KAPITEL 4

Der Kaffee bei der Polizei hatte Will fahrig gemacht, und jetzt, auf dem Weg über die 151 zum Mashpee-Kreisel, musste er immer wieder tief Luft holen, um das Zittern zu stoppen. Der Schweiß rann ihm über den Rücken und hinterließ eine nasse Bahn auf seinem Hemd. Emily musste doch irgendwo sein, oder? Sie löste sich doch nicht einfach in Luft auf? Er musste sie finden. Ungeduldig wartete er, bis die rote Ampel an der Kreuzung zwischen Mashpee Commons und dem neuen Einkaufszentrum endlich grün wurde. Die Kinder würden jetzt so langsam aufwachen. Hoffentlich hatte Sarah die Kraft, sich zusammenzureißen. Er würde sich später bei ihr melden und versuchen sie zu beruhigen. Die Ampel schaltete um, und er fuhr auf den Parkplatz des Stop & Shop. Leute schlenderten in den Supermarkt hinein, andere kamen mit voll beladenen Einkaufswagen heraus, als sei dies ein ganz gewöhnlicher früher Morgen. Will neidete ihnen den so selbstverständlichen Einkauf. Erst gestern noch war Emily eine von ihnen gewesen. Sie war in den Laden hineingegangen, und sie war auch wieder herausgekommen – so viel wusste er.

Auf dem Parkplatz standen erst wenige Autos. Die meisten besetzten die besten Plätze am Eingang. Nur ein Wagen stand am äußersten Ende des Platzes. Will konnte sehen, dass er weiß war, wie ihr Wagen. Er fuhr näher heran. Ein weißer Volvo Kombi. Wie ihrer. Noch näher. Ein 9VL. Wie ihrer. Und dann erkannte er die New Yorker Nummer, ihre Nummer.

Er parkte den SUV, sprang hinaus und rüttelte an den Türen des Kombis. Alle waren verschlossen. Auf der Rückbank sah er Maxis Kindersitz, von Saft und Süßigkeiten beschmutzt. Die schwarzweiße Schmusekatze, die er ihr Anfang des Sommers als Kuscheltier geschenkt hatte, hing über eine Armlehne. Eines der blauen Augen war mit Schokolade bekleckert. In der Mitte der Sitzbank lagen Beutel mit Sams holographischen Pokémon-Karten; er trug sie stets bei sich für den Fall, dass er neue Kinder auf dem Spielplatz traf. Im Netz auf der Rückseite des Fahrersitzes steckte Der König von Narnia, das David vor ein paar Wochen auf ihrer Fahrt zum Cape zu Ende gelesen hatte. Neben dem Fahrersitz stand eine halb leere Flasche Mineralwasser, von innen beschlagen.

Ihr Schlüssel steckte nicht im Zündschloss. Er benutzte seinen eigenen, um die Fahrertür zu öffnen. Der grässliche Gestank verdorbener Lebensmittel stieg ihm in die Nase. Die Einkäufe. Sie mussten hier im Wagen sein.

Er riss die Kofferraumtür auf. Hier war der Gestank noch schlimmer. Die Milch war in der Hitze sauer geworden, und der Käse hatte begonnen zu schimmeln. Der Geruch war fürchterlich, aber das, was er implizierte, war noch viel schlimmer. Jemand hatte Emily entführt. Unmittelbar nachdem sie miteinander gesprochen hatten. Will schluckte schwer und trat einen Schritt zurück. Instinktiv wollte er alles in den nächsten Mülleimer befördern. Aber waren das nicht Beweismittel? Zumindest doch Beweise dafür, dass sie hier gewesen war.

Er ließ den Blick prüfend über die nähere Umgebung des Volvos schweifen und bückte sich, um unter dem Auto nachzuschauen. Doch da war nichts, kein Tropfen Öl, keine Schlüssel, kein Fremder, den man hervorzerren und zusammenschlagen konnte.

Noch in der Hocke, hörte Will einen Wagen näher kommen und ganz in der Nähe halten. Er richtete sich auf und sah, wie sich die Fahrertür der braunen Limousine öffnete und John Geary ausstieg. Will war nicht sonderlich überrascht: ein Cop im Ruhestand, der Beschäftigung brauchte. Geary sah zerknittert und zerzaust aus, seine struppigen weißen Locken hätten dringend einen Friseur gebraucht. Er trug zwar einen Ehering, aber es gab anscheinend niemanden, der ihn aufgefordert hätte, die fleckigen Hosen zu wechseln.

»Sie haben es also gefunden.« Geary näherte sich dem Volvo. »Das ist ihr Auto.«

Will nickte. »Die Lebensmittel sind auch noch drin.«

Geary trat näher und streckte seinen Kopf in den Kofferraum. Er verzog das Gesicht. »Ich habe schon Schlimmeres gerochen. Leider.« Geary schaute sich suchend um. »Zu dumm, dass es letzte Nacht geregnet hat. Die Spurensicherung wird nicht viel finden. Aber wahrscheinlich hat er den Wagen sowieso nicht berührt, sondern gewartet, bis sie die Sachen eingeladen und den Kofferraum wieder geschlossen hatte.«

»Er?«

Geary wandte sich zu Will. »In neunundneunzig Prozent aller Fälle ist es ein Er. Waren Sie schon im Supermarkt?«

Will mochte Geary durchaus, aber diese Bestimmtheit gefiel ihm nicht. Gearys Annahmen riefen Bilder auf, die Wills Verstand nicht akzeptieren konnte. »Ich geh jetzt rein«, sagte er und drehte sich um.

»Moment mal.« Geary langte in den stinkenden Kofferraum des Volvos und kramte so lange zwischen den Einkaufstüten, bis er den langen weißen Kassenbon gefunden hatte. Er sah ihn kurz durch und richtete dann seine wässrigen blauen Augen auf Will. »Kasse Nummer acht.«

Will dankte Geary mit einem Nicken, aber als dieser ihm den Bon geben wollte, schüttelte er den Kopf. Diese Information war nützlich, aber das Stück Papier brauchte er wirklich nicht. Er war nicht sicher, weshalb, aber er wollte es lieber nicht berühren.

Geary nickte, ohne jedoch zu lächeln. Sein Blick blieb abwartend auf Will gerichtet. Schließlich sagte er: »Ich könnte Ihnen helfen, wissen Sie.«

Hatte auch gestern ein Fremder Emily seine Hilfe angeboten? Um die Lebensmittel im Auto zu verstauen? Ich könnte Ihnen helfen, wissen Sie. Hatte es so einfach angefangen?

»Ich weiß nicht recht«, sagte Will. Lass mich dich umarmen, hatte Mrs. Simon in sein vierjähriges Ohr geflüstert. »Ich denk drüber nach.«

Will drehte sich um und ging über den Parkplatz auf den Supermarkt zu. Er spürte Gearys Blick in seinem Rücken. Das durchgeschwitzte Hemd klebte ihm auf der Haut. Als die automatischen Türen zur Seite glitten, war er dankbar für den Schwall trockener, kalter Luft, der ihm entgegenkam. Es war noch früh am Tag, und der Supermarkt war bis auf ein paar Leute an der Café-Bar fast leer. Will beneidete die Unbekannten um ihr kleines alltägliches Ritual. Wie gerne würde er jetzt den Morgen mit seiner Familie verbringen: Frühstück mit allen, dann die Jungen auf dem Schulweg begleiten, mit Maxi spielen, während Emily unter der Dusche stand, und dann wieder ins Restaurant für einen langen Arbeitstag und einen späten Feierabend. Das war bis gestern noch seine eigene Routine gewesen.

Er ging an einer scheinbar endlosen Reihe von Kassen vorbei, bis er die Nummer acht erreichte. Das Licht am Markierungspfosten war aus, die Kasse geschlossen. Eine Sackgasse. Aber in einer Sackgasse stellte man nicht den Motor ab, sondern man wendete und suchte den nächstmöglichen Ausweg.

Fünf Meter hinter sich, in Richtung Haupteingang, entdeckte Will an der Wand einen Schalter, über dem Information stand. Es war nahe liegend, dort anzufangen.

Er trat vor den Schalter und betätigte eine kleine Klingel, die auf dem silbern und rosa gesprenkelten Resopaltresen stand. Nichts passierte. Er läutete nochmals. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Wütend drückte er viermal auf die Klingel.

Endlich tauchte ein junger Mann aus dem Hinterzimmer auf. Er trug ein gestärktes weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und dazu eine blau-rot gestreifte Krawatte, die viel zu kurz war. Ein Namensschild über der Hemdtasche wies ihn als Todd, Manager aus. Er sah keinen Tag älter als fünfundzwanzig aus.

Todd lächelte und entblößte dabei eine zweireihige Zahnspange. Er beugte sich über den Tresen. »Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Meine Frau hat gestern hier eingekauft«, begann Will.

Todd nickte lächelnd.

»Und sie ist seitdem nicht mehr nach Hause gekommen.«

Todds Lächeln verblasste.

»Sie wurde zuletzt hier gesehen.«

»Sind Sie sicher, dass sie hier eingekauft hat, in diesem Super Stop & Shop? Wir haben überall auf dem Cape Filialen. Und dann gibt es noch einen Shaw’s drüben auf den Commons.«

»Sie kauft immer hier ein«, entgegnete Will. »Auf dem Kassenbon steht, dass sie an Kasse acht bezahlt hat. Könnten Sie mir sagen, wer dort gestern Nachmittag gearbeitet hat?«

Todd brauchte einen Moment, um über das Ansinnen nachzudenken. »Nun, eigentlich spricht nichts dagegen. Einen Moment bitte.« Er verschwand im Hinterzimmer und kam kurz darauf wieder zurück. »Das muss Pam gewesen sein.«

»Ist sie jetzt auch hier?«

»Nein, heute hat sie frei.«

»Ich würde gern mit ihr sprechen.«

»Persönliche Informationen über unsere Angestellten darf ich nicht herausgeben«, entgegnete Todd mit seinem spangenbewehrten Lächeln. »Tut mir Leid. Die Vorschriften.«

»Sie könnte die letzte Person sein, die meine Frau gesehen hat. Ich würde wirklich gern mit ihr sprechen.«

»Nun, Sir, ich kann einfach nicht viel mehr für Sie tun. Haben Sie es schon bei der Polizei versucht?«

»Könnte ich mit Pams Vorgesetztem reden?«

»Das bin ich, und wie gesagt: Sie hat ein Recht auf Privatsphäre.«

Das Kind war wirklich der Manager. Will kam sich auf einmal alt vor.

»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«, fragte Todd mit unverbindlicher Freundlichkeit. Sein glitzerndes Lächeln ließ jede Hoffnung auf weitere Auskünfte erlöschen.

»Nein.« Will wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um, weil er Todd am liebsten einen kleinen Rat gegeben hätte. Er wusste gar nicht genau, welchen, vielleicht den Anstoß, sich mehr zu öffnen, mehr Mensch zu sein und nicht Repräsentant eines Jobs. Aber vielleicht wollte er auch nur seine Frustration an einem leichten Opfer abreagieren. Aber dann sah er Geary um die Ecke kommen. Die Entschlossenheit des alten Mannes machte Will Angst. Intuitiv machte er kehrt und marschierte durch die erstbeste nicht besetzte Kasse, direkt in den Supermarkt hinein.

Die Gänge waren lang und breit, die Regale randvoll mit allem, was unter der amerikanischen Sonne und anderenorts produziert wurde. Der blassgrüne Boden war auf Hochglanz poliert. Will lief die Gänge auf und ab, überfordert von dem Angebot, aus dem er normalerweise ohne die geringsten Probleme auswählte. Er hatte nichts erreicht, und das setzte ihm schwer zu. Was sollte er jetzt tun? Er hatte keine Ahnung, welche Möglichkeiten es gab und wo er anfangen sollte, nach Emily zu suchen.

Er hatte Angst innezuhalten, wenn er in Bewegung blieb, würde sie vielleicht hier Gestalt annehmen, in diesem Moment. Sie würde bei den Kakaodosen stehen und die einzelnen Marken vergleichen. »Welche von den beiden«, würde sie ihn fragen und zwei Dosen mit Kakaopulver in die Höhe heben, »würden die Kinder wohl lieber mögen? Maxi würde bestimmt diese mit dem Bären lieber haben, aber David hätte bestimmt die gute dunkle Schokolade am liebsten. Sammy, glaub ich, wär es egal.« Emily würde den ganzen Abend vor diesem Regal stehen bleiben, um die richtige Kakao-Wahl für ihre Kinder zu treffen. Sie war eine Planerin. Ihr war es wichtiger, vorbereitet zu sein als gut ausgeschlafen. Wie oft war er morgens aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie bereits aufgestanden war, um irgendetwas für irgendjemanden bereit zu haben? Ihr gefiel es sogar, noch vor dem Morgengrauen in Ruhe zu frühstücken.

Aber als er die Augen öffnete, war sie nicht da. Die Ernüchterung nahm ihm alle Kraft. Er ließ den Kopf sinken und schlug die Hände vors Gesicht.

»Ovaltine«, sagte eine Stimme.

Will hob den Blick. Geary.

»Ich habe es mein ganzes Leben lang getrunken, und es hat sich kein bisschen geändert.«

Will atmete tief durch. Geary sah ihm in die Augen.

»Ich war fast dreißig Jahre beim FBI, zehn davon auf Streife. Wenn jemand mich wie einen lästigen alten Versager behandelt, nur weil ich im Ruhestand bin, dann wurmt mich das.« Geary schlug sich auf die Brust. »Ich bin hier am Start, mit oder ohne Gehalt.« Ohne den Blick von Will zu nehmen, holte er eine große Dose Ovaltine aus dem Regal. »Manche Sachen ändern sich nie.« Er sah Will ernst an. »Seien Sie kein Idiot.«

Will verstand. »Kasse acht ist geschlossen«, sagte er. »Und der Manager ist nicht zu gebrauchen.«

»Die Leute in diesen Jobs jonglieren ständig mit ihren Schichten. Kommen Sie, wir fragen mal rum.«

Will folgte Geary. Der Kassenbon hing dem alten Mann aus der schmutzigen Hosentasche heraus.

An Kasse sechs scannte eine üppig ausgestattete Frau mit blondem Haar und bloßen, von Tätowierungen bedeckten Armen die Waren des letzten Kunden in ihrer Schlange. Sie warteten, bis der Kunde gegangen war.

»Morgen, Darlene!«, sagte Geary.

Erst jetzt bemerkte Will das kleine Namensschild aus Plastik, das am Träger von Darlenes gelbem Top befestigt war.

»Morgen, Dick.«

»Dicht dran. John. Und das hier ist Will, Zwillingsbruder von Willy. Da haben Sie also fast den Nagel auf den Kopf getroffen, Darlene.«

Sie unterdrückte ein Grinsen und musterte Geary von oben bis unten.

»Was kann ich für die Herren tun?«

Geary zupfte den Kassenbon aus seiner Tasche und holte seine Geldbörse heraus.

»Darlene, ich bin vom FBI.« Er klappte sein abgewetztes schwarzes Portemonnaie so schnell auf und wieder zu, dass sie das Verfallsdatum seiner Dienstmarke nicht erkennen konnte.

Ihre penibel gezupften Augenbrauen gingen fragend nach oben.

»Wir suchen jemanden. Eine Frau, die gestern hier eingekauft und an der Kasse acht gezahlt hat.«

Darlene betrachtete den Bon und sah dann Will direkt an.

»Ich hab gesehen, wie Sie mit Todd gesprochen haben.«

»Ein ziemlicher Schnösel, wenn Sie mich fragen.« Will setzte ein verschwörerisches Lächeln auf.

Darlene zwinkerte ihm zu. »Da könnten Sie Recht haben.« Sie senkte die Stimme. »Ich war gestern Nachmittag nicht hier, aber Tariq hat gearbeitet. Er sitzt an der Eins. Sehen Sie ihn?«

Tariq war ein schmächtiger adretter Teenager, der versuchte, mit Hilfe eines Silberrings in der Unterlippe wild auszusehen. Geary zog bei dem jungen Mann eine ähnliche Vorstellungsnummer ab wie bei Darlene, und Will verstand, dass der Ex-Agent diese Masche schon oft angewendet hatte.

»Pam war gestern Nachmittag an der Acht.« Tariqs Zunge bearbeitete den silbernen Ring, als wolle sie ihn verschieben. »Sie hat eine Doppelschicht bis Mitternacht geschoben. Aber ich glaub, gestern Nachmittag hatte Susannah mit ihr die Schicht. Sie sitzt gleich da drüben an der Drei. Die beiden sind dick befreundet. Ich hasse sie.«

»Vielen Dank, Junge.« Geary machte eine kurze Pause. »Entschuldige bitte meine Frage, aber wie putzt du dir die Zähne mit dem Ding im Mund?«

»Gehört das irgendwie zu Ihren Ermittlungen?«

Geary lächelte. »Kann man so nicht sagen.«

»Ich spür nichts.« Tariq nickte bejahend. »Ich merk überhaupt nicht, dass da was ist.«

Will folgte Geary zur Kasse drei. Sechs Minuten waren erst verstrichen, und sie hatten eine Frau gefunden, die möglicherweise Emily gesehen hatte.

Susannah war solariumbraun und hatte kurz geschnittenes, mit Wasserstoffperoxid gebleichtes Haar. Sie ließ ihren Kunden warten, während sie die Uhrzeit unten auf dem Kassenbon prüfte. Dann nickte sie knapp und fuhr fort, die Waren zu scannen. »Kurz danach ist Pam zu mir rübergekommen, und wir haben zusammen Pause gemacht. Sie sagte, da wär in ihrer Schlange so ’n komischer Typ gewesen, und darum hätte sie ein paar Minuten früher Schluss gemacht. Dürfen wir natürlich nicht, aber na ja.« Sie wandte sich an Will. »Ist denn was passiert oder so?«

»Vielleicht«, sagte Geary. »Das wollen wir ja gerade herausfinden.«

»Na, jedenfalls hat Pam mir erzählt, dass da eine Dame war, die es eilig hatte und ungeduldig war. Pam gefiel das gar nicht, aber dann ist ihr der Gedanke gekommen, dass die Frau vielleicht von dem Typen, der direkt hinter ihr stand, wegkommen wollte. Pam sagte, er hätte ständig irgendetwas angefasst und sei überall mit seinen Fingern dran gewesen.« Susannah verdrehte die Augen.

»Haben Sie die Frau gesehen?«, fragte Will so beherrscht, wie er konnte. Am liebsten hätte er geschrien, gebettelt und geheult.

»Nee, die war schon weg. Aber ich hab den Kerl gesehen. Pam hat ihn mir gezeigt.«

»Können Sie ihn beschreiben?«, fragte Geary »Was auch immer Ihnen noch einfällt.«

»Ich seh den öfter. Er kauft hier so gut wie jeden Montagnachmittag ein. Das weiß ich, weil es gewöhnlich meine Schicht ist. Der ist sozusagen ’n echter Stammkunde. Okay, er ist ziemlich alt, ich mein, nicht so alt wie Sie, Entschuldigung, eher so um die fünfzig. Hat weiße Haare und total weiße Haut, als würde er nie in die Sonne kommen. Und er trägt immer diese blaue Mütze mit so ’nem verknoteten Stück Tau vorne drauf und ’nem kleinen Schirm.«

»So eine Art Seglermütze?«

Susannah zuckte die Achseln. »Er hat auch immer dieselbe weiße Jacke an. Wir nennen ihn Mister White.« Sie verdrehte die Augen. »Ich war echt überrascht, dass er gestern tatsächlich mit jemandem sprach. Normalerweise ist er eher ein menschenscheuer Kauz.«

»Können Sie sich erinnern, mit wem er gesprochen hat?«, fragte Will in der Hoffnung, dass es nicht Emily gewesen war.

»Eine Dame. Älter als er, aber …«

»Nicht so alt wie ich?« Geary schmunzelte.

Susannah blinzelte verlegen. »Das hab ich nicht so gemeint, echt nicht, sie war eben eher wie meine Oma. Aber sie hatte blondes Haar. Und sie trug so ein fettes Goldarmband mit Anhängern. Ich glaube, sie war auf den Kerl sauer.«

»Wann war das, Susannah? Während die erste Dame, die Sie nicht gesehen haben, bezahlte?«

Susannah schüttelte den Kopf. Eine Franse ihres wasserstoffblonden Haares fiel ihr ins Gesicht. »Nein, später, nachdem er auch bezahlt hatte.«

»Die erste Lady war also fort, die, nach der wir suchen, und er war noch hier im Supermarkt und stritt sich mit der blonden Schönheitskönigin?«

Susannah lachte. »Das muss ich Pam erzählen! Sie stritten gar nicht miteinander, sie hat ihn angemeckert.«

»Und er?«, fragte Geary.

»Hat nur zugehört. Er hat sie nicht mal richtig angesehen. Und dann hat er seinen Wagen aus dem Laden geschoben. Sie ist noch einen Moment stehen geblieben und dann auch gegangen.«

»Hatte er eine Menge eingekauft?«

»Nein, im Gegenteil. Nur ’ne Menge Maiskolben. Die waren gestern im Angebot, einen Dollar das Dutzend.«

Geary nickte. »Sonst noch was, woran Sie sich erinnern?«

Susannah verpackte inzwischen die Einkäufe ihrer Kundin in Tüten. »Eigentlich nicht. Er ist sozusagen normal groß, nicht besonders dick oder schlank, schon ein bisschen älter und eben auffällig weiß und sonderbar.«

»Wie kann ich Pam erreichen?«, fragte Geary. »Vielleicht weiß sie ja noch mehr.«

Susannahs Blick huschte zu Geary; innerhalb einer Sekunde hatte sie sich entschieden, ihm die Telefonnummer ihrer Freundin anzuvertrauen. Sie schrieb sie auf einen alten Bon, den jemand zurückgelassen hatte, und reichte ihn Geary.

»Ich werd ihr sagen, dass ich mit Ihnen gesprochen habe.«

»Danke.« Geary zwinkerte ihr zu.

Susannah lächelte zurück und machte sich daran, die Waren des nächsten Kunden zu scannen.

Will und Geary gingen durch die automatischen Türen an die klare Morgenluft.

»Darf ich mal Ihr Telefon leihen?«, fragte Geary.

Will reichte ihm sein Handy. Geary drehte es in der Hand, bis er herausbekam, wie man es aufklappte. Dann wählte er die Nummer, die auf dem Bon stand.

An der Art, wie Geary die Augen verdrehte, konnte Will deutlich erkennen, dass er mit einem Anrufbeantworter sprach. Die Nachricht, die Geary hinterließ, war langatmig, vermittelte aber sein Anliegen. Er hinterließ seine Privatnummer und bat Pam um einen Rückruf.

»Wie finden wir jetzt Emily?«, fragte Will.

»Wir? Sie meinen sich selbst und das Mashpee Police Department?«

»Meinen Sie, ich sollte die State Police anrufen?«

»Noch nicht. Die sind gut, aber sie legen auch erst mal nur eine Akte an. Eine Vermisstenanzeige erregt anfangs eine Menge Aufmerksamkeit, aber das versickert schnell. Es sei denn, Geld ist im Spiel oder es handelt sich um ein Kind.«

Will blickte Geary ins Gesicht. »Was denken Sie?«

»Ich hab eine Ahnung. War ich in das Wir von eben eingeschlossen, Will?«

»Ich beauftrage Sie. Und ich zahle Ihnen, was Sie verlangen.«

»Ich brauche kein Geld. Ich möchte nichts als die Erlaubnis, alles, was ich vielleicht herausbekomme, in meinem Buch zu verwenden.«

»In Ihrem Buch?«

»Unaufgeklärte Verbrechen. Wenn meine Vermutung stimmt, dann könnte einer der Wirrköpfe, die ich schlummernd in einem Aktenschrank gefunden habe, gestern hier eingekauft haben.«

»Mister White?«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn sie nicht gefasst werden, wissen wir nicht, wer sie sind. Das ist das Puzzle. Mein Job war es, eine Art Linse zu schaffen, mit deren Hilfe man ein Verhaltensprofil erstellen kann. Wir sammeln alles, was wir haben, und werten es dann aus. Sie würden überrascht sein, was man alles herausbekommt. In acht von zehn Fällen klappt es.«

»Und was ist in den anderen beiden Fällen?«

Geary schüttelte den Kopf. »Es handelt sich nicht um eine perfekte Wissenschaft.«

»Warum ausgerechnet gestern? Warum Emily?«

»Wenn ich Recht habe, dann war der Zeitpunkt kein Zufall. Ich weiß aber nicht, ob es unbedingt Emily treffen musste.«

Will durchfuhr ein Schauder. Falscher Ort, falsche Zeit. »Was soll ich denn jetzt tun, Dr. Geary?«

»Geben Sie mir ein wenig Zeit. Sprechen Sie mit niemandem, bevor ich nicht die Zeit gefunden habe, mir einen Reim daraus zu machen. Reden Sie nicht mit der Presse, das könnte unseren Mann verschrecken.«

»Aber würde die Publicity uns nicht helfen?« Will dachte an all die Fernsehmeldungen, Gesichter, die über den Bildschirm flackern, dazu die Geisterstimme eines Nachrichtensprechers, die grabesdüster um Hinweise zum Verschwinden einer Frau, eines Mannes oder eines Kindes bittet. Und die seltsam quälenden Einzelheiten: Geburtsdatum, Gewicht, Haarfarbe, verschwunden am soundsovielten, um jene Uhrzeit.

»Es gibt einen richtigen Zeitpunkt und einen falschen, die Medien hinzuzuziehen«, sagte Geary. »Ich würde das gern mit einem Kriminologen besprechen, den ich kenne und dessen Meinung ich gerne einholen möchte. Er hat mir in der Vergangenheit geholfen, ein paar ganz harte Nüsse zu knacken.«

»Und wenn man zu lange wartet?«

»Ein gewisses Risiko besteht immer. Aber denken Sie nach, Will. Im Moment haben Sie mehr zu gewinnen als zu verlieren.«

»Wie lange?«

»Ich ruf Sie um drei Uhr an, spätestens halb vier. Lassen Sie mir bis halb vier heute Nachmittag Zeit, bevor Sie mit jemandem sprechen.«

Sie tauschten Telefonnummern und Adressen aus.

»Fahren Sie nach Hause zu Ihren Kindern. Duschen Sie, essen Sie etwas. Ich melde mich.«

Will stieg in seinen gemieteten SUV, in dem es noch nach Zigarettenrauch roch. Er beschloss, Geary zu vertrauen. Irgendetwas musste er tun. Er konnte nur hoffen, dass es nicht der schlimmste Fehler seines Lebens sein würde.