KAPITEL 33
Das Läuten einer Klingel drängte sich in Amys Traum, und erst nach langen Minuten merkte sie, dass es von ihrer Türglocke kam. Sie lag angezogen auf dem Bett. Sie war so schnell eingeschlafen, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnerte, sich hingelegt zu haben. Gähnend zwang sie sich aufzustehen. Vom Schlafzimmerfenster erblickte sie Snows Streifenwagen vor ihrem Haus. Die Türglocke läutete und läutete. Sie ging ins Bad, bürstete sich das Haar, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und nahm sich vor, Al Snow höflich zu behandeln.
Mit einem Lächeln öffnete sie ihre Vordertür.
»Man hat das Boot gefunden«, sagte er. »Ich soll Sie abholen.«
Ihr Lächeln verflog. »Wo?«
Er eilte den Weg hinunter. Sie hatte noch nie gesehen, dass er sich so schnell bewegte, hatte nicht einmal gewusst, dass er dazu imstande war. Sie folgte ihm im Laufschritt. Er nahm auf dem Fahrersitz Platz, ohne sie anzusehen, und startete den Motor, noch bevor sie eingestiegen war. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, setzte er auch schon rückwärts aus der Auffahrt und fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf dem Plum Hollow Drive in Richtung Hauptstraße.
»Wo?« Sie legte den Sicherheitsgurt an.
»Sie sind schon alle auf dem Weg.«
»Aber wohin!«
Die gewohnte Frustration stellte sich ein, aber sie ließ sich diesmal nicht von ihr unterkriegen.
Seine Augenbrauen hoben sich. »Vierzig Minuten Schlaf reichen nicht, oder?«
Sie sah auf ihre Uhr und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie tatsächlich keine Stunde lang zu Hause gewesen war.
»Erzählen Sie mir alles, Al, bitte.«
Sein Blick blieb auf die Straße gerichtet, und er antwortete nicht. Anscheinend konnte er nicht gleichzeitig reden und fahren. Sie unterdrückte ihr Bedürfnis, ihn am Steuer abzulösen.
»Fahren Sie schneller«, forderte sie ihn auf und bedauerte es im selben Moment auch schon.
Er verringerte das Tempo. Er würde also seinen Groll gegen sie bis zum bitteren Ende hegen. Sie hätte nicht als Portugiesin geboren werden und ihr gemischtes Blut auf seine schneeweiße Insel bringen sollen. Sie hätte nicht in seine Abteilung befördert werden sollen. Sie hätte sich weigern sollen, in seinem zivilen Dienstwagen mitzufahren, als Kaminer sie dazu eingeteilt hatte. Oder vielleicht hätte sie sich auch nur zu dem romantischen Picknick am Strand durchringen sollen, wie er es vorgeschlagen hatte. Hätte das diesen Versager vielleicht genug gebauchpinselt? Was wollte er überhaupt von ihr?
Sie hielt ihre Zunge im Zaum, bis sie merkte, dass sie in Richtung Popponesset Bay fuhren, wo Bobby Robertson wohnte.
»Hier?«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf und drosselte das Tempo vor einer Kurve.
Sie zwang sich still zu sitzen und nichts zu sagen. Solange er sie hinbrachte, war alles egal. Auf dem Spinnaker Drive gab er Gas, und Amy sah zum ersten Mal ein Stück Ozean. Sie mussten bald da sein.
Sie war verblüfft, keine anderen Polizeiwagen zu sehen. »Wo sind denn die anderen alle?«
Er zuckte die Achseln.
Das reichte: Wenn alles gesagt und getan war, würde sie mit Kaminer ein ernstes Gespräch führen. Sie konnte nicht mit Snow zusammenarbeiten, und sie würde ihrem Chef genau erläutern, warum.
Sie bogen in die Simon’s Narrow Road ein und hielten an. Niemand war dort. Nichts als eine Sackgasse, ein Grashügel, der in eine stille Bucht abfiel – und ein einzelnes Boot.
»Wir haben’s als Erste geschafft«, sagte er, als könne er es gar nicht glauben.
Amy stieg aus dem Streifenwagen und eilte den Hügel hinunter. Snow folgte ihr langsamer. An dem kurzen, von der Sonne ausgebleichten Steg lag ein bescheidenes weißes Boot. Als sie näher herankam, sah sie, dass es nicht der SeaRay Sundancer war, nach dem sie gesucht hatten.
»Das ist nicht Bells Boot.« Amy blieb abrupt stehen und drehte sich zu Snow um. »Was geht hier vor?«
»Hier haben sie mich aber hergeschickt«, antwortete er. »Vielleicht haben sie sich geirrt.«
»Wer hat Sie hergeschickt, Al?« Amy konnte ihre Ungeduld kaum verbergen.
»Hab eine Nachricht von der Einsatzzentrale bekommen. Es hieß, ich soll Sie abholen und zur Shoestring Bay bringen. Und da wären wir.«
»Aber Sie haben gesagt, ich sei vierzig Minuten zu Hause gewesen. Sind Sie denn nicht zum Revier zurückgekehrt?«
Er blinzelte. Amy wusste, was passiert war. Er hatte seinen Zwischenstopp bei Dunkin’ Donuts etwas verlängert, um nicht wieder zum Revier zurückkehren zu müssen. Dort hätte ja Arbeit auf ihn gewartet. Amy seufzte. Snow war wirklich ein hoffnungsloser Fall. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. In dem Moment kam eine Brise von der Bucht her auf, erfasste Snows quer über den Kopf gekämmte Haarsträhnen und wehte sie auf die falsche Seite. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie wieder in die gewünschte Richtung zu glätten. Amy verspürte einen Anflug von Mitleid mit ihm.
Sie zog ihre Waffe aus dem Halfter. »Sehen wir uns um.«
Snow folgte ihr, als sie über das Bootsdeck schlichen. Eine Luke führt ins Innere. Zu ihrer Überraschung war sie nicht abgeschlossen. Sie stieß die Luke auf. Uringestank schlug ihr entgegen. Es war grässlich. Amy zog den Kopf zurück und füllte ihre Lungen mit Meeresluft.
»Sieht schlimm aus, Al. Da drinnen ist was.«
»Soll ich vorangehen?«, fragte er.
Sie antwortete ihm gar nicht erst, sondern tastete nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Auf der anderen Seite der Kabine erkannte sie Vorhänge, die zwar zugezogen waren, aber dennoch ein wenig Licht hineinließen. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wusste sie, dass sie an der richtigen Stelle war.
An der Wand lehnte ein regloser Körper. Es war Emily Parker, nackt, die Knöchel noch gefesselt, die Arme frei. Sie lag in ihren eigenen Exkrementen. Ihre Haut sah schlimm aus. Vor ihr lag ihr Sohn Sam. Er war mit Stricken gefesselt.
»Polizei!«, rief Amy in die Kabine.
Beim Klang ihrer Stimme zuckte Sams Körper unkontrolliert.
Sie kletterte mit entsicherter Waffe die Leiter hinunter. Snow polterte hinter ihr herunter.
»Wo sind Sie, Bell? Kommen Sie raus. Es ist vorbei.«
Sie hörte nichts bis auf Snows Schritte, die langsam näher kamen. Er hätte ihr gar nicht folgen dürfen, sondern hätte in der entgegengesetzten Richtung suchen sollen. Es handelte sich zwar um eine kleine Kabine, aber es gab einige Stellen, wo Bell sich versteckt haben konnte.
»Al, sehen Sie hinter der Kombüse nach.« Sie spürte sein Zögern, seinen Unwillen, einem Befehl von ihresgleichen nachzukommen. »Bitte, tun Sie’s einfach.«