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Der Champagner half nicht wirklich, ihr Kopfweh zu vertreiben. Auch wenn es sich um einen edlen 1996er Louis Roederer handelte.
Der feine Geschmack von Mandeln, Haselnüssen und weißen Blüten umfing beim ersten Schluck ihre Geschmacksnerven, um dann von einer cremig seidenen Note abgelöst zu werden, die an die sündige Dekadenz einer buttrigen Brioche erinnerte. Eine Mischung aus Stroh, Zitrus, hellem Toast und Mais mit Butter traf ihren Gaumen, sodass sie vor Vergnügen beinahe aufstöhnte.
Das ist wie ein Orgasmus für die Zunge, dachte Jenna, während sie schluckte.
Der Champagner kostete mehr als vierhundert Dollar pro Flasche.
Es war ein Geschenk ihrer dreimal geschiedenen Nachbarin, Mrs. Colfax. Sie waren mehr als bloße Bekannte, wenn auch nicht echte Freunde, da keine der beiden jemals persönliche Dinge über sich erzählte. Genau das gefiel ihnen auch an ihrer Bekanntschaft. Jenna vermutete, dass Mrs. Colfax so manche Leiche im Keller hatte, von der sie lieber nicht sprach. Aber das war kein Problem.
Sie betrachtete die sinnlich blassgoldene Flüssigkeit, die sie in dem eleganten Waterford-Glas schwenkte – ein weiteres Geschenk von Mrs. Colfax –, ehe sie frustriert aufseufzte.
Was heute geschehen war, war auf unheimliche Weise ausgesprochen verstörend gewesen, obwohl sie sich inzwischen fast selbst davon überzeugt hatte, das Ganze nur fantasiert zu haben. Das Schaumbad half, wenn auch nur, um die angespannten Muskeln in ihrem Nacken wieder zu lockern. Mental blieb sie so nervös wie zuvor, und auch ihre Haut schien noch immer unter Strom zu stehen.
Ein Strom, der jedes Mal stärker wurde, wenn sie sich gestattete, an ihn zu denken.
Dennoch schaffte sie es nicht, sein Bild vor ihrem inneren Auge ganz zu verdrängen. Das Bild dieses Fremden mit den schimmernden schwarzen Haaren, dem Gesicht eines Engels von Botticelli und den Augen eines hungrigen Wolfs.
Etwas an ihm kam ihr so vertraut vor. Obwohl sie nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen hatte, ehe sie das Bewusstsein verlor, hatte sie doch etwas unter ihrer Haut gespürt, als würde ein verborgenes Raubtier Muskeln und Sehnen unter seinem Blick anspannen, um dann an die Oberfläche zu kommen.
Genau in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, hatte sie sich gefühlt wie ein Tier, das erwachte …
Jenna streckte die Beine aus und krümmte die Zehen über den Badewannenrand, ehe sie tief Luft holte und die Augen schloss. Sie blendete das von Kerzenlicht erleuchtete Badezimmer mit seinem Schminktisch und der Marmorablage sowie der Duschkabine völlig aus. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an sein Gesicht loszuwerden, das noch immer leuchtend wie ein Stern vor ihr stand.
Er war nur ein Fremder auf der Straße gewesen. Die seltsame elektrische Spannung konnte nicht von ihm stammen. Hatte sie vielleicht einen Hitzschlag erlitten? Sie kaute auf der Unterlippe und überlegte. Die Symptome wären die gleichen gewesen: Schwindel, ein heftig pochendes Herz, Schweißausbrüche, Ohnmacht.
Doch Hitze machte ihr normalerweise nichts aus. Sie wurde nie krank oder fiel in Ohnmacht oder fühlte sich schwindlig. Sie hatte bisher noch nicht einmal ein Loch in einem Zahn gehabt, verdammt noch mal!
Also tat sie das, was sie immer tat, wenn sie etwas nicht verstand: Sie schob es beiseite. Langsam glitt sie tiefer in das warme, duftende Wasser und überlegte stattdessen, wo sie von jetzt an ihre Lebensmittel besorgen wollte.
Das Bad war das einzige Zimmer in ihrem winzigen Apartment, in das sie etwas Geld investiert hatte. Und sie hatte es nie bereut. Nur die Rohrleitungen, dachte sie, als etwas kaltes Wasser aus dem Hahn über ihren linken Zeh floss. Sie musste mit Saul dringend über die Leitungen sprechen.
Das Gebäude war etwas über fünfzig Jahre alt und in einem schlecht nachgeahmten Art-déco-Stil gebaut. Ihr Vermieter Saul nannte das den »Charakter« des Hauses. Die Wasserhähne tropften, die Toilette lief nach, die Küchenschränke knarzten, und die Wände waren so dünn wie Papier. Sie wusste inzwischen genau über die Probleme ihrer Nachbarn Bescheid.
Dennoch mochte sie es hier. Es war ihr Zuhause – ein Heim, das sie dringend benötigt hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war.
Der frühe Tod ihrer Mutter war kein Schock gewesen. Niemand überlebte lange, wenn er so viel Alkohol trank, wie sie das getan hatte. Aber ihr Tod hatte Jenna im Alter von achtzehn Jahren allein zurückgelassen. Sie hatte niemanden, keine Freunde, keine Familie. Nachdem ihr Vater verschwunden war, als sie zehn war, hatte ihre Mutter sich strikt geweigert, auch nur seinen Namen auszusprechen.
Jenna konnte sich nur noch vage an ihn erinnern. Er war groß und dunkel gewesen, attraktiv, ernst, geheimnisvoll. Vor allem die Erinnerung an seinen Geruch hatte sich ihr eingebrannt. Ganz gleich, zu welcher Tageszeit– er hatte stets den kühlen Duft der Nacht auf der Haut getragen.
Ihre Mutter hatte keine Geschwister gehabt, und ihre Großeltern waren schon lange tot … Es gab niemanden mehr.
College stand nicht zur Debatte. Ihre Mutter hatte ihr kein Geld hinterlassen, nichts außer einem verschuldeten kleinen Bungalow im Valley und einigen Schmuckstücken und Möbeln, die sie in einem Trödelladen erworben hatte. Jenna verkaufte alles und nutzte das wenige Geld, das ihr blieb, als Kaution für das Apartment, in dem sie jetzt lebte. Sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, und sie wusste, dass sie alleine überleben würde. Nach dem Chaos ihrer Kindheit und all den unbeantworteten Fragen, warum sie so anders war, gab es nichts, vor dem sie sich gestattete, Angst zu haben.
Außer vielleicht vor dem, was heute passiert war. Worüber sie aber nicht mehr nachdenken wollte.
»Hallo, Jenna! Ich bin es, deine gute Fee!«
Jenna lächelte und öffnete die Augen, als sie die trällernde Stimme ihrer Nachbarin Mrs. Colfax hörte, die durch die offene Terrassentür zu ihr herein rief.
»Hier bin ich!«, erwiderte Jenna und stemmte sich aus der Badewanne. Seifenblasen glitten träge ihren nackten Körper hinunter. Sie stellte das Glas mit Champagner auf der Marmorplatte ab und wickelte sich in ein weißes, dickes Frotteehandtuch.
Es wurde zweimal an die Badezimmertür geklopft, und dann zeigte sich der elegant frisierte blonde Kopf von Mrs. Colfax in der Tür.
»Du nimmst ein Bad? Bei der Hitze? Meine Liebe, bist du verrückt?«, fragte Mrs. Colfax und zog eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen nach oben.
In ihrer Jugend war sie eine Schauspielerin gewesen, die sich als schön, aber nicht sonderlich talentiert erwiesen hatte. Noch jetzt konnte man die Sprecherziehung und das Melodramatische in ihrer Stimme erkennen.
»So genau lässt sich das nicht sagen«, erwiderte Jenna. Sie zeigte auf den Champagner. »Aber ich habe Kopfweh und dachte, dass ein Bad und etwas Champagner helfen könnten.«
»Ah, verstehe«, sagte Mrs. Colfax und öffnete die Tür ganz, um das Badezimmer ganz mit ihrer überbordenden Persönlichkeit zu erfüllen.
Sie trug eines ihrer typischen Chanel-Kostüme – diesmal in Taubenblau –, Valentino-Pumps, eine doppelte Perlenkette sowie ein französisches Parfüm, das nach seltenen Orchideen und Sex roch und dreihundert Dollar die Flasche kostete. Sie hatte eine Reihe reicher Männer verführt, geheiratet und sich dann scheiden lassen. Stets war es ihr gelungen, das Beste aus den Kerlen und ihrem Geld zu machen. Sie wohnte in einer großen, modernen Villa neben Jenna, deren winziger Apartmentkomplex daneben wie ein Spielzeughaus aussah.
»Champagner wirkt wahre Wunder, wenn man ihn braucht. Sowohl für das Glück als auch für die Gesundheit«, meinte Mrs. Colfax. »Es freut mich zu sehen, dass dir allmählich auch etwas anderes schmeckt als die schreckliche Milch, die du so gerne trinkst.«
Jenna nahm sich ein weiteres Handtuch, um es sich um den Kopf zu wickeln. »Dir ist schon klar, dass es einen Grund gibt, dass Milch als gesund gilt, oder? Außerdem ist sie günstiger als Champagner. Vor allem als der, den du trinkst.«
»Geld für französischen Champagner zu haben ist wesentlich wichtiger als Geld für die Miete. Das solltest du nicht vergessen, meine Liebe«, gab Mrs. Colfax zurück. »Übrigens habe ich von Boa ein Filet zum Abendessen bestellt, meine Gute. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. An deinem Geburtstag nächstes Wochenende werde ich in New York sein und dachte, dass wir heute Abend schon feiern können. Du musst doch nicht arbeiten?«
Filet Mignon, dachte Jenna. Der Himmel auf einem Teller.
Sie dachte voll Bedauern an das Steak, das sie an diesem Nachmittag an der Kasse zurückgelassen hatte. Nur ein T-Bone-Steak war besser. Oder ein kurz gegrilltes Bürgermeisterstück. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte noch nie begriffen, wie man Vegetarier sein konnte.
»Du weißt doch, dass ich einem Filet nie widerstehen kann.« Sie beugte sich nach vorn, um ihre langen Haare in das Handtuch zu wickeln, das sie dann einmal drehte. Sie richtete sich wieder auf. »Was gibt es in New York?«
Mrs. Colfax lächelte sie verschmitzt an und zwinkerte ihr dann zu. »Ach, nur einen gewissen Gentleman. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, meine Liebe.«
Jenna erwiderte das Lächeln. Sie war zufrieden. Zumindest in dieser Hinsicht schien alles beim Alten zu bleiben, selbst wenn sich sonst alles so merkwürdig veränderte.
Es klingelte an der Tür. Mrs. Colfax drehte sich um und warf einen Blick durch die Badezimmertür auf die Terrasse hinaus, die nur sechs Meter entfernt war. »Ah! Das Filet!« Klappernd verließ sie das Bad auf ihren hohen Absätzen, und Jenna schloss die Tür hinter ihr, sodass sie sich in Ruhe abtrocknen und anziehen konnte. Zwei Minuten später wurde sie gerufen.
»Komm schon, Prinzessin. Wir wollen nicht, dass es kalt wird.«
Jenna kam aus dem Bad und setzte sich an den Tisch, wo Mrs. Colfax das Filet zusammen mit perfekt gegartem Spargel und einem Berg Kartoffelbrei mit Knoblauch für sie aufgetischt hatte. Sie warf die leeren Behälter auf die Granittheke hinter dem Esstisch und setzte sich. Nachdem sie zwei weitere Gläser mit Champagner gefüllt hatte, hob sie eines davon, um Jenna zuzuprosten.
»Auf meine lieben Freundin Jenna, die so tragisch allein, grauenvoll überarbeitet und schrecklich unterbezahlt ist. Sie verdient wirklich mehr vom Leben als das, was sie hat.« Damit legte sie den Kopf zurück und trank den Champagner in einem langen Zug aus. Dann stellte sie das Glas mit einer eleganten Geste ihrer schlanken, langgliedrigen Hand auf den Tisch.
Jenna starrte sie an.
Mrs. Colfax zog eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen hoch. »Was ist los, meine Liebe?«
»Das soll mein Geburtstagstoast sein? Ernsthaft?«
»Oh, je. Da hat einiges gefehlt, nicht wahr?«, erwiderte sie völlig ungerührt. »Soll ich es noch einmal versuchen?« Sie schnitt ihr Filet, nahm einen kleinen Bissen in den Mund und kaute, während sie Jenna ansah, als ob sie darauf warten würde, dass diese sie unterhielt.
»Du bist unmöglich«, sagte Jenna und lachte. Sie füllte Mrs. Colfax’ Glas und nahm dann ihr eigenes in die Hand.
Mit einem Anflug von Traurigkeit dachte sie an ihre Mutter und den Wunsch, auf den diese jedes Jahr an Jennas Geburtstag angestoßen hatte. Sie hob ihr Glas und schluckte den Frosch hinunter, der plötzlich in ihrem Hals war. Der ist für dich, Mom.
»Das Leben ist eine Qual, und jeder stirbt, aber wahre Liebe lebt ewig.«
Mrs. Colfax schürzte die Lippen. »Oh. Wie aufbauend. Und bitte sag jetzt nicht, dass du diesen Quatsch glaubst, meine Liebe. Die Idee wahrer Liebe ist eine der größten Selbsttäuschungen, die sich das weibliche Geschlecht jemals ausgedacht hat. Sie ist genauso lächerlich wie die Behauptung, Geld könne kein Glück kaufen und Größe wäre unwichtig. Jetzt iss dein Fleisch. Und behaupte bitte nicht, dass es zu lange gebraten ist. Ich bin mir sicher, dass sie es genau so gemacht haben, wie du es magst: blutig.«
Stunden später – nach dem Essen und dem Abwasch war Mrs. Colfax in ihrer Villa verschwunden – lag Jenna im Bett und starrte zu den Schatten hinauf, die über die Decke wanderten. Sie dachte an Liebe und Tod und Selbsttäuschung – und an zwei grüne, leuchtende Augen.
Mit diesem Bild vor Augen schlief sie ein.