sich Will Sarah zu.
»Wo ist Maxi?«, fragte er.
»Ich habe sie im Auto schlafen lassen.«
Im selben Moment wurde Sarah bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Wie oft hatte Emily ihre altmodische Gewohnheit, Babys unbeaufsichtigt zu lassen, kritisiert. Emily ließ Maxi nie allein in ihrem Kinderbett schlafen, während sie alle am Strand waren, und im Auto hätte sie sie erst recht nicht gelassen. Doch Sarah betrachtete das ganze Grundstück als ihr Heim und hatte sich stets sicher und behütet gefühlt. Aber sie hätte es besser wissen müssen, besonders heute.
Will schoss an ihr vorbei und rannte hinauf zum Haus.
Kaum waren sie allein am Strand, verkehrten die Jungen ihre friedliche Übung ins Gegenteil. Mit verbissenen Gesichtern drückten sie die Hände immer fester gegeneinander. David bewegte sich plötzlich so schnell, dass Sarah nicht genau sehen konnte, was er tat, aber Sams Körper drehte sich, und der Junge landete mit dem Gesicht vornüber im Sand, einen Arm hinterm Rücken verdreht. David beugte sich hinunter und hielt seinen Bruder fest.
»David!«, schrie Sarah empört.
David ließ Sam los, der sich aufrappelte und sich Sand aus dem Gesicht wischte.
»Ich sag es Dad!«
Flink lief Sam auf den Hain zu. David verfolgte ihn und rief: »Los doch, sag’s ihm, dann werd ich’s dir erst recht zeigen!«
Wie hatte Emily diese friedlichste aller Kampfkünste beschrieben? »Die Kunst der Liebe, der Weg der Harmonie, um den Angreifer besorgt sein.«
Sarah eilte hinauf ins Haus, weniger besorgt um die Jungen als vielmehr um Maxi. Hoffentlich hatte Will sie selig schlummernd vorgefunden, trotz ihrer Fehlentscheidung. Aber wenn er sie weinend auf ihrem Kindersitz vorgefunden hatte, dann würde Sarah alle Schuld für ihren Irrtum auf sich nehmen. Keine Erklärungen oder Ausreden. Was immer Will ihr vorwerfen würde, sie würde es sich einfach anhören und sich dann entschuldigen.
Ängstlich betrat sie die Küche. Will stand am Tisch mit Maxi auf dem Arm und lächelte sie an. Sarah atmete auf. Maxi ging es gut, sie war begeistert, ihren Vater zu sehen, und schlang ihre Ärmchen um Wills Hals. Will drückte sie fest an sich. Sarah konnte sich vorstellen, was Will empfand. Sie hatte lange gebrauchte, bis sie verstanden hatte, dass Will zu jener seltenen Art von Vätern gehörte, zu der auch Jonah gezählt hatte. Will brauchte seine Familie ebenso sehr wie sie ihn.
Schweigend bereitete Sarah einen vorgezogenen Lunch zu: Sandwiches mit Putenbrust. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit Will zu sprechen, aber das würde warten müssen, die Bedürfnisse der Kinder hatten Vorrang.
Maxi fing an zu schreien, als Will sie zu füttern versuchte. Sie drehte ihren Kopf zur Seite.
»Wie geht es ihrer Ohrenentzündung?«, fragte Will Sarah.
»Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, sie kämpft immer noch damit.«
»Hast du ihr ihre Medizin gegeben?«
»Natürlich.«
Sarah brachte es nicht fertig zuzugeben, dass sie die Medizin vergessen hatte. Sie würde sie Maxi heimlich nach dem Lunch geben. Dann wäre es nur eine harmlose Unterlassungssünde. Durch den Mangel an Schlaf waren sie beide dünnhäutig.
Nach dem Essen verschwand Will mit den Jungen im Wohnzimmer. Sarah griff zur Pipette, die noch im Ausguss lag, um Maxi ihr Antibiotikum zu verabreichen. Sie war gerade dabei, sie mit heißem Seifenwasser auszuwaschen, als das Telefon klingelte. Schnell drehte sie den Wasserhahn zu und nahm den Hörer ab.
»Ich rufe wegen der vermissten Frau an«, sagte eine Männerstimme.
»Haben Sie sie gesehen?« Sarah spürte einen Funken Hoffnung.
»Nein.«
Will trat mit fragender Mine neben sie.
»Wer ist dran?«, flüsterte er.
Sarah zuckte mit den Achseln.
»Ist es die Polizei?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er streckte die Hand nach dem Telefon aus. »Darf ich?«
»Will, warte, ich muss dir was sagen …«
Aber er nahm ihr den Hörer aus der Hand und presste ihn ans Ohr. »Hier spricht Will Parker.«
Sarah sah, wie er erblasste.
»Bitte drucken Sie nichts. Geben Sie uns einen Tag, um sie zu finden, bevor er es mit der Angst zu tun bekommt und ihr etwas antut.« Seine Stimme wurde lauter. »Ich weiß nicht, wer er ist, ich weiß gar nichts, und ebendeswegen dürfen Sie nichts bringen. Verstehen Sie mich? Tun Sie es nicht! Bitte!« Wütend warf er den Hörer auf die Gabel. »Das war Eric Smith von der Cape Cod Times.« Sarah hatte Will noch nie so zornig gesehen. »Er hat ein Plakat gesehen. Was für ein Plakat, Sarah?«
Verschreckt trat Sarah einen Schritt zurück. Will hatte ihr noch nie Vorwürfe gemacht. Mit stockenden Worten erklärte sie es ihm. Doch statt sich zu beruhigen, wurde Will immer wütender. Maxi spürte die Unruhe und begann zu brüllen. Der Lärm lockte David und Sam an. Stumm schauten sie die beiden Erwachsenen an.
»Ich hab versprochen, der Presse nichts zu sagen, Sarah!«
»Will, es tut mir Leid, ich wusste ja nicht …«
»Du hättest auf mich warten sollen. Warum hast du das nicht getan?«
Sie hätte am liebsten eingelenkt, um die Situation zu entschärfen, aber schließlich brachte sie es doch nicht über sich. Sie hatte getan, was sie hatte tun müssen. Sie hatte daran geglaubt.
»Sie ist meine Tochter, Will. Meine Tochter!«
Will drehte sich um und sah seine Söhne an.
»Dad«, sagte David leise und gefasst.
»Raus, beide. Und zwar auf der Stelle.«
Sam rannte hinaus, aber David blieb stehen und starrte seinen Vater an.
»Jetzt.’«
David drehte sich langsam um und ging. Die vordere Fliegentür knallte hinter ihm zu.
Sarah stand wartend da und blickte Will an. Sie war sich vor ihm noch nie so bloßgestellt vorgekommen. Will schüttelte langsam den Kopf und schloss die Augen. Er sah unendlich müde aus. Sarah hatte sich gerade entschieden, auf ihn zuzugehen und ihn zu umarmen – er war ihr Schwiegersohn, fast ihr eigenes Kind –, als die Vordertür kreischend aufging.
»Dad!« David rannte ins Haus. »Die Polizei ist draußen.«