KAPITEL 31
Will und Sarah fuhren auf den vorderen Parkplatz des Polizeireviers. Hinter ihnen bog ein Streifenwagen in die Auffahrt ein. Ein Officer, den Will nicht kannte, saß am Steuer, und ein schwarzes Paar teilte sich den Rücksitz. Will dachte an das erste Mal, dass er dieses Polizeirevier aufgesucht hatte. Nur zwei Tage war es her, und wie schrecklich vertraut war ihm dieser Ort bereits geworden. Er dachte an Al Snow und wie er dessen Namen auf die Tafel an seinem Kühlschrank zu Hause geschrieben hatte, den Namen eines Fremden, dessen Titel – Detective – auf Kompetenz hatte schließen lassen. Was wäre wohl geschehen, wenn Snow gleich gehandelt hätte, als Sarah Emily als vermisst gemeldet hatte? Wären vielleicht vor dem Regen noch irgendwelche Spuren am Volvo zu finden gewesen? Hatte Roger Bell das Unwetter eingeplant? Hatte er vielleicht auch Al Snow eingeplant?
Sarah blieb mit Maxi zwei Schritte hinter Will, als sie den Vorraum betraten. Der Officer brachte das schwarze Paar an den Empfangstresen.
»Suellen, das hier sind Ted und Marian Joyner. Ich werde ihnen einen Kaffee besorgen und dann einen Platz suchen, wo ich ihre Anzeige aufnehmen kann.« Der Officer sah Ted Joyner an. »Wir sind mit einer speziellen Ermittlung beschäftigt und haben daher alle unsere Schreibtische abgeben müssen.«
»Wir möchten gar keinen Kaffee.« Marian Joyner war aufgeregt.
»Warten Sie bitte hier. Ich bin gleich wieder zurück.« Der Officer ließ die Joyners im Vorraum zurück und verschwand im Flur.
Sarah setzte sich vorsichtig auf einen der Stühle und drückte Maxi an ihre Schulter. Will ging auf und ab. Die Joyners standen vor der Glasscheibe am Empfang und blickten hilflos.
»Unsere Tochter ist verschwunden«, flüsterte Marian.
Ted streckte die Hand und streichelte ihren Arm. »Psst.«
Will blieb stehen und starrte sie an. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, ohne verbittert zu klingen. Willkommen im Club. Mir sind drei abhanden gekommen. Vorsicht vor den Cops hier, die sind zu nichts zu gebrauchen. Er nahm seine Wanderung wieder auf. Vor seinem geistigen Auge erschienen sämtliche Cartoonfiguren, die er je für seine Kinder gezeichnet hatte, und lachten ihn jetzt aus. Er presste die Hände auf die Augen, um die Bilder zu vertreiben.
»Das tut mir Leid«, flüsterte Sarah Marian zu, um Maxi nicht zu stören.
»Was ist das für eine spezielle Ermittlung?« Marians Blicke huschten zwischen Sarah und Will hin und her. »Hat es etwas mit Ihnen zu tun?«
Sarah nickte. Ihre Stimme war leise. »Meine Tochter.«
»Ich hab im Restaurant einen Blick in die Zeitung geworfen«, sagte Marian, »da war ein großer Artikel über ihr Verschwinden drin. Wir hatten die ganze Zeit keine Nachrichten gehört, sonst hätten wir uns früher gemeldet. Mein Mann wollte gerade wegen des Armbands telefonieren, als ich bemerkte, dass Daisy verschwunden war.« Marian trat Will in den Weg. »Dabei hatte ich noch gesehen, wie sie einem etwas älteren Jungen das Armband zeigte. Sie hat es am Montag gefunden, als wir gerade nach Vineyard aufbrechen wollten.«
Will verharrte.
»Ein silbernes Armband mit Glücksbringern«, fuhr Marian fort. »Ein Herz, drei Babys, ein Schwimmer, ein Schwert, ein Cello, eine Münze.«
Will erinnerte sich daran, wie er das Armband heimlich um Emilys Handgelenk gelegt hatte. Sie hatte gerade David zur Welt gebracht und fest geschlafen. Er wusste noch genau, wie beglückt sie gewesen war, als sie aufgewacht war und es zum ersten Mal gesehen hatte: das Herz, den Schwimmer, das Schwert, das Cello und ein Baby. Dann waren mit jedem weiteren Kind weitere Glücksbringer hinzugekommen.
»Daisy zeigte diesem Jungen das Armband«, sagte Marian. »Und dann war sie auf einmal weg.«
»Der Verschluss war kaputt, Will«, sagte Sarah und hob dabei ihre Stimme. »Es muss ihr vom Handgelenk gerutscht sein.«
Will trat näher an Marian heran und fasste sie an den Schultern. »Der Junge, wie sah er aus?«
»Er war ungefähr zehn oder elf Jahre alt«, antwortete Marian. »Er sah Ihnen ähnlich.«
Gerade als Will begriff, dass Marian David gesehen hatte, und zwar lebendig, wurde die Vordertür des Reviers aufgestoßen.
»Will!«
Der laute Klang seines Namens veranlasste ihn, den Blick von Marian zu wenden, und für einen Sekundenbruchteil sah er in drei Meter Entfernung seine Mutter stehen. Es war schon so lange her, und er vermisste sie so schmerzlich. Und auf einmal hatte er ihre letzte Begegnung wieder vor Augen. Ihr bleiches Gesicht vor dem Hintergrund des weißen Krankenhauskissens.
»Hab immer Vertrauen in dich selbst«, hatte sie gesagt. »Und denk daran, mein Liebling, Mami wird nie aufhören, dich zu lieben.«
Ihre Augen schlossen sich, und sie ließ seine kleine Hand los.
Sein Geburtstag, gleich am nächsten Tag, ohne sie.
»Will, mein Lieber.« Caroline kam ihm in ihrem roten Sommerkleid entgegengeeilt und nahm ihn in die Arme. Wie ihre gemeinsame Mutter hatte auch sie nie ihre gertenschlanke Figur verloren, und ihre Haut war ebenso weich wie die der Mutter. »Behaglich« hatte er es als Kind genannt. Es gab nichts Schöneres, als sich an die Haut seiner Mutter zu schmiegen.
»Wir haben die Nachrichten gesehen«, sagte Caro. »Und sind sofort zurückgeflogen.«
Will presste sein Gesicht in Caros kurze Haare. Ihr Ehemann Harry setzte sich neben Sarah und legte ihr den Arm um die Schulter. Maxi wachte gerade auf.
Will flüsterte an Caros Hals: »Der Dreckskerl hat Sammy in seiner Gewalt.« Er löste sich von seiner Schwester und sah in deren bernsteinfarbene Augen. Dann wandte er sich wieder an Marian. »Wo hat Daisy das Armband gefunden?«
Ted trat vor. »Kommen Sie mit mir. Ich bring Sie hin.«