25
Christian blickte schweigend aus den großen Fenstern ihres Zimmers, das in Rosa- und Goldtönen gehalten war. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und die Hände verschränkt. Jenna sah sich hektisch im Zimmer um, nahm jedoch nichts wahr, außer dem sich wiederholenden Muster von Efeu auf der Tapete, das sich zu roten Flecken hinter ihren Lidern verwandelte, wenn sie die Augen schloss.
Das hatte sie während der vergangenen Minuten immer wieder getan.
Der Stuhl, auf dem sie saß, schien seltsam zerbrechlich zu sein. Fast fürchtete sie, dass er sich bei einer Verlagerung ihres Gewichts mit einem leisen Knall einfach in Rauch auflösen würde. Tatsächlich kam es ihr so vor, als hätte nichts um sie herum mehr Bestand. Selbst die Hände in ihrem Schoß standen in Gefahr, sich in leere Luft aufzulösen. Es kam ihr alles wie in einem Traum vor.
Nachdem sie die Tage mit Morgan in ihrem Zimmer verbracht hatte, wusste Jenna, dass es wie ein Kerker versiegelt war. Sie war Hunderte Male in Nebelgestalt alle Wände und Decken entlanggeschwebt, um nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen, nach irgendeiner Art von Ausgang. Aber sie hatte nichts gefunden.
Es gab keine Griffe an den Fenstern, keine Risse in den Scheiben, keinen Kamin oder Schornstein, durch die sie in die Freiheit des Himmels hätte entkommen können. Auch durch den Boden drang nicht einmal ein Lufthauch. Das Parkett war so nahtlos gelegt worden, dass es keine Lücken gab. Jenna befand sich in einem vollkommen abgedichteten Raum. In einem Grab.
Man hatte sich gut auf ihre Ankunft vorbereitet. Es würde keine Flucht möglich sein, bis Leander beschloss, sie gehen zu lassen. Falls Leander beschloss, sie gehen zu lassen.
Wenn sie dich jemals finden sollten … Lauf …
Wie sehr sie sich jetzt wünschte, auf ihre Mutter gehört zu haben. Wie hatte sie nur so töricht und unvernünftig sein können!
Er liebte sie nicht. Er vertraute ihr nicht. Er hatte ihr nicht einmal erlaubt, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen, bevor er sie unter Bewachung weggeschickt und dazu gezwungen hatte, auf ihn zu warten. Er wusste, dass er glaubte, sie stecke mit Morgan unter einer Decke und plane, die Ikati zu vernichten. Er sah sie als eine Verräterin. Inzwischen wusste sie mehr als genau, was mit jenen geschah, die sich ihrem rohen, gnadenlosen Gesetz nicht unterwarfen …
Ihr Mund fühlte sich trocken an.
Die Standuhr in der Ecke begann, die Stunde zu schlagen. Der Klang hallte unheimlich in ihren Ohren wider.
»Ich weiß, dass du nichts mit Darias Verschwinden zu tun hast«, erklärte Christian leise. Seine Worte rissen Jenna aus der Betrachtung ihres Handrückens. Er wandte ihr den Kopf zu, um sie aus halb geschlossenen Augen zu mustern. Wie er so vor den Seidenvorhängen und den grauen Wolken vor den Fenstern stand, wirkte er so kühl und unnahbar wie der Regen, der sich wieder über den smaragdgrünen Wald in der Ferne ergoss.
»Es ist nett, dass du das sagst, Christian«, antwortete Jenna ruhig. »Aber euer Rat scheint nicht der gleichen Meinung zu sein.« Ihre Stimme wurde leiser. »Und dein Bruder auch nicht.«
Leander! Oh, Leander! Wie nahe wir uns gekommen sind.
Sie konnte ihn noch immer auf ihrer Haut wahrnehmen. Sie spürte noch seinen heißen Atem in ihrem Ohr und hörte sein lustvolles Stöhnen, als er in sie eingedrungen war. Beinahe glaubte sie, die samtige Süße seiner Zunge zu schmecken, als er sie in ihren Mund geschoben hatte.
Doch all das war jetzt vorbei. Ein kleiner Wimpernschlag – nichts konnte jemals dieses Gefühl des Glücks zu ihr zurückbringen.
Christian sah sie mit undurchdringlicher Miene an. Seine Augen und sein Gesicht lagen im Schatten, während das graue Licht, das durch die Fenster fiel, seinen Kopf von hinten erhellte.
»Liebst du ihn?«, wollte er plötzlich mit einer etwas zu lauten Stimme wissen.
Diese Frage überraschte Jenna. Sie starrte ihn durch das Zimmer hinweg an, während sie auf einmal etwas verstand: Es war durchaus möglich, dass man sie noch in der nächsten Stunde als Hochverräterin hinrichten würde. Sie wollte sich jetzt also nicht als Feigling zeigen, jetzt, wenn ihr Leben vielleicht fast zu Ende war.
Sie wollte nicht lügen. Weder vor ihm noch vor sich selbst.
»Ja«, hauchte sie, wobei sie das Wort kaum aus ihrer Kehle brachte.
Er blinzelte nur und wandte sich dann wieder dem Fenster zu. Fast schien er sich in sich selbst zurückzuziehen, kleiner zu werden wie eine Flamme in einem luftleeren Raum. Er war nur noch das Phantom eines Mannes, eingesperrt in dem Zimmer einer Frau, aus dem es kein Entkommen gab.
»Wie kannst du das wissen?«, murmelte er und blickte in den regennassen Tag hinaus auf irgendeinen Punkt in der Ferne, den sie nicht sehen konnte.
Weil ich jedes Mal, wenn ich in sein Gesicht blicke, abheben könnte.
Ihr war nicht klar gewesen, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis Christian sich zu ihr wandte und sie gequält anlächelte.
»Ja«, sagte er fast regungslos. Seine Augen funkelten. »Das verstehe ich.« Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Dann wandte er sich wieder ab.
»Was wird er mit Morgan tun?« Jenna hörte ihre eigene Stimme wie in einem fernen Traum. Sie schien noch immer nicht ganz in der Wirklichkeit angekommen zu sein.
Ich liebe ihn. So wahr mir Gott helfe, ich liebe ihn.
»Man wird sie wahrscheinlich töten.«
Diese Antwort traf sie wie ein Messerstich und riss sie aus ihrem Traum. Blut schoss ihr in die Wangen. »Natürlich«, erwiderte sie kalt. »Warum auch nicht? Schließlich ist sie ersetzbar. Sie ist ja nur eine Frau.«
»Es hat nichts mit ihrem Geschlecht zu tun«, sagte Christian und sah aus dem Fenster. »Sie ist eine Verräterin, Jenna. Sie hat es selbst zugegeben. Wegen ihr sind mindestens zwei Männer ums Leben gekommen. Ich vermute, dass sie auch für die Todesfälle in unseren Schwesterkolonien verantwortlich ist. Und falls die Expurgari jetzt wissen, wo wir sind, wenn sie unsere Kolonien auf der ganzen Welt kennen … Dann befinden wir uns in größter Gefahr. Sie hat nicht nur Viscount Weymouth verraten. Sie hat uns alle verraten.«
Jenna dachte an Verrat aus Rache und daran, wie sehr Morgan diese Männer und ihre Möglichkeit gehasst haben musste, alles in ihrem Leben zu kontrollieren. Sie verstand Morgans Zorn, ihr Gefühl der Machtlosigkeit. Sie dachte an ihren Vater, dass er diesen Ort verlassen hatte, weil er nicht diejenige lieben durfte, die er lieben wollte. Als sie an Leander dachte, kehrte der Schmerz zurück, grub sich durch sie hindurch wie mit Stahlklauen und versenkte sich dann in ihr Herz. Ihre Nägel bohrten sich in ihre Handflächen, und sie war froh, dass es wehtat. Das machte die andere Pein ein wenig erträglicher.
»Ich frage mich, was du jetzt tun willst?«, unterbrach Christian ihre Überlegungen. Er hob die Hand und strich mit einem Finger langsam über eine Fensterscheibe. Eine milchig verwischte Spur blieb auf dem Glas zurück.
Sie wandte den Blick ab und richtete ihn auf ihre Hände, die ineinander verkrampft in ihrem Schoß lagen. Langsam holte sie tief seufzend Luft und öffnete die Fäuste. An den Stellen, wo sich ihre Nägel in die Haut gebohrt hatten, waren kleine rote Halbmonde zurückgeblieben.
»Du sagst das, als ob ich noch eine Wahl in der ganzen Sache hätte. Vermutlich werde ich doch in diesem Zimmer sitzen müssen, beobachtet wie ein Vogel in einem Käfig, bis der Rat beschließt, was mein Schicksal sein soll.«
Vielleicht würde man sie für immer einsperren. Vielleicht würde man sie töten und neben ihrem Vater begraben.
Oder vielleicht … Vielleicht würde man sie auch foltern.
Sie stellte sich vor, dass es Leander wäre, der sie folterte. Deutlich sah sie sein schönes Gesicht vor sich, während er sie mit harter Miene schlug, sie auspeitschte, ihre Haut verletzte und ihr Blut in den Erdboden sickern ließ.
Vielleicht werden sie auch alle in der Hölle schmoren.
Jenna unterdrückte die bitteren Tränen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen.
»Nein«, sagte Christian. Jenna blickte zu ihm auf und blinzelte, damit die Feuchtigkeit in ihren Augen verschwand. »Nein. Das geht nicht.« Er starrte sie an, wild und voll Leidenschaft. »Nicht bei dir.«
Mit einer Hand strich er sich seine dichte schwarze Mähne aus dem Gesicht, drückte die Schultern unter seinem elfenbeinfarbenen Leinenhemd durch und beugte sich dann herab, um einen kleinen Beistelltisch mit einer schweren Marmorplatte zu ergreifen, der neben ihm stand. Ohne zu zögern schleuderte er ihn durch die Fensterfront.
Ein lautes Klirren erfüllte das Zimmer.
Jenna hielt sich instinktiv die Hände vors Gesicht, als Glasscherben in jede Richtung flogen. Sie erfüllten die Luft wie tausend winzige Messerklingen. Der Staub des zerschmetterten Marmors und der kaputten Fensterrahmen wirbelte ebenfalls durch die Luft, ehe er sich auf Jennas Haaren und ihren Armen niederließ. Einen Moment lang herrschte eine unnatürlich wirkende Stille, während Jenna vor Schreck erstarrt noch immer auf ihrem Platz saß.
Vor der Tür war ein Rufen zu vernehmen. Jemand versuchte, die Klinke herunterzudrücken. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Christian hatte sie zuvor abgesperrt. Jenna starrte offenen Mundes auf die Tür und dann zu Christian. Er stand umgeben von Glasscherben und Marmorstücken, seine Arme an den Seiten herabhängend. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Doch in seinen Augen funkelte ein grünes, grimmiges Licht, das ihn seltsam entschlossen aussehen ließ.
»Leander ist der mächtigste Alpha der Ikati, Jenna.« In seiner Stimme schwangen uralte Trauer und eine solche Bedürftigkeit mit, dass es ihr kalt über den Rücken lief. »Aber du bist die Königin. Ob die anderen das anerkennen oder nicht, ob du regieren willst oder nicht …« Ein flüchtiges Lächeln der Melancholie huschte über seine Lippen. Seine Stimme klang nun weicher. »Ob du dich für den einen oder den anderen Bruder entscheidest – all das ändert nichts an den Tatsachen.«
Er zeigte mit einer Hand auf die Fenster, das große Loch in den Scheiben und die kühle Brise, die nun die Vorhänge zum Wehen brachte. Die schweren Seidenstoffe umflatterten Christians Beine. »Ich bin nie mehr als der zweite Sohn gewesen, der Zweitbeste. Doch vor allem bin ich Ikati. Ich bin an das Gesetz gebunden. Mein ganzes Leben ist davon bestimmt. Verdammt noch mal, das Gesetz ist in diesem Fall vollkommen eindeutig.«
Er holte tief Luft, und sie sah, wie seine Kiefermuskeln zuckten. »Du bist die Königin. Ich glaube Morgan, weil ich es von Anfang an gewusst habe. Man muss dich nur ansehen, dich spüren, um es zu wissen. Die anderen haben nur Angst davor, was das für sie bedeuten könnte. Aber du bist die Königin, und dein Leben gehört dir.«
Jenna holte mehrmals tief Luft, während sie noch immer schockiert blinzelte und panisch nachdachte. Sie begann allmählich zu verstehen. Sonnenstrahlen fielen auf die hellen Farben des Teppichs unter ihren Füßen. Draußen vor den Fenstern stiegen zwei Stare in die Luft und flogen im Zick-Zack wie trunken vor Glück auf den silberblauen Horizont zu.
Ohne nachzudenken, stand Jenna auf, trat zu Christian und berührte ihn an seiner unrasierten Wange. »Ich wusste, dass du ein Gentleman bist«, flüsterte sie.
Wieder lächelte er sie auf seine traurige Weise an. Wütende Faustschläge donnerten jetzt gegen die Tür. Keiner der beiden rührte sich.
»Aber ich kann nicht zulassen, dass du so etwas tust.« Sie sah ihm tief in die Augen und schüttelte dann den Kopf. »Man würde deinen Kopf fordern. Das weißt du genau.«
Er hob die Hand und drückte ihre Finger sanft an seine Wange, ohne die seinen zurückzuziehen. Dann drehte er die Nase zu ihrem Handgelenk und holte tief Luft.
»Mein Kopf …« Seine Stimme versagte ihm. »Um meinen Kopf musst du dir keine Sorgen machen.« Er schloss die Augen und presste für einen Bruchteil einer Sekunde seine Lippen auf ihre Haut. »Aber ich mach mir um den deinen große Sorgen. Bitte, geh. Schnell.«
»Jenna!«
Leanders zornige Stimme drang durch die Tür. Seine Fäuste hämmerten ununterbrochen auf das Holz. »Christian! Was ist da los? Öffne die Tür! Öffne diese gottverdammte Tür!«
»Nach Hause kannst du nicht zurück«, sagte Christian ruhig, als er den Kopf hob und sie ansah, ohne auf den donnernden Lärm im Hintergrund zu achten. »Dort wird man zuerst nach dir suchen. Geh irgendwohin, wo man dich nicht finden kann und führ dort dein Leben so, wie du es willst.«
Wieder lächelte er. Doch diesmal war sein Lächeln bittersüß, erfüllt mit Sehnsucht und Bedauern. Seine Augen aber blieben ernst. »Irgendwohin, wo es warm ist. Da würde ich jedenfalls hingehen, wenn ich könnte.« Er wandte sich dem zerbrochenen Fenster zu und blickte hinaus in die Ferne. »Irgendwohin, wo es diesen schrecklichen Nebel nicht gibt.«
»Danke, Christian«, flüsterte sie und blinzelte, da ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. »Ich danke dir.«
Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, obwohl das Hämmern an der Tür immer lauter wurde. Sie wusste, dass sie dieses Gesicht zum letzten Mal sehen würde – ein Gesicht, das so makellos und markant war wie bei jedem seiner Spezies. Es war ein Gesicht voller Qualen, die ihr beinahe das Herz brachen, ein Gesicht, an das sie sich immer erinnern würde …
… ein Gesicht wie das von Leander – dem Mann, der ihr Herz erobert und ihren Körper entflammt hatte. Dem Mann, der sie jetzt tot sehen wollte.
Als das Holz zu knirschen begann, da es dem Druck nicht länger standzuhalten vermochte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
»Geh!«, drängte Christian und trat einen Schritt zurück. Er ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Geh!«
Ohne ein weiteres Wort verwandelte sich Jenna in Nebel und stieg durch das zerbrochene Fenster in den windgepeitschten Himmel empor. In diesem Moment zersplitterte die Tür und flog auf. Fünf Männer stürzten herein.
Leander war der Erste, der seinen Fuß über die Schwelle setzte. Doch Jenna war bereits verschwunden.