7

Morgan hatte den Rodeo Drive entdeckt.

Nicht nur als Touristin, die fasziniert vom Dach eines Doppeldeckerbusses darauf heruntergestarrte. Nein, sie hatte sich mitten ins Geschehen geworfen und wie eine Einheimische benommen.

Vielleicht nicht ganz wie eine Einheimische. In Beverly Hills schien nämlich niemand zu Fuß zu gehen – außer den Touristen, während sie die vergangenen drei Tage von Valentino zu Prada, von Bulgari zu Armani, von Dior zu Tiffany gelaufen war.

Sie liebte es zu laufen. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, durch den New Forest zu streifen, die besten Plätze aus feuchter, duftender Erde und mit spektakulären Ausblicken zu finden, soweit dies die vielen Bäume zuließen. Es war ihr ein tiefes Bedürfnis, sich zu bewegen, und es fiel ihr nicht schwer, kilometerweit zu Fuß zu gehen. Sie trug ihre Einkaufstüten, während die Sonne in ihr Gesicht schien und der Wind mit ihren Haaren spielte. Was ihr schwerfiel, war in dem goldenen Käfig des Four-Season-Hotels eingesperrt zu sein.

Seit Jahren war sie schon nicht mehr so lange am Stück in ihrer menschlichen Gestalt gewesen.

Um sich also von der unangenehmen Tatsache abzulenken, dass sie ihre animalische Seite unterdrücken musste, ging sie shoppen. Ihre Einkäufe begannen, einen Großteil ihrer Suite im Hotel in Beschlag zu nehmen. Rote Pappkartons, große schwarze Tüten, aus denen türkisfarbenes Seidenpapier ragte, schlichte weiße Päckchen mit den Logos der teuersten Boutiquen. Und dann diese perfekten, hübschen puderblauen Boxen mit den weißen Schleifen. Ihre Lieblinge.

Sie konnte es kaum erwarten, alles noch einmal anzuprobieren.

Die Tatsache, dass alles mit der Kreditkarte bezahlt worden war, die Leander ihr gegeben hatte – nur für Notfälle, Morgan –, machte das Ganze noch befriedigender. Anscheinend hatte seine kleine, schwarze Karte kein Limit.

Morgan stand barfuß auf dem weichen, karamellfarbenen Teppich und betrachtete ihre Schätze. Sie war ziemlich zufrieden. Wieder hatte sie sich von dem herrlichen kleinen französischen Café am anderen Ende der Straße ein Frühstück kommen lassen – ein weiterer Luxus, den sie der schwarzen Karte verdankte. Die Überreste eines Omeletts aus Speck, Gruyère und Apfel standen noch auf dem Esstisch neben einer Kanne heißen Kaffees und einigen Stücken Gebäck.

Wahrscheinlich würde sie es nicht auf den Balkon schaffen, selbst wenn sie es wollte. Die Schiebetür war hinter einem Stapel von Ralph-Lauren-Schachteln verborgen, die kinnhoch gestapelt waren. Einen Moment lang fragte sie sich, wie sie das alles nach Sommerley zurückbringen sollte. Doch dann zuckte sie mit den Schultern und stemmte die Arme in die Hüften. Leander würde schon eine Lösung für sie finden. Das tat er immer.

Er war der Alpha. Das war sein Job.

Sie begann, vergnügt zu lächeln.

In genau dieser Verfassung fand Leander sie vor, als er zur Tür hereinstürzte. »Ich brauche dich«, fuhr er sie ohne Umschweife an. Ein Stapel Päckchen, der auf dem Tisch im Foyer stand, fiel um, als Leander an ihm vorbeirauschte. Eine Hermès-Handtasche aus Krokodilleder, die viertausend Dollar gekostet hatte, fiel auf den weißen Marmorboden.

»Schon mal etwas von Klopfen gehört?«, beschwerte sich Morgan und warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»In meine Suite. Sofort.«

Er wirkte so angespannt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Normalerweise bewegte er sich mit einer Eleganz, die sowohl anmutig als auch gefährlich wirkte. Doch jetzt war er sichtlich aufgewühlt. Er war nervös, grimmig und unrasiert. Morgan schürzte also nur die Lippen und schluckte ihre Empörung herunter.

»Was ist los?« Ohne ihr zu antworten, riss er die Tür wieder auf und verschwand. Seine Haare, die sich rabenschwarz gegen sein zerknittertes, weißes Seidenhemd abhoben, hingen lose über seine Schultern.

Morgan seufzte und wandte ein letztes Mal mit einem gewissen Bedauern den Blick auf die Stapel teurer, unnützer Dinge. Offenbar konnte sie ihren Plan an diesem Morgen nicht in die Tat umsetzen.

Noch einmal alles anprobieren musste warten.

Leander hatte Jenna die ganze Nacht über beobachtet. Regungslos und stumm hatte er in ihrem Schlafzimmer gesessen, während sie schlief – jederzeit bereit, sich in Nebel aufzulösen, falls sie aufwachte. Er suchte nach Anzeichen dafür, dass sie sich vielleicht doch nicht so gut fühlte, wie sie das dem Notarzt versichert hatte.

Man hatte diesen nach dem Erdbeben zum Mélisse gerufen. Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten waren in der ganzen Stadt im Einsatz, um die Verwundeten zu versorgen. Meist handelte es sich nur um kleine Blessuren – Schnitte von herabgefallenem Glas, Kratzer von Stürzen, Prellungen und ein paar Fälle von Schock bei den älteren Bewohnern.

Offenbar waren keine Gebäude eingestürzt, obwohl einige Häuser – wie das, in dem sich das Mélisse befand – zerbrochene Fensterscheiben und Risse in der Fassade aufwiesen. Man erklärte Leander, dass es sich um eines der weniger schlimmen Erdbeben gehandelt hatte, die in den letzten Jahren Los Angeles heimgesucht hatten.

Ganz gleich, wie schwach das Erdbeben auch gewesen sein mochte – für ihn bedeutete es eine große Aufregung.

Beim ersten Stoß tief im Inneren der Erde war Jenna halb bewusstlos an ihm herabgesackt. Sein Herz war vor Schreck fast stehen geblieben, während seine animalischen Instinkte übernahmen.

Er nahm sie in seine Arme – ihre Knie hingen über seinem linken Unterarm, während ihr Kopf über seinem rechten herabbaumelte – und eilte mit ihr durch die Hintertür des Restaurants auf die Terrasse hinaus. Dort war es menschenleer. Es war ein sicherer Ort, in Dunkelheit gehüllt, und es bestand keine Gefahr, dass sie etwas treffen würde, das von oben herabfiel.

Leander stand umgeben von Zypressen und Eichen zitternd unter dem dunklen Himmel und drückte Jenna an sich.

Die Äste der Bäume schwankten heftig, während die Gebäude in ihrer Nähe unheimlich ächzten. Sie wurden bis in ihre Grundfesten erschüttert, als die Erde, einer lebenden Kreatur gleich, erbebte. Sein Magen verkrampfte sich.

Wenn es Jenna nicht gegeben hätte, die völlig regungslos in seinen Armen lag, hätte er sich nun in einen Panther verwandelt und wäre auf den nächsten Baum geklettert, um dort wütend den Wahnsinn unter sich anzufauchen.

Ihr Gesicht sah im Mondschein sehr klar aus – bleich und schön wie aus Marmor. Ihre langen Wimpern schienen ein dunkler Strich auf den perfekten Wangen aus Elfenbein zu sein. Er wusste, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war, obwohl sie die Augen geschlossen hielt und ihr Atem flach ging. Er wusste es, weil sie eine Hand fest an seine Brust drückte.

Die Hitze ihrer Finger brannte sich durch den Stoff seines Hemds.

Ihm war nicht klar, ob sie Sicherheit im regelmäßigen Schlag seines Herzens suchte oder nicht wollte, dass er ihr näherkam. Vermochte sie zu spüren, wie sehr er sich danach sehnte, sie auf die Stirn zu küssen, auf die Haare, auf die Wangen?

Er wollte sie überall mit den Lippen berühren, selbst als der Boden unter seinen Füßen noch mehr schwankte.

Als das Erdbeben aufhörte und sich die Welt wieder einigermaßen normal zu benehmen schien, öffnete Jenna die Augen und sah fragend zu ihm auf. Der Lärm von Hunderten Alarmanlagen erfüllte die Nachtluft und schien wie ein Requiem über der Stadt zu ertönen. Hinzu kamen panische Rufe und Schreie aus dem Restaurant hinter ihnen.

»Ich habe es gespürt«, flüsterte sie zu ihm hoch. Ihre Stimme klang zaghaft. Jetzt hielt sie sich an seinem Hemd fest. »Ich habe es in meinen Knochen gespürt, ich habe es gerochen, ich habe es geschmeckt.«

In diesem Moment verstand Leander, dass der Rat die Antwort auf seine Frage erhalten hatte.

Und er ebenfalls.

Er ließ sie sanft auf eine Chaiselounge nieder, flüsterte ihr einige beruhigende Worte ins Ohr und ließ sie dann für einen kurzen Moment allein, um im Inneren des Restaurants zu telefonieren. Drinnen war ein leichtes Chaos ausgebrochen, das Geoffrey überhaupt nicht im Griff hatte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, abwechselnd zu brüllen, hysterisch in der Luft herumzufuchteln und zu hyperventilieren. Die Sanitäter trafen wenige Minuten später ein und übernahmen das Kommando. Leander bestand darauf, dass man Jenna als eine der Ersten untersuchte, aber bei ihr schien alles in Ordnung zu sein. Sie war zwar ziemlich durcheinander, fühlte sich aber fit und unverletzt. Man riet ihr, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen. Dann wandten die Sanitäter ihre Aufmerksamkeit den anderen Anwesenden zu.

Sie wich ein paar Schritte zurück, als er zu ihr trat, und sah ihn an, als ob sie auf einmal ein schreckliches Geheimnis kennen würde – sein Geheimnis. Dann verschwand sie wie ein Geist in der Nacht, ehe er noch etwas zu ihr sagen oder sie aufhalten konnte.

Sie war unglaublich schnell. Sie konnte noch schneller rennen als er, obwohl er der Schnellste und Stärkste der ganzen Kolonien war. Er war schneller als jedes andere Raubtier auf der Erde.

Außer offensichtlich ihr.

Auch darauf war er nicht vorbereitet gewesen.

Als er ihre Spur an einer dunklen Ecke vor einer Bank in der Second Street verlor und nur noch einen Hauch ihres Parfüms wahrnahm, wenn er all seine Sinne öffnete – ein Parfüm, vermischt mit erhitzter, salziger Luft wie eine Erinnerung an etwas beinahe Vergessenes –, drehte er fast durch.

Ihr einziger Zufluchtsort, den er kannte, war ihre Wohnung. Es war auch der einzige Ort, an dem es sinnvoll war, auf sie zu warten. Er gab sich die größte Mühe, nicht entdeckt zu werden. Vorsichtig zog er seine Kleider hinter einer stinkenden Mülltonne in einer Gasse aus und verwandelte sich. Er ließ den handgenähten, italienischen Anzug zurück, als ob es sich um Innereien handeln würde, und wurde zu einem feinen Nebel, der vor den Mauern ihres Apartmentblocks schwebte.

Stundenlang verweilte er in der warmen Abendluft und breitete sich so dünn aus, dass es beinahe unangenehm wurde. Er befürchtete, dass ein stärkerer Windstoß ihn zerreißen könnte. Zum Glück war es nicht kalt. Wenn er so sterben würde, blieben nicht einmal irgendwelche Knochen von ihm übrig.

Die Nacht war trocken, obwohl sie sich am Meer befanden. Das Klima in Los Angeles war insgesamt viel trockener als das in England. Er musste nicht atmen, als er so durchsichtig und körperlos wie Rauch dahinwaberte, und er spürte auch seinen Herzschlag nicht mehr, ebenso wenig wie das Rauschen des Bluts in seinen Adern. Die Empfindungen und die Bedürfnisse seines Körpers hatten sich aufgelöst. Er fühlte sich friedlich. Ruhig.

Wenn da nicht seine Gedanken gewesen wären.

Leander stellte sich vor, wie Jenna verloren durch die Straßen irrte und von Drogensüchtigen, Vergewaltigern oder Bandenmitgliedern angegriffen wurde. Je länger er wartete, desto schrecklicher wurden seine Fantasien. Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er sich. Wenn er die Gabe der Weitsicht gehabt hätte, würde er jetzt wissen, wo er sie suchen müsste. Er hätte sie beschützen können.

Er hätte irgendetwas tun können.

Endlich kam sie durch die Stille der frühen Morgenstunden auf ihr Haus zugestolpert. Sie wirkte wie ein Zombie, der gerade erst von den Toten erwacht war: mitgenommen und erschöpft, bleich, starr und mit geweiteten Augen. Ihr elegant geschnittenes Kleid war zerknittert und machte den Anschein, als ob sie in ihrem Auto geschlafen hätte oder gestürzt wäre. Mehrmals hintereinander.

Ihr Anblick half nicht, Leander zu beruhigen.

Er glitt die Mauer des alten Gebäudes herab, vorbei an Rissen und Unebenheiten, an dunklen Fensterscheiben, durch Efeu und Hibiskusblüten, bis er schließlich zu ihrem Schlafzimmer kam.

Dort legte er sich als grauer Nebel auf das Fensterbrett und wartete.

Jenna betrat durch den schwach erleuchteten Flur von der Küche aus das Zimmer. Sie wirkte wie ein Gespenst, das auf einmal sichtbar geworden war, und bewegte sich so langsam, als ob sie unter Drogen stünde. Sie hatte die Hände leicht ausgestreckt, da sie sich nicht zuzutrauen schien, ohne ihre Hilfe den Weg ins Bett zu finden. Sie machte kein Licht an. Einen Moment lang stand sie auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer, die Hand auf dem Türknauf, und sah sich um. Stumm blickte sie auf ihr Bett, den kleinen Schreibtisch in der Ecke, auf dem eine Lampe und ein gerahmtes Foto standen, auf die halb offene Schranktür sowie die Schuhe, die sie Stunden zuvor erst an- und dann wieder ausgezogen hatte, und die nun noch auf dem Teppich vor ihrem Bett lagen.

Schließlich fuhr sie sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht, strich die Haare glatt und fasste hinter sich, um ihr Kleid zu öffnen.

Leander schwebte vom Fensterbrett und ließ sich auf einem Bett aus Minze vor ihrem Schlafzimmer nieder. Die duftenden, samtigen Blätter des Strauchs berührten ihn sanft, fast zärtlich. Er wollte Jenna nicht dabei zusehen, wie sie sich auszog und ins Bett legte, auch wenn es ihm sehr schwerfiel, nicht auf der Stelle das Apartment zu stürmen und sie nach Sommerley mitzunehmen. Wie gern hätte er sie dorthin gebracht, in ihr, wie er jetzt sicher wusste, wahres Zuhause.

Sie sah so verloren aus. So verängstigt. So … verletzlich.

Du bist der Alpha, sie ist eine Ikati. Lass sie nicht im Stich.

Das Bedürfnis, sie zu beschützen, wallte unerwartet und heftig in ihm auf. Gnadenlos.

Ähnliches war schon früher einmal geschehen. Es gab Schutzmaßnahmen für solche Situationen, Sicherheitsvorkehrungen, die sie einbinden würden, Vorschriften im Gesetz. Er könnte sie zurückbringen und dort sicher verwahren.

Jeder Nerv in seinem Körper drängte danach, sie auf der Stelle mitzunehmen. Doch er hielt sich noch zurück und wartete.

Nachdem er durch den bereits vertrauten Riss über dem Badezimmerfenster in ihre Wohnung eingedrungen war, verwandelte er sich wieder in einen Mann und bewachte ihren Schlaf. Er wollte ganz sicher sein, dass ihr nichts passierte und dass sie nicht erneut von Angst ergriffen würde. Er beobachtete sie, weil er bei ihr sein wollte, falls sie ihn brauchte. Die Arme zur Seite ausgestreckt, die Haare auf dem ganzen Kissen verteilt, schlief Jenna ruhelos und voller Anspannung. Sie warf sich auf der Matratze herum, als ob sie in einem wilden Meer schwamm und versuchte, nicht unterzugehen.

Erst als sie schließlich am späten Vormittag begann, zu sich zu kommen – die Sonne schien bereits safrangelb durch die Vorhänge –, war es ihm möglich, sie zu verlassen und zum Hotel zurückzukehren.

»Es stimmt also«, sagte Christian leise. »Die kleine Streunerin kann sich verwandeln. Wer hätte das gedacht?«

Christian saß auf dem Sofa der Präsidenten-Suite und beobachtete Leander. Dieser hatte es sich in einem Sessel ihm gegenüber bequem gemacht. Christians Augen waren unnatürlich hell. Er wirkte angespannt und grimmig, und in seiner Stimme schwang etwas Ungewöhnliches mit, eine unklare Emotion, die Leander noch nie bei seinem Bruder erlebt hatte. Etwas an seinem Verhalten verunsicherte Leander und ließ ihn vorsichtig sein. Warum interessierte es Christian, ob Jenna sich verwandeln konnte oder nicht?

»Wenn sie ein Erdbeben spürt, den Hauch eines jahrzehntealten Feuers in einem Glas Wein wahrnimmt und schneller ist als ich, dann muss sie sich verwandeln können. Vielleicht«, fügte Leander hinzu und beobachtete dabei Christians Miene, »stellt sie sich als die Talentierteste von uns allen heraus.«

Leander hielt den Blick auf Christian gerichtet, während dieser aufstand und zu der großen Fensterfront der Suite trat. Er fuhr sich mit einer Hand durch die dichten Haare.

»Verdammt«, murmelte Christian. Sonst sagte er nichts.

»Du wirkst … Du wirkst irgendwie verstört, Bruder.«

Christian sah ihn an. Einer seiner Kiefermuskeln zuckte. »Wir haben die in Freiheit geborene, halb menschliche, wunderschöne Tochter des mächtigsten Alpha unserer Spezies gefunden, und du erklärst mir, dass sie sich wahrscheinlich nicht nur verwandeln kann, sondern möglicherweise begabter als wir alle zusammen ist. Stimmt. Ich bin verstört. Ich bin eindeutig verstört.«

Leander zog eine Augenbraue hoch. »Wunderschön?«

Die Brüder sahen sich den Bruchteil einer Sekunde länger an, als es Leander lieb war. Dann wandte sich Christian mit einem Schulterzucken ab. »Es geht mich vermutlich nichts an«, murmelte er, während er auf Los Angeles heruntersah. »Die Zweitgeborenen haben nie die erste Wahl.«

»Willkommen im Klub«, sagte Morgan hinter den beiden. Sie hatte gerade den Raum betreten. »Wie würde es euch gefallen, wenn ihr niemals die Wahl hättet, weil sich zwischen euren Beinen zufälligerweise nun mal kein Penis befindet?«

»Nun hör aber auf, Morgan«, fuhr Leander sie an. Er verlor allmählich die Geduld. Wütend musterte er die Neuhinzugekommene. »Es reicht. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir Jenna nach Sommerley bringen, ehe sie wieder flieht. Ehe sie sich zum ersten Mal verwandelt. Es muss noch heute geschehen. Am besten gleich.«

»Nein!« Morgan stemmte die Arme in die Hüften und starrte ihn trotzig an.

Sie stand mitten in der elegant möblierten Suite und trug ein Kleid, das Leander noch nie zuvor gesehen hatte. Es bestand vor allem aus Luft – ein zarter Hauch von schwarzer Seide bis zu ihren Knien mit einem ausgestanzten Rautenmuster. Man sah ihre perfekt gebräunte Haut und die festen Bauchmuskeln darunter. Leander kniff die Augen zusammen und fragte sich, wie viel ihn dieser Fetzen wohl gekostet hatte.

Und waren das etwa Python-Pumps an ihren Füßen?

»Kommt gar nicht infrage! Uns bleiben noch ein paar Tage, bis sie Geburtstag hat. Es gibt keinen Grund, das Ganze zu beschleunigen!«

»Wir sind hier nicht im Urlaub, Morgan! Wir sind nicht hierhergekommen, um uns zu entspannen, die Sehenswürdigkeiten anzusehen oder zu shoppen.«

»Du hast es leicht!«, fuhr ihn Morgan an. Ihre Augen funkelten grün und kalt. »Du konntest immer kommen und gehen, wie es dir gefällt. Du bist nicht dein ganzes Leben lang eingesperrt gewesen und musstest darauf warten, eines Tages vielleicht zu entkommen, darauf hoffend …«

»Worauf hoffend?«, hakte Leander mit einer auffallend ruhigen Stimme nach.

Sie starrten einander wütend an.

»Wenn du wirklich glaubst, dass das Leben eines Alpha besser ist als das deine, einfacher als das deine, dann liegst du leider völlig falsch, Morgan.«

Trotz seiner Privilegien und des vielen Geldes, trotz der Macht, die seine Position in der Kolonie mit sich brachte, wünschte er sich oft insgeheim, die Rolle des Alpha würde einem anderen zufallen.

Er allein war der Anführer. Er allein hielt das Schicksal aller in seinen Händen. Diese Art von Leben war keineswegs so, wie Morgan sich das vorstellte: ein automatischer Garant für Glück und Zufriedenheit. Nein, es war ein Fluch.

Morgan hob trotzig das Kinn. »Und was schlägst du dann vor? Was sollen wir machen?«, fragte sie mit eisiger Stimme. Sie verschränkte die Arme über der Brust und klopfte ungeduldig mit einem Fuß auf den dicken Teppichboden. »Ich könnte ihr einflüstern, damit sie mit uns kommt. Aber das hält nur einige Stunden lang an. Sehr weit bringt uns das nicht. Wie sollen wir es schaffen, sie nach Sommerley zu bringen? Wollen wir sie etwa entführen?«

»Ich finde, wir sollten ihr die Wahrheit sagen«, erklärte Christian, der immer noch am Fenster stand. »Sie weiß doch bestimmt, dass sie anders ist. Wie wäre es, wenn wir uns vor ihr verwandeln und ihr dann mitteilen, dass sie eine von uns ist?«

»Und dann?«, fuhr Morgan ihn an und warf ihm einen frostigen Blick zu. »Sollen wir ihr einen Sack über den Kopf werfen und sie überwältigen, während sie versucht, sich zu befreien und davonzulaufen?«

Christian fuhr sich erneut durch seine dichten, schwarzen Haare und brachte sie in Unordnung. »Nein. Aber wir könnten ihr ein Schlafmittel geben.«

»Das war sarkastisch gemeint, Christian«, wies ihn Morgan mit einem genervten Seufzer hin. »Wir können sie nicht mit Gewalt zwingen, sie ist schließlich nicht einfach nur irgendeine …«

Leander klammerte sich mit einer solchen Heftigkeit an die geschnitzten Armlehnen seines Sessels, dass das Holz unter seinen Händen splitterte. Morgan und Christian verstummten und sahen ihn überrascht an.

»Wenn ihr beide bei der Ratssitzung aufgepasst hättet, dann würdet ihr wissen, wie es jetzt weitergeht«, fauchte er wütend. »Wir suchen sie auf. Wir werden sie mit deiner Gabe der Einflüsterung überwältigen, Morgan. Dann werden wir …« Das Telefon klingelte. Leander holte tief Luft, ließ die Armlehnen des Sessels los, stand mit steifen Gliedern auf und trat zum Schreibtisch. Dort riss er den Hörer von der Basisstation.

»Ja?«, fragte er kurz angebunden.

»Was machen schon ein paar Tage hin oder her aus?«, fragte Morgan leise. Sie versuchte, Christian auf ihre Seite zu ziehen.

Er reckte sich, wobei er seine langen Arme ausstreckte und dann beide Handflächen gegen die Scheibe drückte. Konzentriert blickte er auf die Stadt unter ihm. »Stimmt«, murmelte er so leise, dass man fast glauben könnte, er spräche mit sich selbst. »Wir sollten noch hierbleiben und … Wir sollten sie besser kennenlernen, ehe wir sie mitnehmen. Bevor wir für sie entscheiden, was wahrscheinlich das Beste für sie ist.«

»Was?«, entgegnete Morgan. »Was soll das heißen?«

Er antwortete nicht. Die deutlich sichtbare Anspannung in seinen Schultern signalisierte ihr, dass er nicht in der Stimmung war, sich weiter mit ihr zu unterhalten.

Sie ließ die Arme sinken. Die zarten Armbänder aus Rubinen, die um ihr rechtes Handgelenk gewickelt waren, funkelten rot. Sie warf ihre langen, schimmernden Locken zurück und blickte auf den kaputten Sessel, auf dem Leander gesessen hatte. »Wenn sie nicht zu Hause ist«, fuhr sie fort, »was sollen wir dann tun? Stundenlang vor ihrer Wohnungstür abhängen und darauf warten, dass sie hoffentlich auftaucht? Wäre das nicht verdammt auffällig? Oder sollen wir versuchen, sie ausfindig zu machen?«

»Wir müssen sie nicht ausfindig machen«, unterbrach sie Leander mit ruhiger Stimme. Er stellte das Telefon auf die Basisstation zurück. Dann sah er die beiden mit einem seltsamen Ausdruck an – fast so, als ob er gerade etwas ausgesprochen Faszinierendes in Erfahrung gebracht hätte.

»Sie hat uns gefunden. Das war gerade die Rezeption. Sie ist unten in der Lobby.«