29
Entweder träumte Jenna … oder sie war tot.
Es musste eines von beidem sein, das wusste sie. Denn sie spürte keinen Schmerz mehr. Außerdem war ihr Vater da, genauso attraktiv, geschmeidig und jung, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Es war dunkel und feucht, und in der Luft hing ein Duft von Jasmin und Frangipani. Eine wunderschöne, typische Nacht auf Hawaii. Ihr Vater tigerte barfuß und schweigend um die unbeleuchtete Veranda ihres kleinen Hauses und schaute dann auf den leeren Strand unter ihnen.
Durch die gläsernen Verandatüren sah sie, wie der Wind in den Palmen rauschte und das Mondlicht im Ozean funkelte. Das schwarze, wellige Haar ihres Vaters wurde von den Strahlen des Mondes ebenfalls erfasst, es verlieh den Haarspitzen einen elfenhaft-weißen Schimmer. Sie beobachtete von ihrem geheimen Versteck unter der Treppe aus, wie er vor und zurück lief, unruhig und doch konzentriert. Um sie herum lagen Decken, Kopfkissen und ihr alter Freund Teddy.
Ein Gefühl des Glücks erfüllte sie wie warmer Honig – rein, golden und vollkommen in seiner Süße. Ihr Vater war da. Er würde sie beschützen. Sie musste nicht länger Angst haben.
Selbst als er sich in eine Wolke aus Nebel verwandelte und seine Kleidung in einem Haufen aus Jeans- und Leinenstoff zurückließ, hatte sie keine Angst. Er schwebte langsam über den Teppich und verwandelte sich dann in eine riesige schwarze Krähe, die mit den Flügeln schlug und auf dem Glastisch landete, der auf der Veranda stand.
Nein, sie hatte keine Angst. Solange er bei ihr war, würde alles gut sein.
Die Krähe wandte den Kopf und sah sie mit ruhigen, klugen Augen an. Ihr Blick hatte etwas Durchdringendes. Sie hüpfte zur Seite, plusterte das Gefieder auf und blinzelte Jenna an.
Sie kroch unter der Treppe hervor und ging lautlos durch das dunkle Wohnzimmer, den Teddy unter ihrem Arm. Sie trat auf die Veranda hinaus, wo sich die feuchte Luft wie die zärtliche Geste eines Liebhabers auf ihr Haar und ihre Haut legte. Sehnsüchtig streckte sie die Arme aus und flüsterte der Krähe zu.
»Daddy … Was bist du?«
Die Krähe gab einen warnenden Schrei von sich und hüpfte erneut ein wenig zur Seite. Dann verwandelte sie sich schlagartig in einen Schmetterling mit Flügeln aus gelbbraunem Bernstein und Gold.
Einen Moment lang schwebte er über Jennas Kopf, ohne dass sie ihn mit ihrer ausgestreckten Hand erreichen konnte. Still ließ er sich von der schweren, duftenden Luft tragen und flog dann voller Anmut über die Veranda in die tropische, sternenfunkelnde Nacht hinaus.
Jenna sah ihm nach. In ihrem Herzen loderte ein Feuer. Die Schmerzen, die sie nicht gespürt hatte, als er bei ihr war, kehrten jetzt mit doppelter Heftigkeit zurück. Sie zerrissen fast ihren Geist, ihren Körper und jede dunkle Ecke in ihrer Seele. Der Schmerz zeigte ihr aber auch, dass sie nicht tot war.
Der Tod sollte etwas Friedliches haben und nicht diese endlose, quälende Agonie. Sie träumte auch nicht. Zumindest nicht mehr. Ihr wurde auf einmal klar, dass sie sich an etwas erinnerte, was schon vor langer Zeit geschehen war und das sie völlig vergessen hatte. Eine Erinnerung, tief in ihr begraben.
Sie hatte als Kind beobachtet, wie er sich verwandelte. Mehr als einmal. Und in mehr als eine Gestalt.
Etwas im nächtlichen Himmel erregte ihre Aufmerksamkeit. Rot und pulsierend, glitzernd und hell leuchtend wie ein Tropfen Blut auf dem endlosen Indigoblau. Ein Stern. Sie wusste nicht, was das bedeutete. Doch ihr war klar, dass sie diesen Stern schon einmal gesehen hatte. Früher, in einem anderen Leben. Es war so schwer nachzudenken, während sie Wellen des Schmerzes durchrollten. Träumte sie schon wieder? Hatte sie Halluzinationen? War sie in der Hölle?
Ein hämmerndes Geräusch setzte irgendwo in ihrer Nähe ein, außerhalb ihrer Sichtweite. Das rhythmische Rauschen von Blut, das durch einen hohlen Muskel gepumpt wurde. Durch ein Herz. Es war ein Geräusch, das sie überall wiedererkennen würde.
Sie stöhnte wortlos auf. Dann begannen das Feuer und die Schmerzen sich tiefer in sie hineinzubohren. Sie tobten in ihrem Schädel und rissen wie scharfe Zähne an ihrer Haut.
»Sie kommt zu sich.«
Die Stimme stammte von einem Mann. Sie war leise und vollkommen tonlos. Eine zweite, ebenso emotionslose Stimme antwortete.
»Endlich.« Das Geräusch von Stiefeln auf dem Zementboden, dann ein Stuhl, der zurückgeschoben wurde. »Machen wir weiter.«
Sie erkannte das Geräusch von einem Feuerstein auf Metall, das Zischen von Papier und Tabak, als diese entzündet wurden, und den Geruch von Rauch in ihrer Nase. Ehe sie sprechen, ganz zu sich kommen oder ihre Augen öffnen konnte, drang ein neuer und viel schlimmerer Schmerz zu ihr durch. Er schnitt durch ihre Beinahe-Bewusstlosigkeit wie tausend heiße Messer, die sich auf die zarte Haut ihres Innenschenkels pressten.
Dann der üble, grauenvolle Geruch nach verbranntem Fleisch. Ihrem Fleisch.
Der Schrei stieg aus ihrer Kehle, ehe der Schmerz sie ganz ergriffen hatte, ehe er so schlimm wurde, dass sie hilflos um sich schlug und sich nichts mehr wünschte, als dass er aufhörte. Doch sie war gefesselt, festgebunden von unsichtbaren Ketten um ihre Handgelenke und Fußknöchel. Es war ihr nicht möglich, dem Schmerz zu entkommen. Also schrie sie immer weiter, so wie auch der Schmerz nicht aufhörte.
Die angespannte Faust, die gegen ihre Wangenknochen schlug, setzte dem Ganzen ein Ende.
»Halt’s Maul oder ich reiß dir die Zunge raus, Schlampe!«
Die zweite Stimme zischte und spuckte in ihr Ohr.
Jenna verfiel in ein benommenes, gequältes Schweigen. Das hämmernde Herz kam näher. Und noch näher.
»Also«, begann die Stimme erneut, wobei sie diesmal sachlicher klang. »Ich frage dich noch einmal. Und dieses Mal solltest du mir sagen, was ich wissen will.«
Sie wandte den Kopf in die Richtung der Stimme, was sogleich prickelnde Schmerzen zur Folge hatte. Langsam versuchte sie, ihre Lider zu öffnen, was ihr jedoch kaum gelang.
Als sie die Augen endlich offen hatte, sah sie verschwommen das Zimmer um sich. Die nackten Wände, den zerkratzten Holztisch, das schimmernde Tablett mit den Folterinstrumenten. Eine Lampe an der Decke surrte und flackerte. Ihr grelles, gnadenloses Licht ließ den Raum noch heller erscheinen.
Der rauchende Mann stand drohend über ihr und lächelte sie mit ausdruckslosen, toten Augen an.
Daria … Wo war Daria? Jenna erinnerte sich an einen kurzen Kampf und wie der Arm des rauchenden Mannes ausgeholt hatte. Dann hatte sie ein dumpfes, platzendes Geräusch gehört, das ihr Bauch von sich gegeben hatte, als das Messer hineingebohrt wurde. All das war so schnell geschehen, dass ihr keine Zeit geblieben war, sich zu verwandeln. Zumindest war es ihr gelungen, mit einem harten, gut getimten Schlag einem Mann die Nase zu brechen, denn in ihrer Faust hatte sie noch immer das Eisenstück gehabt.
Man hatte sie verprügelt, ihr Schnitte zugefügt und sie mit Zigaretten verbrannt. Zumindest hatte man ihr das Schlimmste erspart. Die Männer hatten sie nicht vergewaltigt. Als man sie an das Bett fesselte, hatte sie geschrien und war vor ihren groben Händen zurückgewichen. Doch die Kerle hatten nur gelacht und derbe Witze darüber gerissen, dass Sex mit ihr schlimmer als mit einem Tier sein würde.
Etwas Feuchtes und Klebriges breitete sich auf dem Laken unter ihr aus. Etwas Warmes quoll aus der offenen Wunde in ihrem Bauch. Blut. Viel Blut, das sie allerdings aus irgendeinem seltsamen Grund nicht riechen konnte. Sie roch nur den Zigarettenrauch, verbranntes Fleisch und den sauren Gestank ungewaschener Körper.
»Soll ich die Frage wiederholen? Oder glaubst du, dass du eine Antwort für mich hast?«
Er führte die Zigarette zu seinen Lippen und sog den Rauch ein. Die Spitze erglühte, ehe er den Rauch durch die Nase wieder ausblies, wie ein Drache. Die Schmerzen, die in Wellen ihren Körper durchrollten, waren fast unerträglich. Aus irgendeinem Grund fielen ihr seine Fingernägel auf, die abgebissen waren und ekelhaft gelb schimmerten.
Dürr und spinnenhaft beugte er sich über sie und ließ den Rauch gespenstischen Fingern gleich um ihr Gesicht wehen.
»Wo ist die vierte Kolonie, Miezekätzchen?« Seine Stimme klang verspielt und so locker, als ob sie sich bei einer Tasse Tee unterhielten. »Wir kennen Quebec, Sommerley und die in Nepal. Und wir wissen, dass es eine vierte Pestbeule gibt, wo der Rest von euch widerwärtigen Kreaturen lebt. Aber wir wissen nicht, wo sie sich befindet. Und wir können unsere Pläne nicht in die Tat umsetzen, solange wir das nicht wissen. Ich muss schon sagen: Eure sogenannten Hüter der Geschlechter waren erstaunlich wenig mitteilungsfreudig.«
Sein bösartiges Lächeln wurde breiter. Er sah sie aus seinen leeren Augen durchdringend an. »Selbst wenn wir ihre Köpfe mit einem Küchenmesser abgeschnitten haben«, fügte er leise hinzu. »Einem sehr, sehr stumpfen Küchenmesser.«
Die anderen Männer, die sie nicht sehen konnte, lachten höhnisch. Sie wollte ihm ins Gesicht spucken, aber ihr Mund war zu trocken.
»In unserem Hauptsitz in Rom gibt es eine wunderbare Vitrine, in der wir die Köpfe aufbewahren. Als Trophäen, könnte man sagen«, erklärte er ruhig. »Die Sammlung ist ziemlich beeindruckend. Schließlich reicht sie schon Jahrhunderte zurück. Formaldehyd ist wirklich ein erstaunliches Konservierungsmittel. Wenn ich gewusst hätte, dass wir heute gleich zwei Gäste haben, hätte ich eine kleine Diavorführung für euch organisiert.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rauchte, wobei er ganz gelassen und kontrolliert wirkte. Keinen Moment lang ließ er Jenna aus den Augen. »Obwohl die meisten Frauen sind und für uns deshalb nicht sonderlich wertvoll. Es sind die Alpha, die wir wollen.«
Die kleine Geste, die er mit seiner Zigarette machte, wirkte bedauernd. »Wie es so schön heißt: ›Wenn man den Kopf der Schlange abschlägt, wird auch der Körper sterben.‹ In diesem Fall ist es eure gesamte Spezies, die dann sterben wird. Wir brauchten die Hüter, um uns zu sagen, wo sich die wirklich wichtigen Schmusekatzen befinden. Aber aus irgendeinem Grund scheinen es bei euch immer die Frauen zu sein, die besonders scharf aufs Reden sind.«
Seine glitzernden Augen wurden schmäler. »Obwohl deine Freundin im Nebenraum bisher nicht sonderlich hilfreich war. Bisher.«
Sein bösartiges Lächeln umspielte noch immer seinen Mund, als ob es für immer auf seinem Gesicht eingebrannt wäre.
»Aber vielleicht bist du ja entgegenkommender. Wie wäre es mit einem Deal? Du sagst mir jetzt, was ich wissen will, und dafür ist das Ganze hier schnell vorbei.« Er wies mit dem Arm in den Raum und auf die Werkzeuge und Jennas nackten Körper, der auf dem Bett lag. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl nach vorn und begann langsam, den Arm zu senken. Er blinzelte nicht, und sein Lächeln wurde auch nicht merklich schwächer.
»Oder du kannst dir auch alle Zeit der Welt lassen, wenn dir das lieber ist.« Nur wenige Zentimeter von ihrem rechten Auge entfernt stieg der Rauch der Zigarette gemächlich in die Luft.
»Ich …«
Es war ein erbärmliches Wimmern, das ihr über die Lippen kam. Demütigend. Sie hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über den Mund. Der rauchende Mann zog seine Augenbrauen hoch. Geduldig und mit undurchdringlicher Miene wartete er, bis sie einen erneuten Anlauf nahm.
»Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Wieder war es nur ein gebrochenes Flüstern, das diesmal weniger erbärmlich, wenn auch schwach und schmerzverzerrt klang. Der Blick des rauchenden Mannes schoss einen Moment lang in die Richtung der anderen Männer, die sich wohl auf der anderen Seite des Zimmers befanden. Dann kehrte er zu ihr zurück.
»Nun.« Sein Lächeln wurde breiter. Er richtete sich auf und rückte mit seinem Stuhl näher an ihr Bett. Sie starrte in sein Gesicht und musterte den kahlen, schimmernden Kopf und die toten Augen. Dann betrachtete sie erneut den kleinen schwarzen Panther auf der Innenseite seines Handgelenks.
»Ich glaube …«, begann sie und versuchte, sich von dem Fluss der Schmerzen nicht treiben zu lassen, der drohte, sie in die Tiefe zu reißen. Das Geräusch des pochenden Herzens war jetzt so nah, dass es in ihren Ohren widerhallte. Es rauschte durch ihr Blut und übertönte sogar ihren eigenen Herzschlag.
Der rauchende Mann beugte sich noch weiter vor und wartete. Er sprach leise zischend, sodass sie ihn kaum über das Geräusch in ihrem Kopf hinweg verstehen konnte.
»Ja? Was ist, mein hilfloses, kleines Kätzchen? Sag mir, was du glaubst.«
Wieder öffnete sie den Mund, und er kam noch näher – so nahe, dass sie die winzigen roten Blutgefäße sehen konnte, die das Weiß seiner Augen durchzogen. Er hatte sich in letzter Zeit nicht rasiert und noch ein Stückchen Fleisch von seiner letzten Mahlzeit zwischen den Vorderzähnen. Außerdem brauchte er dringend ein Bad. Er kam noch näher, streckte den Arm aus und berührte mit einem langen, feuchten Finger ihren Hals, dort wo ihr Puls schlug.
Sie musterte ihn durch ihre halb geschlossenen Augen von Kopf bis Fuß und lächelte ihn süß an. Ohne den Anflug von Hinterlist.
»Ich glaube, Sie sind sogar noch dümmer, als Sie hässlich sind«, flüsterte sie.
Einen Moment lang herrschte Stille. Er brauchte offensichtlich einen Augenblick, bevor er begriff, was sie gesagt hatte. Dann stand er abrupt auf, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat den Stuhl mit seinem Stiefel nach hinten.
Sie verspürte ein Gefühl der Befriedigung, dass endlich sein widerliches Lächeln verschwunden war. Erschöpft und zerschlagen ließ sie sich wieder von den Schmerzen mittragen, die sie noch immer durchspülten. Jetzt wurde sie langsam in die Dunkelheit hinuntergezogen.
Imse, bimse, Spinne, wie lang dein Faden ist. Fällt herab der Regen und der Faden riss, kommt die liebe Sonne und trocknet den Regen auf. Imse, bimse, Spinne klettert wieder rauf …
»Gib mir die Zange«, knurrte er mit einer ausgestreckten Hand. Einer der Männer, den sie jedoch nicht sehen konnte, eilte herbei.
Ehe er jedoch das Tablett mit den Werkzeugen erreicht hatte, das so ordentlich auf dem Holztisch ausgestellt war, brach Leander die Tür auf.
Er stürmte ins Zimmer – eine verschwommene Gestalt aus schwarzem Fell und langen, scharfen Zähnen. Mit einem zornigen Fauchen sprang er als Erstes den rauchenden Mann an. Er versenkte seine Klauen in dessen Brust und seine Reißzähne in dessen Hals. Mit einer einzigen Bewegung seiner gewaltigen Kiefer riss er dem Mann den Kopf ab. Dieser rollte in eine Ecke des Zimmers.
Leander verwandelte sich in Nebel, als ein Messer an seinem Kopf vorbeiflog und mit einem dumpfen Knall auf die Wand hinter ihm traf. Der kopflose Körper des rauchenden Mannes sank auf die Knie und brach dann auf dem Boden zusammen.
Leander drehte sich um. Er bemerkte erst jetzt, dass er die Eisentür völlig zerstört hatte. Obwohl sie von beiden Seiten mit Stahlstangen verstärkt gewesen war, hatte er sie mit solcher Wucht getroffen, dass die Stangen entzweigebrochen und die Verankerungen in der Wand herausgerissen waren. Auch ein Teil der Decke war herausgebrochen. Zwei Männer standen jetzt auf der Schwelle und schrien ihm etwas entgegen, während er als weißer Nebel über dem Zimmer schwebte.
Er sah Jenna, die wie eine zerbrochene Porzellanpuppe auf dem Bett unter ihm lag. Nackt, verwundet und von dunklem, klebrigem Blut umgeben. Ihre großen, grünen Augen blickten aus einem Gesicht, das kalkweiß war, zu ihm herauf.
Ein blinder Zorn ergriff ihn wie ein Wirbelwind. Er vermochte nur noch eines zu denken: Ich werde euch alle vernichten.
Ein Schrei aus dem hinteren Teil des Hauses. Er wusste, dass jetzt ein weiterer Expurgario kommen würde. Leander wartete seine Ankunft nicht ab, sondern verwandelte sich wieder in einen Panther und griff an.
Jenna, die immer wieder das Bewusstsein verlor, beobachtete den Kampf um sie herum, während sie weiterhin mit Ketten an das blutdurchtränkte Bett gefesselt war. Das Ganze besaß eine seltsame Langsamkeit, als ob sie einen Film in Zeitlupe ansehen würde. Die lautlose Gewalt besaß beinahe etwas Lustiges, wie ein Videospiel, bei dem etwas schrecklich schieflief. Ein riesiger, schwarzer Panther flog durch den Raum, die muskulösen Vorderläufe weit ausgestreckt, die Klauen gezückt, die scharfen Zähne gefletscht. Jetzt gab er einen schrecklichen Laut von sich, der so klang, als ob sie ihn von weiter Ferne unter Wasser hören würde.
Dann waren da noch die stumm schreienden Männer mit ihren weit offenen Mündern und den hervorquellenden Augen. Sie fielen wie Papierpuppen um, als er mit seinem vollen Gewicht zornig fauchend auf ihnen landete. Wie durch Watte vernahm sie das Knacken von Knochen, als ob man über trockenes Laub liefe. Eine blutrote Fontäne spritzte durchs Zimmer und hinterließ einen langen, tropfenden Streifen an der Decke.
Sieht beinahe hübsch aus, dachte sie und blickte ruhig und mit einer friedlichen Distanziertheit auf das Blut über ihr. Es ist beinahe wie … Kunst. Performance-Kunst.
Sie konnte nichts mehr fühlen. Sie spürte weder ihre Arme noch ihre Beine, weder den Schmerz noch Entsetzen oder Angst oder irgendetwas, das an eine Emotion erinnerte. Eine Weile suchte sie nach dem richtigen Begriff für diese Gelassenheit, bis ihr klar wurde, was sie empfand: Sie überließ sich einfach ihrem Schicksal.
Diese Erkenntnis brachte ihr zu Bewusstsein, dass sie sterben würde.
Plötzlich war ein weiterer Mann im Zimmer, der den geschmeidigen schwarzen Panther mit einem Messer angriff. Die Klinge funkelte im kalten Licht der Lampe über ihren Köpfen. Mit einem mächtigen Biss wurde dem Mann das Herz aus der Brust gerissen. Das pochende Organ hing einen Moment lang zwischen den Zähnen des Raubtiers, ehe dieses es beiseiteschleuderte. Noch mehr spritzendes Blut, noch mehr stumme Schreie. Das Messer befand sich noch immer auf seiner Reise nach unten, als alles abrupt endete. Der Panther verwandelte sich wieder in einen Mann – in einen sehr schönen, nackten Mann –, und die Messerklinge bohrte sich in seine Brust.
Er taumelte.
Der Mann ohne Herz stürzte zu Boden.
Alles wurde still.
Jenna vermutete, dass sie jetzt kurz vor dem Tode stand. Ihr Vater war nämlich wieder da und saß auf dem Stuhl neben dem Holztisch. Er betrachtete sie ernst und sah so aus, als ob er ihr etwas sagen wollte. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um zu sprechen, als sich der Panther wieder in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte und als wunderschöner nackter Mann neben ihr Bett eilte. Sie sah jetzt nichts anderes mehr im Zimmer als seine goldene, muskulöse Gestalt.
»Bleib bei mir, Jenna!«, rief er und riss die Ketten, die ihre gefesselten Handgelenke an die Bettpfosten banden, entzwei. Auf seiner Brust war eine Wunde, aus der Blut floss, das überall verschmierte. Er riss noch zweimal an den Ketten und hatte ihre Beine befreit.
»Bleib bei mir!«
Sie versuchte ihm zu sagen, dass alles in Ordnung war. Sie würde jetzt woanders hingehen, an einen Ort, wo sie ihren Vater wiedersehen konnte und wo es keine Schmerzen, keine Verwirrung, keine Geheimnisse oder Lügen, kein Weglaufen und auch keine Spinnen mehr gab. Doch das Einzige, was aus ihrer Kehle drang, war ein Seufzer.
Sie blickte zu ihm auf. Seine langen, dunklen Haare fielen ihm in Wellen über die Schultern und umrahmten sein herrliches Gesicht mit den flehenden Augen. Er rief jetzt etwas anderes. Seine Lippen bewegten sich wie in Zeitlupe, aber sie konnte nichts hören und dachte, dass es vielleicht sowieso nicht mehr wichtig war.
Eine Sache war jedoch wichtig. Sie wünschte, sie hätte die Stärke, den nächsten Satz laut auszusprechen.
Ich liebe dich, dachte sie und fiel – schwebte, stürzte in das wirbelnde schwarze Wasser. Es stieg ihr über die Brust und den Hals bis zu ihrem Kinn, ihren Wangen und der Nase. Es schwemmte den Himmel und den Mond und all die funkelnden Sterne fort.
Leander, ich liebe dich.
Sie hoffte, dass er sie verstand.
Dann schloss sie die Augen und sank in den dunklen Fluss, der die ganze Zeit darauf gewartet hatte, sie in sich aufzunehmen. Sie hörte das Echo ihres letzten Gedankens immer und immer wieder – wie ein Refrain, wie im Traum. Sie hörte diese drei Worte, die sie nicht mehr hatte laut aussprechen können, weil sie zu schwach war.
Ich liebe dich.