8

Jenna erinnerte sich genau an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte.

Es war wenige Tage vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen, und es hatte heftig geregnet. Das Wasser prasselte aus einem schiefergrauen, verhangenen Himmel auf die Erde herab. Ein solches Wetter wäre für Juni an vielen Orten der Erde ungewöhnlich gewesen, doch zu jener Zeit hatte ihre Familie auf Kauai gelebt, einer der kleineren hawaiianischen Inseln. In diesem grünen, tropischen Paradies regnete es fast jeden Tag.

Sie waren erst vor wenigen Wochen dort eingetroffen. Im Wohnzimmer standen noch unausgepackte Schachteln herum. Ihre Mutter machte sich nie die Mühe, alles auszupacken, denn sie wusste, dass sie über kurz oder lang sowieso wieder weiterziehen würden.

Ein Duft üppiger Vegetation, blühender Frangipani und feuchter, schwerer Erde durchdrang ihr kleines Zuhause. Ihre Mutter hatte alle Lichter angemacht, um die Düsterkeit des tropischen Himmels zu verscheuchen. Doch ihr Vater war schweigend durchs Haus gegangen und hatte die Lampe wieder ausgeschaltet. Still, angespannt, kaum greifbar.

Das war eine seiner Eigenschaften, an die Jenna sich besonders lebhaft erinnerte. Er hatte es stets bevorzugt, im Dunkeln zu sein, wie eine jener Nachtkreaturen des Waldes auf der Jagd nach Futter.

Sie hatte ihn wie so oft heimlich beobachtet, indem sie es sich unter der Treppe bequem gemacht hatte. Dort hatte sie sich eine kleine Höhle aus Kissen und Decken eingerichtet. Hier saß sie mit ihrem geliebten Teddybär und schaute ihrem Vater zu. Dem Teddy fehlte ein Auge. Das andere funkelte schwarz aus dem karamellfarbenen Plüsch hervor.

Ihre Mutter meinte, dass Jenna eigentlich schon zu groß wäre, um ständig einen Teddy bei sich zu haben. Aber Jenna vermochte sich nicht von ihm zu trennen. Der Teddy und die Kleider, die sie trug, waren die einzigen greifbaren Beweise dafür, dass sie eine Vergangenheit besaß.

Ihr Vater erwischte sie dabei, wie sie ihn beobachtete. Das tat er immer. Selbst wenn er sie nicht aus ihrem Versteck rief, spürte sie, dass er wusste, wie ihm ihre Augen überallhin folgten. Diesmal jedoch sprach er sie direkt an und gab ihr ein Zeichen, unter der Treppe hervorzukommen.

Sie hielt den Teddy in den Armen, als sie zu ihm trat und auf seinen Schoß kletterte. Er saß in einem Schaukelstuhl und sah zu, wie der Regen silbernen Tränen gleich die Fensterscheiben herablief. Draußen sah Jenna die Bäume, das Gras und die Blumen nur noch als schwache Farbflecken, die immer weniger gut zu erkennen waren, je stärker der Regen wurde.

»Jenna«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Er hielt sie fest an sich gedrückt, während er sich mit einem Fuß von dem Holzboden abstieß und vor- und zurückschaukelte. »Weißt du, wer dich lieb hat?«

Sie war noch zu klein, um das Beben in seiner Stimme wahrzunehmen. Also lächelte sie und schlang die Arme um seinen Hals, um dann ihr Gesicht in der warmen Stelle zwischen seiner Schulter und seinem Hals zu vergraben. Sie war glücklich und fühlte sich völlig geborgen. Er hatte ein Feuer in dem kleinen Kamin im Wohnzimmer gemacht, das nun fröhlich knisterte und eine wunderbare Wärme verbreitete.

»Du, Daddy«, antwortete sie jedes Mal, wenn er ihr diese Frage stellte.

»Und weißt du auch, warum Daddy dich lieb hat?« Er legte den Kopf zurück, um sie mit seinen funkelnden Augen genau zu betrachten. Sein attraktives Gesicht war dem ihren so nahe, dass es ihr beinahe vor den Augen verschwamm.

Sie liebte es, ihn so zu sehen – verschwommen und unklar und ganz nah. Irgendwie kam er ihr in solchen Momenten greifbarer als sonst vor. Sie konnte seine Wimpern, die dunklen Stoppeln auf seinem Kinn und seine strahlend weißen Zähne sehen, wenn er lächelte. All das ließ ihn weniger geheimnisvoll wirken und gab ihr mehr das Gefühl, dass er ihr gehörte.

Die mysteriöse Narbe auf seiner Wange wurde allmählich schwächer. Der hässlich rote Schnitt verwandelte sich nach und nach in weiße Haut und verunstaltete die Vollkommenheit seines goldenen Teints. Mit dieser Narbe war er am Tag vor ihrem Umzug auf die Insel nach Hause gekommen.

»Nein«, antwortete sie. Natürlich kannte sie die Antwort, wollte sie aber noch einmal hören.

»Weil du eine Prinzessin bist«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er streichelte ihr über den Rücken und drückte sie noch enger an sich. »Mit goldenen Haaren und wunderschön. Stark und mutig und jedes Opfer wert. Meine Prinzessin, die eines Tages eine Königin sein wird.«

Etwas störte sie diesmal an der Antwort, etwas, was ihr bisher nicht aufgefallen war.

»Was ist ein Opfer, Daddy?«, fragte sie und runzelte die Stirn, als sie zu ihm aufblickte. Er lächelte jedoch nur und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er begann, so lange hin- und herzuschaukeln, bis sie eingeschlafen war – warm und geborgen und glücklich an seiner Brust.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag sie in ihrem Bett unter einer abgenutzten Patchwork-Decke. Der Teddy war in ihren Armen, doch ihr Vater war verschwunden.

Seit jenem Abend musste Jenna stets an ihren Vater denken, wenn es regnete, und die Traurigkeit herunterschlucken, die immer wieder in ihr aufloderte.

Augenblicklich regnete es nicht. Ruhig saß sie in der Lobby des Four Season neben einem riesigen Topf mit auberginefarbenen Callas und duftendem Jasmin. Die Pflanzen hingen beinahe bedrohlich über ihren Tisch. Es war glühend heiß, und die Luft war so trocken, dass ihr die Augen brannten. Trotzdem musste sie an ihren Vater denken.

Sie dachte an ihn, weil sie sein Gesicht in Leanders Gedanken gesehen hatte.

Das erste Mal, als Leander sie am Abend zuvor berührt hatte – der leichte Druck auf ihrem Arm, während er ihr mit seiner ruhigen, schönen Stimme erklärte, dass er den Latour in Erinnerung an seine Eltern bestellte –, hatte sie ein leichtes Beben auf ihrer Haut gespürt. Dasselbe Beben, das sie so heftig im Supermarkt erlebt hatte. Auch, als sich ihre Augen im Restaurant trafen, war dieser Stromschlag durch sie hindurchgegangen.

Trotzdem war sie nicht bereit, es zuzugeben. Sie machte sich vor, dass es ihre Nerven waren, die ein seltsames Spiel mit ihr trieben.

Das nächste Mal entstand diese Spannung und ihre Umwelt verschwamm vor ihren Augen, als er seine Hand über die ihre legte, die den Stiel des Weinglases umfasst hielt. Ihr Herz begann zu rasen, während sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass sich ihre Umgebung wieder zu etwas Greifbarem verwandelte. Jenna vergaß all das, als das Rumoren der Erde Meilen unter ihren Füßen Minuten vor dem Beben an ihre Ohren drang. Jetzt konnte sie sich nur noch darauf konzentrieren, aufrecht stehen zu bleiben, während die ersten Druckwellen zu ihnen durchdrangen und gleichzeitig der saure Gestank erhitzter, brodelnder Erdmassen in ihre Nase drang.

Doch als Leander sie in seine Arme genommen und mit ihr durch das Restaurant auf die Terrasse hinausgerannt war, erinnerte sie sich. Als ihre Hand auf seiner Brust ruhte, hatte sie das Schlagen seines Herzens und die heiße Haut unter seinem Hemd gespürt. Wieder verschwammen die Farben. Doch diesmal sah sie auf einmal Dinge vor sich, wie das noch nie zuvor der Fall gewesen war.

Erinnerungen, die nicht die ihren waren.

Sondern seine.

So viele Dinge gleichzeitig. So viele Leute und Orte und Gefühle, eine seltsame Macht und ein pulsierendes Verlangen. Doch stets sah sie das vor sich:

Ein elegantes Herrenhaus inmitten einer grünen, hügeligen Landschaft. Riesig und geheimnisvoll mit Alabastersäulen und großen Gemälden von ernst wirkenden Menschen in goldenen Rahmen. Überall standen teure Antiquitäten. Draußen gab es einen dunklen Wald mit dichtem Unterholz und uralten Bäumen, die so hoch waren, dass sich ihre Wipfel oben im Nebel verloren. Moos hing von den Ästen herab und schwang in einer nächtlichen Brise unwirklich hin und her. Sie sah Reißzähne und Klauen und muskulöse, geschmeidige Körper, Kreaturen auf vier Beinen, die still über den Waldboden schlichen. Kreaturen, die knurrten und brüllten und sich in Rauch auflösten, sobald sie ein unbekanntes Geräusch hörten.

Ein wildes, fernes Land aus grünen Tälern, die zu dem alten Wald führten, durch den ein reißender Fluss ging, dessen Wasser so klar war, dass man die Forellen auf seinem Steinbett sehen konnte. In der Ferne rauchgraue Berge. Ein Land voller Menschen, die so schön waren, dass alles unwirklich erschien.

Menschen, die wie ihr Vater aussahen.

Nachdem sich die Erde wieder beruhigt und Leander den Notarzt gerufen hatte, nachdem er wie ein uralter Gott des Krieges – schlank und muskulös, ein Körper wie eine Klinge, ein Gesicht, das herrlich, schön und erschreckend zugleich war – durch das Chaos des Restaurants zu ihr zurückgekehrt war, hatte er sich neben sie gekniet und sie an den Armen festgehalten.

»Es wird alles wieder gut werden«, sagte er mit ruhiger, samtener Stimme. Trotz seines besänftigenden Tonfalls wirkte seine Miene ernst und harsch wie die eines eiskalten Raubtiers. Seine wilden, grünen Augen leuchteten in seinem markanten Gesicht wie die eines hungrigen Wolfes.

Sie wusste, dass nicht alles gut werden würde, denn seine Hände brannten auf ihrer nackten Haut, und sie sah seine Erinnerungen, seine Gedanken und seine Fantasien. Alles leuchtete vor ihren Augen in einem einzigen Bild aus Bewegung, Licht und Farben auf, als ob sie einen Film in 3D sehen würde, als ob sie in seinem Kopf wäre, am Ursprung all dieser Gedanken.

Jenna musste weglaufen, um sich diesen Eindrücken zu entziehen. Sie glaubte, nie mehr stehen bleiben zu können.

Doch schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben. Und jetzt war sie hier und wartete in der eleganten, geschäftigen Lobby seines Hotels.

Plötzlich verschwand ihre Ruhe. Ihr Herz begann wieder zu hämmern. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Wangen röteten sich, als sie Leander um die Ecke biegen sah.

Sie beobachtete, wie er an den kunstvoll arrangierten Palmen vorbeiging und wie in Zeitlupe anmutig und selbstbewusst auf sie zukam. Er strahlte Macht und Gefahr aus. Die Blicke vieler folgten ihm. Jenna und Leander sahen sich an, und sie ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten, damit er nicht bemerkte, wie sehr sie zitterten.

Er war alleine, und er sah so aus, als ob er keine gute Nacht verbracht hatte.

»Jenna«, sagte er und blieb mit einer eleganten Bewegung vor ihrem Tisch stehen. Seine kühlen, grünen Augen musterten sie. »Die hinreißende Sommelière aus dem Mélisse. Was für eine schöne Überraschung.«

Sie blickte zu ihm auf.

Er wirkte völlig entspannt und beherrscht, als ob er zufällig bei einem Spaziergang einer fernen Bekannten begegnet wäre. Doch unter seiner eleganten, distanzierten Erscheinung spürte sie eine Aggressivität und Tatkraft, die er kaum zu kontrollieren vermochte. Er duftete nach kühler Nacht und Frische.

»Geht es Ihnen heute besser? Ich muss zugeben, dass Sie mich etwas erschreckt haben, als Sie einfach so davongerannt sind. Ich hoffe, Sie haben …«

»Ich weiß, wer du bist«, unterbrach ihn Jenna mit leiser Stimme. Sie sah ihn aufmerksam an. Einen Moment lang erstarrte er. Er behielt seine kühle Reserviertheit, doch sie bemerkte, wie ein Kiefermuskel zuckte.

»Tust du das?«, murmelte er. Der Kronleuchter über ihren Köpfen verlieh seinen schwarzen Haaren einen blauen Schimmer, und die Lichter in der Lobby schienen auf einmal greller zu werden. Alles roch nach glühendem Jasmin und gnadenloser Hitze.

Jenna vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu interpretieren. Er war völlig undurchdringlich.

»Ja. Du bist das, wovor ich weglaufen sollte.«

Ihre Antwort schien ihn zu verblüffen. Er stand noch immer vor ihr und sah sie blinzelnd an, die Lippen leicht geöffnet. Dann besann er sich und zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. »Darf ich?«

Sie nickte.

Er setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sein Blick richtete sich jetzt auf die Kristallschale mit den gemischten Nüssen, die auf dem Tisch zwischen ihnen stand. Er war salopp gekleidet, trug eine beige Hose und ein weißes Seidenhemd, dessen Ärmel hochgerollt waren, sodass sie seine braunen, muskulösen Unterarme sehen konnte. Ein Schatten lag auf seinen Wangen. Offensichtlich hatte er sich noch nicht rasiert.

Er nahm eine Walnuss aus der Schale und begann, sie zwischen seinen Fingern hin und her zu rollen.

Jenna bemerkte, wie das Sonnenlicht durch die riesigen Glastüren der Lobby hinter ihm einfiel. Sie hörte wie aus der Ferne die Gespräche der anderen Gäste und das Klacken hoher Absätze auf dem Marmorboden. Die Hitze kroch ihr über den Rücken, sodass sie glaubte, kaum mehr atmen zu können. Und doch war sie mit jedem Molekül ihres Körpers, mit jedem Atom ganz auf ihn konzentriert.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich jetzt sagen soll«, erklärte Leander vorsichtig. Er sah sie mit durchdringenden Augen an, wobei seine Stimme noch immer so neutral wie möglich klang. »Vielleicht möchtest du erklären, was du genau meinst.«

Jenna blieb konzentriert, während sie antwortete. »Wenn du deine Spielchen mit mir treibst«, sagte sie ruhig und starrte ihn direkt an, »werde ich auf keinen Fall mit dir nach Sommerley fahren.«

Seine Miene war noch immer ausdruckslos. Seine Augen musterten sie wie erstarrt. Leander zerdrückte die Walnuss zwischen seinen Fingern.

»Wie bitte?«, flüsterte er.

Sie musste triumphierend lächeln. Also doch nicht so cool, wie er tat.

»Habst du wirklich geglaubt, dass ich völlig unvorbereitet bin? Weißt du denn nicht, dass ich mir schon lange überlegt habe, wie dieser Moment aussehen würde? Dass ich dich vielleicht sogar seit Jahren erwartet habe – oder zumindest jemanden wie dich? Hältst du mich für eine Vollidiotin?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn abwartend an. Doch er war so verblüfft, dass er nicht antworten konnte.

»Meine Mutter hat mich immer gewarnt. Sie sagte, dass es eines Tages so weit kommen würde, aber ich weiß nicht, ob ich ihr wirklich geglaubt habe«, erklärte Jenna, während ihr Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte. »Sie hat mich angewiesen, wegzurennen. Sie hat mir gezeigt, wie ich ein Leben im Verborgenen führe. Aber ehrlich gesagt, bin ich es schon lange leid, wegzurennen.« Sie hielt inne. Als sie weitersprach, war ihre Stimme etwas tiefer geworden. »Und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich vor dir oder irgendjemandem sonst verbergen soll.«

Jenna hatte das Verstecken satt. Die ewige Geheimniskrämerei reichte ihr. Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte ihr Vater die Familie alle paar Monate woanders hingebracht. Niemals waren sie irgendwo lange genug geblieben, um sich heimisch zu fühlen. Ihre Kindheit bestand aus einer langen Reihe von fremden Gesichtern. Einer Reihe flüchtiger Eindrücke von Nachbarn, Lehrern und Klassenkameraden, die in ihrem Leben auftauchten und dann wieder verschwanden, als ob Jenna ihre ganze Kindheit über auf einem Karussell gesessen hatte. Es drehte sich einmal, und schon war alles wieder weg und wurde nie mehr gesehen.

Dann verwandelte sich auch ihr Vater in einen Geist und verschwand wie alle Übrigen aus ihrem Leben.

»Du bist anders als die anderen Mädchen, Jenna«, hatte ihre Mutter immer wieder zu ihr gesagt. Das war mehr als offensichtlich gewesen. »Aber du musst so tun, als wärst du es nicht. Ganz gleich, was passiert – du musst dich anpassen. So, wie es dein Vater getan hat. Das ist die einzige Möglichkeit, um nicht in Gefahr zu geraten. Es ist die einzige Möglichkeit, nicht gefangen zu werden. Und falls sie dich doch finden … Dann lauf.«

Sie war sich absolut sicher, dass das, wovor sie weglaufen sollte, ihr jetzt am Tisch gegenüber saß – exotisch, regungslos und gefährlich wie eine Kobra, ehe sie zubeißt.

»Ich möchte dir einen Deal vorschlagen.« Sie streckte die Hand aus, um den Staub der zerdrückten Nuss zusammenzustreichen, der aus seinen Fingern gerieselt war. »Du erzählst mir die Wahrheit, und ich werde ohne Aufsehen mit dir kommen. Ich komme freiwillig, wenn du mir die Wahrheit sagst. Also – was meinst du?«

Er bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht und antwortete auch nicht. Er starrte sie nur aus schmalen Augen an und überlegte.

»Ich weiß, dass du das nicht erwartet hast. Aber ich hoffe, dass du es in Erwägung ziehst. Es ist jedenfalls viel besser als dein eigener Plan.«

Jenna bemühte sich um ein Pokerface, um ihm nicht zu verraten, dass sie größtenteils keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Sie hatte zwar einiges in seinen Gedanken gesehen und gelesen, doch es waren so viele Bilder und Eindrücke gewesen, dass ein ziemliches Chaos in ihrem Kopf entstanden war. Doch er wusste ja nicht, was sie gesehen hatte.

Sie wollte Antworten. Danach … Danach konnte er nach Sommerley zurückkehren, wo auch immer das sein mochte.

Oder er konnte gleich zur Hölle fahren.

Leander lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Er atmete hörbar durch die Nase aus. Nach einer Minute des Schweigens und einer steigenden Anspannung, die ihr das Gefühl gab, jeden Augenblick entzweigerissen zu werden, zeigte sich die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht. Seine Stimme klang jedoch alles andere als amüsiert. Sie klang vorsichtig, gerissen und beinahe … beinahe bewundernd.

»Du kannst Gedanken lesen.« Seine zusammengeballten Finger lösten sich, und er strich den Walnussstaub ab, ohne die Augen von ihr zu lassen. »Wie unangenehm.«

»Bisher nur deine. Das ist eine neue Entwicklung in meinem Leben. Erwarte also nicht zu viel.«

Gedankenverloren malte er mit seinem Zeigefinger ein unsichtbares Muster auf den Tisch. Er blickte eine Weile auf seine Finger, ehe er wieder aufschaute. Wie zuvor spürte sie auf einmal all die Emotionen, die sie auch beim ersten Mal, als sie ihn sah, durchlebt hatte: die elektrisierende Spannung, den Zauber und die Bedrohung, die er wie ein Parfüm auf der Haut trug. »Für jemanden, der gerade etwas so Ungewöhnliches herausgefunden hat, wirkst du überraschend ruhig.«

Ihr Magen verkrampfte sich. »Mein ganzes Leben ist ungewöhnlich gewesen. Ich bin von einem Ort zum nächsten umgezogen, stets auf der Flucht vor einer unsichtbaren Bedrohung. Ich hatte einen Vater, der spurlos verschwand, und eine Mutter, die sich jede Nacht in den Schlaf getrunken hat. Ich wusste, dass ich anders bin, wusste aber nie, warum. Niemand hat mir jemals die Wahrheit gesagt.«

Sie hielt abrupt inne und blickte auf den Tisch. Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, die sie jetzt wegzublinzeln versuchte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme wie ein heiseres Flüstern. »Und du kannst mir glauben: Ich bin alles andere als ruhig. Tatsächlich überlegt sich gerade mein Frühstück, ob es nicht wieder auftauchen sollte.«

Leander beugte sich vor. »Jenna …«

Er brach ab, als jemand neben ihren Tisch trat. Es war ein attraktiver junger Mann, geschmeidig und mit schwarzen Haaren wie Leander, mit einem spitzen Haaransatz und scharfen, durchdringenden Augen, die sowohl skrupellos als auch sinnlich wirkten. Er setzte sich auf einen der Stühle, seufzte und streckte sich.

»Konnte nicht widerstehen. Ich musste ein bisschen raus. Schönes Wetter heute, nicht wahr?« Er grinste und sah sie dabei mit einer solchen Gier an, dass seine Lässigkeit noch aufgesetzter wirkte. Wie zufällig legte der den Arm über die Rückenlehne des Stuhls.

Jenna kannte ihn. Er war der andere Mann auf dem Parkplatz gewesen. An jenem ersten Tag.

Jetzt kam die Dritte im Bunde – eine atemberaubend schöne, schwarzhaarige Frau, die ein derart provozierendes Kleid trug, dass ein Mann direkt gegen eine Wand lief, als er ihr fassungslos hinterhersah. Voller Anmut ließ sie sich ebenfalls an ihrem Tisch nieder, wobei sie den kalten Zorn in Leanders Blick souverän ignorierte.

Jenna ihrerseits achtete nicht auf die beiden, sondern beugte sich vor, um weiter mit Leander zu sprechen. Sie war nun entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

»Du musst mir einfach nur die Wahrheit sagen, und ich werde mein Wort halten«, erklärte sie Leander. »Ich werde mit dir kommen. In deinen Gedanken habe ich nichts entdecken können, das mir den Eindruck vermittelte, dass du mir schaden willst.« Ihre Wangen röteten sich. »Ganz im Gegenteil. Ich glaube vielmehr, dass du der Einzige bist, der alle meine Fragen beantworten kann. Und ich habe viele Fragen. Doch falls ich den Eindruck habe, dass du lügst oder mir etwas vorenthalten willst, wird es nichts geben, was mich dazu bringen kann, aus diesem Stuhl aufzustehen. Du wirst nichts sagen oder tun können, um mein Vertrauen zurückzugewinnen, wenn du es einmal verloren hast. Ich habe bewusst diesen öffentlichen Ort für unser Gespräch gewählt. Ich werde auf diesem Stuhl sitzen und so lange schreien, bis die Polizei kommt. Und dann werde ich so weit weglaufen, dass du mich nie mehr findest.«

Die Geräusche der Leute um sie herum sowie der hallenden Schritte und das Klirren der Gläser auf den Tischen schienen in der plötzlichen Stille, die ihren Worten folgte, doppelt so laut zu sein. Die Frau und der jüngere Mann saßen vor Erstaunen regungslos auf ihren Stühlen. Dann warfen sie zuerst einander und dann Leander einen fragenden Blick zu.

Dieser jedoch sah Jenna gelassen an. Wie immer wirkte er mühelos attraktiv und kontrolliert. Seine Selbstbeherrschung hatte er inzwischen zurückgewonnen. »Ich muss zugeben, dass es mir beinahe die Sprache verschlägt. Ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas schon einmal passiert ist. So etwas gab es bisher noch nie.«

»Wie tragisch«, erwiderte sie und amüsierte damit sichtbar den Jüngeren der beiden.

Leanders Miene wirkte jetzt säuerlich. »Nur um sicherzugehen, dass wir auch alle wissen, wovon wir reden«, sagte er mit übertriebener Geduld, die seine gelassene Haltung Lügen strafte. »Du wirst dein bisheriges Zuhause verlassen – deine Freunde, deine Arbeit, dein Leben –, um zu unbekannten Leuten und unbekannten Orten aufzubrechen. Und das alles, weil du ein paar Fragen beantwortet haben möchtest?«

»Ja«, log sie. In Wahrheit hatte sie keineswegs vor, mit ihm irgendwohin zu gehen.

Er schüttelte langsam und bedächtig den Kopf. »Du machst das Ganze natürlich viel einfacher für mich. Aber ehrlich gesagt kann ich dir nicht folgen.«

Jenna lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie war erleichtert und zugleich zutiefst verängstigt, dass er ihrem Angriff nicht Paroli bot. Er beteuerte weder seine Unschuld, noch bezeichnete er sie als verrückt.

Ob das nun gut war oder nicht – bisher ließ er sich jedenfalls auf ihre Forderungen ein.

Mit einer raschen Handbewegung strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte dann mit den Schultern. »Du bist ein Mann. Ich bin eine Frau. Es gibt sicher viele Dinge, die du nicht verstehst.«

Die schöne, dunkelhaarige Frau begann leise zu lachen – ein weiches, mädchenhaftes Kichern, das sie hinter der perfekt manikürten Hand zu verbergen versuchte, die sie sich vor den Mund hielt. Doch es wurde zu einem immer lauteren Lachen, bis sie schließlich den Kopf zurückwarf und sich ihm ganz hingab, während sich Leander und Jenna schweigend anstarrten.

»Ich glaube, sie gefällt mir, Leander. Ich glaube, sie gefällt mir sogar ausgezeichnet«, sagte die Frau, als sie wieder sprechen konnte. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und betrachtete Jenna mit neuer Bewunderung in ihren warmen, grünen Augen.

»Verzeih«, sagte Leander zu Jenna. »Ich habe dir bisher noch gar nicht meine Begleiter vorgestellt.« Er warf einen kühlen Blick in Richtung der Frau. »Das hier ist Morgan.«

Morgan lächelte Jenna an und entblößte dabei eine perfekte Reihe weißer Zähne zwischen ihren scharlachroten Lippen. Sie streckte die Hand aus, die Miene offen und direkt. Ehe Jenna auch nur daran denken konnte, die Geste zu erwidern, schoss Leanders Hand vor und hielt Morgans Finger fest. Morgan erstarrte und sah ihn fragend an, sagte aber nichts.

Er hatte also erraten, wie es ihr möglich gewesen war, seine Gedanken zu lesen. Nicht dumm. Also gut. Aber zumindest wusste er nicht, wie viel sie gesehen hatte.

»Und das ist Christian«, fuhr Leander fort. Er wies mit dem Kopf auf den jungen Mann, der neben ihm saß. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass sie miteinander verwandt sein mussten, aber Leander fügte keine Erklärung hinzu.

»Ich muss schon sagen«, erklärte Christian lässig, während er Jenna von unten herauf ansah. Ein verwegenes Lächeln spielte um seine Lippen. »Es ist mir ein großes Vergnügen, dich endlich persönlich kennenzulernen.« Jetzt grinste er breit. »Die geheimnisvolle kleine Streunerin, die so lange verschwunden war, soll endlich nach Hause kommen. Wir sollten eine Party geben.«

»Christian«, warnte Leander. Er hatte die Lippen aufeinandergepresst und warf ihm einen scharfen Blick zu.

Morgan schlug begeistert die Hände zusammen und richtete sich auf. »Oh, ja! Eine Party! Wenn wir alle in Sommerley sind, werde ich Jenna zu Ehren einen Ball geben, und wir werden tanzen und Musik hören und …«

»Hört sofort auf, ihr beiden«, zischte Leander durch zusammengebissene Zähne. Sein Gesicht war vor kaltem Zorn wie erstarrt. Die beiden verfielen in Schweigen.

Jenna rutschte leicht auf ihrem Stuhl nach vorn. Sie war sich bewusst, dass Christian versucht hatte, Leanders Macht zu untergraben und Morgan ihm unwissentlich dabei geholfen hatte. Leanders Wut auf die beiden hing wie eine Gewitterwolke hinter ihren Köpfen.

»Seid ihr mit meinem Vater verwandt?«, frage sie ihn abrupt, um ihren Vorteil nicht wieder zu verlieren.

»Ja«, erwiderte Leander, ohne nachzudenken. Er war noch immer wütend. Dann massierte er sich den Nasenrücken, während er die Augen schloss. »Das heißt nein. Nicht so, wie du vielleicht denkst. Es ist nicht so einfach, es ist vielmehr sehr …«

»Weißt du, was mit ihm passiert ist?«

Er öffnete die Augen und blickte sie an. Ein Schatten legte sich auf seine Miene. »Auch das ist nicht so einfach …«

»Weißt du, wo er ist? Lebt er noch?«, fragte sie mit lauter werdender Stimme.

»Jenna, um Gottes willen. Das hier ist wirklich nicht der richtige Ort …«

Jenna sprang von ihrem Stuhl auf. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Empörung wider, die auf einmal in ihr hochkochte. Der Stuhl fiel um und landete mit einem lauten Krachen auf dem Marmorboden. Die anderen Gäste drehten neugierig die Köpfe in ihre Richtung. Jenna achtete nicht darauf, sondern lenkte ihren Blick wie einen Laserstrahl auf Leanders ernstes Gesicht.

»Warum bist du mir gefolgt? Was willst du von mir? Wo ist mein Vater?«, wollte sie wissen. Er wusste es. Er wusste alles. Er wusste es und blieb doch stumm wie eine Statue und starrte sie mit dieser enervierenden, kalten Verachtung an, als ob es ihm nur darum ginge, dass sie keine Szene machte – als ob alles andere nichts zählen würde.

Die Wahrheit, du Schwein, dachte sie. In ihr stieg die Galle hoch. Das ist das Einzige, was zählt.

Ihre Hände begannen zu zittern – ebenso wie ihre Unterlippe, ihre Knie und jeder Nerv in ihrem Körper. Etwas in ihr hatte genug.

»Wer zum Teufel seid ihr?«, rief sie so laut sie konnte.

In der Lounge wurde es auf einmal totenstill. Jetzt konnte sie nur noch Leanders Herz schlagen hören. Das jedoch vernahm sie so laut und deutlich wie eine Glocke. Es pochte heftig und voller Leben in seiner Brust.

Ruhig und ohne Eile erhob er sich von seinem Stuhl. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, als er ihr gegenüberstand. Er bedachte sie mit einem Blick, der so kalt war, dass er glühende Lava hätte erstarren lassen.

»Ich bin bereit, deine Fragen zu beantworten, Jenna. So, wie du das willst«, sagte er ruhig, doch sie konnte deutlich den Zorn in seiner Stimme hören. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört sind. Unsere Diskussion könnte offenbar recht … recht hitzig werden. Ich schlage meine Suite vor.«

Jennas Nackenhaare stellten sich auf. Sie zitterte noch immer. »Du erwartest von mir, dass ich mit dir alleine in deine Suite gehe, wo du weiß Gott was mit mir anfangen könntest? Wenn du mich für derart töricht hältst, dann liegst du völlig falsch.«

Sein Blick taute etwas auf, und er gestattete sich sogar ein freudloses Lächeln. Er hob die Hand, um ihr seine guten Absichten kundzutun. »Wenn du mir nicht glaubst …« Er zuckte lässig mit den Schultern. »Dann überzeug dich doch selbst.«

Jenna sah auf seine ausgestreckte Hand und dann in sein attraktives, ernstes Gesicht. Sie hatte nicht vor, ihn noch einmal zu berühren. Sie konnte es nicht. Sie war nicht für das Bombardement aus Gedanken und Bildern bereit, nicht auf die beängstigenden Gefühle, die mit der Berührung seiner Haut einhergingen. Sie würde nie dafür bereit sein. Vielleicht würde sie nie mehr in der Lage sein, jemanden zu berühren, und momentan wusste sie nicht einmal, ob sie diese Vorstellung störte oder nicht.

Also: Sie musste ihm einfach vertrauen.

»Gut. Dann in deine Suite«, sagte Jenna und ballte die Hände erneut zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken. »Aber wir lassen die Tür offen.«

Leander legte den Kopf zur Seite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Mit leiser Stimme sagte er: »Folge mir.«

Das »wenn du es wagst« wurde zwar nicht gesagt, doch sie hörte es genauso deutlich, als wenn Leander es laut ausgesprochen hätte.

Sie ging nicht als Erste, sondern folgte den dreien, als diese schweigend durch die Lobby mit ihren riesigen Blumenarrangements und glänzenden Spiegeln marschierten, vorbei an den stillen, gläsernen Lichthof mit seinen tropischen Pflanzen und einem dunklen Bassin mit unruhigen, orangefarbenen Kois. Dann liefen sie durch die Glastüren, welche sich mit einem eleganten Schwung nach außen öffneten und sie in die heiße, nach Rosen duftende Luft entließen. Nun befanden sie sich im Garten des Hotels und vor einer privaten Wendeltreppe, über die man zur Präsidenten-Suite im obersten Stock gelangte.

Jenna hatte sich geweigert, mit dem Trio in den Lift zu steigen.

Sie vermochte kaum die Augen von ihnen abzuwenden, während sie vor ihr her liefen. In jedem von ihnen sah sie das Tier. Die Art, wie sie auf dem Marmor, dem Beton und dem Gras lautlos einen Fuß vor den anderen setzten, wie sich ihre Glieder geschmeidig und anmutig, kraftvoll und wendig bewegten, wie sie bei jeder Ecke, bei jeder Kurve ihre wahre Natur einen Moment lang zeigten. Es war eine Symphonie aus natürlicher, gefährlicher, perfekter Eleganz.

Jenna sah sie vor ihrem inneren Auge, wie sie in einem düsteren Wald auf die Jagd gingen.

Raubtiere.

Als sie auf dem oberen Absatz der Wendeltreppe standen, sperrte Leander die Tür zu seiner Suite auf und bedeutete ihr mit einer Geste einzutreten.

»Hier wären wir«, sagte er mit einer neutral klingenden Stimme. Sein Körper war entspannt, als er die Tür mit einer seiner kraftvollen Schultern für sie offen hielt.

Aber diese Augen, so durchdringend grün und leidenschaftlich – sie jagten ihr einen Schauder über den Rücken.

»Morgan, Christian – wir sprechen uns später.« Mit einer kleinen Bewegung des Kinns zeigte er ihnen, dass sie sich nun in ihre Räume zurückziehen sollten.

»Natürlich, Leander«, erwiderte Morgan. Sie schien froh zu sein, dass er sie wegschickte. »Bis später. Und – Jenna«, fügte sie hinzu und drehte sich, schon halb im Gehen, zu ihr um. Ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr in dunklen Wellen über den Rücken – wie Wasser auf einem Bett auf glatten Steinen. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«

»Nein, warte! Was soll das? Ihr solltet besser bleiben …«

Doch Morgan drehte sich nur mit einem Lächeln weg und nahm Christian am Arm. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid enthüllte auch einen Großteil des Rückens und den oberen Ansatz ihres festen Pos.

Christian warf Jenna einen Blick über die Schulter zu. Seine Miene war jedoch nicht genau zu erkennen, da sein Gesicht von den Schatten der Wandleuchten verborgen war. Die beiden zogen von dannen und waren kurz darauf verschwunden.

Ohne ein Wort hob Leander erneut die Hand, um Jenna einzuladen, die Suite zu betreten.

Jenna schnaubte und ging an ihm vorbei, wobei sie sich größte Mühe gab, ihn nicht zu berühren. Sie achtete nicht auf seinen leidenschaftlichen Blick, sondern schritt durch das marmorne Foyer in den luxuriösen Hauptraum, wo sie die wunderbaren Möbel, die großartige Marmorveranda hinter den durchsichtigen Vorhängen und das riesige Bett bewunderte.

Hastig wandte sie den Blick davon ab, ehe er dort zu lange verweilte.

Verdammt. Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Sie musste die Zügel in der Hand behalten.

Ihre Wangen waren gerötet, und sie bebte. Sie fühlte sich zugleich erschöpft und angespannt, hochgradig nervös und gleichzeitig ruhig. Jede Faser ihres Körpers stellte sich auf das Zimmer, die warme Luft, das gedämpfte Licht und den schönen, offensichtlich gefährlichen Mann ein, der unter der Tür stand und sie so schweigend und regungslos beobachtete, dass er genauso gut nicht hätte da sein können.

Wenn ihn nicht das Schlagen seines Herzens verraten hätte. Sie hörte es noch immer und kämpfte dagegen an, das Stakkato, den pulsierenden Schlag in ihr Bewusstsein zu lassen. »Mit der Zeit wird es einfacher«, sagte Leander leise hinter ihr. Seine Stimme klang überraschend zärtlich. »Du brauchst einfach mehr Übung.«

Verblüfft drehte sich Jenna so schnell um, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Sie streckte eine Hand aus, um sich an der Rückenlehne eines seidenbezogenen Sessels festzuhalten, dessen hölzerne Armlehnen merkwürdigerweise zersplittert waren. Beherrschung, tadelte sie sich.

»Was wird einfacher?«

»Die Gefühle. Man kann sehr schnell eine Überdosis an Informationen aufnehmen, wenn die Sinne alles um einen herum wahrnehmen. Aber man kann das auch beherrschen. Nach einer Weile«, sagte er und trat beiseite, um die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloss fallen zu lassen, »wirst du in der Lage sein, es zu kontrollieren. Es wird dir kaum mehr auffallen, es sei denn, du willst es.«

Betont langsam ging er ein paar Schritte auf sie zu, die Augen auf ihr Gesicht gerichtet.

»Nein«, protestierte Jenna und wich zurück. Einen Moment lang hatte sie es vergessen. Er wusste, dass sie sein Herz hören konnte. »Die Tür bleibt offen. So haben wir das vereinbart.«

»Nein, so hast du das verlangt«, erklärte er und kam noch immer auf sie zu. Aus jeder Bewegung sprach eine gebändigte Kraft, aus jedem Blick eine dunkel schwelende Sinnlichkeit. »Allerdings halte ich es für klüger, die Tür zuerst einmal geschlossen zu lassen. Vor allem angesichts dessen, was ich dir zeigen will.«

Jennas Herz begann so heftig zu pochen, dass sie befürchtete, das Bewusstsein zu verlieren.

Stattdessen wich sie noch weiter zurück, bis sie an den Schreibtisch stieß, der an einer Wand stand. Leander blieb nicht stehen, was sie dazu zwang, um den Schreibtisch herumzugehen und sich noch weiter vor ihm zurückzuziehen. Schließlich drückten ihre Schultern gegen die weiche Seidenbespannung der hinteren Wand.

»Stopp!« Ihre Stimme klang panisch. Er lächelte auf bedrohliche Weise, während er näher rückte. Verängstigt schossen ihre Augen durchs Zimmer, um irgendetwas zu finden, was sie packen, womit sie ihn verletzen konnte. Da lag dieses Messer auf dem Schreibtisch – nein, es war ein Brieföffner.

Doch in diesem Moment stand er direkt vor ihr. Zwischen ihnen befand sich nur noch ein Hauch einer hoch aufgeladenen Luft.

Jenna erstarrte. Sie spürte die brennende Glut und die Anspannung der Muskeln seines Körpers, das Bewusstsein der gegenseitigen Anziehungskraft. Es fiel ihr schwer, weiterhin ruhig zu atmen und die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu ignorieren – ebenso wie furchtlos stehen zu bleiben und ihm in die Augen zu sehen.

Was sie dort sah, brachte die Schmetterlinge in ihrem Bauch noch mehr zum Tanzen.

»Ich denke, du wolltest Antworten«, murmelte er und stützte sich mit beiden Händen an der Wand hinter ihr ab, sodass sich ihr Kopf zwischen seinen Armen befand. Sie drehte das Gesicht weg und versuchte, sich noch enger gegen die Wand zu pressen, um dem zu entkommen, was zwischen ihnen passierte. Dieser leidenschaftlichen, düsteren Glut.

»Ich verstehe nicht, wie das …« Sie brach ab, als er den Kopf senkte und mit der Nasenspitze langsam von einem Punkt unter ihrem Ohrläppchen bis zu der Kuhle ihres Halses, wo ihr Puls schlug, wanderte.

Er holte tief Luft und gab ein leises, höchst männlich klingendes Geräusch von sich.

»… eine Antwort sein soll.« Sie schaffte es, den Satz zu Ende zu sprechen, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. Die Lust, die seine Berührung in ihr auslöste, war kaum mehr zu ignorieren, als sie einer Flut gleich durch ihren Körper rollte.

Er lachte leise und belustigt. Ohne den Kopf zu heben – sein Atem noch immer warm auf ihrer Haut –, redete er weiter. »Es ist auch keine Antwort«, gab er zu. »Es ist nur ein großes Vergnügen.«

»Dann hör damit auf. Jetzt«, fügte sie streng hinzu und bemühte sich, irgendwie überzeugend zu klingen.

Er legte den Kopf zurück, betrachtete sie durch halb geschlossene Augen und lächelte. Ein Lichtstrahl, der durch die Fenster hereinfiel, spielte mit seinen Haaren und ließ nerzbraune und schokoladenfarbene Schattierungen auf seinen dichten, ebenholzschwarzen Strähnen erscheinen.

»Willst du das wirklich?«, flüsterte er, wobei sein Lächeln noch strahlender wurde. Seine Augen funkelten grün, und das Licht spielte nun mit seinen Wangenknochen. Jetzt konnte Jenna sehen, wie perfekt porenlos und goldbraun seine Haut war.

»Wunderschönes Mädchen«, flüsterte er und blickte ihr tief in die Augen. »Sag die Wahrheit.«

Jenna bevorzugte es, die Wahrheit zu sagen. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, diese zu verbergen. Doch diesmal – zum zweiten Mal an diesem Tag – schätzte sie den Wert einer guten Lüge.

»Ja, ich will, dass du aufhörst«, erklärte sie kühl und mit so viel Überzeugungskraft, wie sie aufzubringen vermochte.

»Verstehe«, erwiderte er unbeeindruckt. Sein Lächeln wurde sogar noch breiter, und er wirkte erneut amüsiert. »Dann hättest du also etwas dagegen, wenn ich zum Beispiel so etwas mache.«

Er senkte das Gesicht und strich mit seinen Lippen über die ihren. Es war eine kaum spürbare, sinnlich leichte Berührung, die doch nicht hätte intensiver sein können.

Jenna hielt den Atem an und versuchte, den Kopf abzuwenden. Doch er umfasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihn anzusehen.

Sogleich tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder auf, die nicht die ihren waren. Ihre Haut brannte an den Stellen, wo er sie berührte, und sie spürte seinen Herzschlag, sein Verlangen, seine Erinnerungen, seinen innersten Kern. »Aufhören«, rief sie.

»Du kannst lernen, es zu kontrollieren, Jenna«, sagte er heiser und strich wieder mit den Lippen über ihren Mund. Er presste seinen Körper gegen sie, sodass sie seine heiße Haut durch ihre Kleidung hindurch spürte. Sie schien ihre Brust, ihren Bauch und ihre Schenkel zu verbrennen. Ihr Körper drückte sich an die Wand und dann gegen ihn. Auch ihr Körper war voller Begehren und Verlangen – das ließ sich nicht leugnen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und war sich nicht sicher, ob sie ihn verjagen oder noch enger an sich heranziehen wollte.

»Versuch es zu kontrollieren«, sagte er heftig und unerbittlich.

Mit der Zungenspitze strich er ihr zärtlich über die Unterlippe, und eine Flut von kristallklaren Bildern übermannte sie. Sie sah sich selbst in leidenschaftlicher Hingabe, wie er sie sich in diesem Moment vorstellte.

Spüre mich, Jenna.

Leg dich zurück und lass mich dich schmecken.

Sag mir, was du willst. Gefällt dir das? Und das?

Sag meinen Namen, flüsterte es heiß in ihr Ohr, als er tief in sie eindrang. Sie erbebte und kam unter ihm zum Höhepunkt. Sag ihn und gehöre mir.

»Leander«, flüsterte sie, als ihre Knie nachgaben.

Er hielt sie gerade noch fest, als sie nach unten sackte. Als wäre sie leicht wie eine Feder nahm er sie in die Arme und hob sie hoch. Ohne innezuhalten trug er sie zu seinem Bett und legte sie sanft darauf. Dann machte er es sich auf der Daunendecke neben ihr mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung bequem. Warm, männlich und fest lag er an ihrer Seite. Ein Finger strich ihr eine Locke aus den Augen und hinterließ erneut eine Spur aus Bildern auf ihrer Haut. Obwohl das alles verrückt und falsch und unmöglich war, fühlte sich ihr Körper neben dem seinen doch genau richtig an.

»Konzentriere dich auf deinen Atem«, sagte er sanft und zärtlich. »Ich schwöre dir, dass du bei mir in Sicherheit bist, Jenna. Ich werde dir nichts tun. Niemand und nichts wird dir jemals wieder etwas antun.«

Er vergrub sein Gesicht in ihrem Hals und holte tief Luft, sodass sich auf ihrem ganzen Körper eine Gänsehaut bildete. »Ich will dich beschützen«, flüsterte er und strich mit den Lippen über ihren Hals. »Ich will dich in Sicherheit wissen. Vertraue mir, Jenna. Vertraue mir. Lass mich für dich sorgen.«

Es war seine Hand, die auf ihrem Rücken lag, die Finger gespreizt, ihren Körper fester an den seinen pressend. Es war ihr Knie, das sich nach oben anwinkelte, um sein muskulöses Bein zwischen ihre Beine zu lassen. Der Saum ihres Kleids glitt nach oben und entblößte ihren Schenkel. Es waren ihre Finger, die sich tief in die weiche Daunendecke vergruben, während seine Lippen über ihr Schlüsselbein strichen und er Worte in einer melodischen Sprache flüsterte, die sie nicht verstand. Es war ihre Hand, die über seinen Arm und seine Schulter strich, die über die warme Haut seines Nackens glitt, sich in seinen Haaren vergrub …

»Leander«, protestierte sie. Ihre Stimme war eine Mischung aus Flüstern und Stöhnen und zeigte deutlich, dass sie sich bereits ganz der heißen Leidenschaft seiner Hände und seiner Lippen überließ. Ihre körperliche Reaktion auf ihn war überwältigend … instinktiv, echt, animalisch. Ein paar Sekunden länger, und ihr Körper würde die Entscheidung für sie treffen. »Bitte, ich kann nicht denken …«

Doch er unterbrach sie mit einem tiefen, heißen Kuss und rollte sich halb auf sie. Sie glaubte, mit der weichen, luxuriösen Matratze zu verschmelzen.

Keuchend rückte er einen Moment von ihr ab. »Dann denk nicht«, sagte er heiser. »Fühle.«

Wieder küsste er sie, und diesmal konnte sie nicht anders: Sie erwiderte seinen Kuss.

Leander ließ ein tiefes Stöhnen hören, ein dunkles Knurren wie von einem Tier. Er presste seinen Mund auf ihr Ohr und flüsterte heiser fünf Worte, die ihr Herz fast zum Zerreißen brachten. »Ich will in dir sein.«

Er strich mit der Hand über ihren nackten Schenkel, umfasste ihre Hüfte und drückte seinen Unterleib gegen sie. Sie spürte seine Erektion, hart und drängend. Das Verlangen übermannte sie mit einer solchen Wucht, dass sie aufstöhnte. Eine heiße, unbezähmbare Lust, die nach Befriedigung schrie, wallte in ihr auf und begann, einem Raubtier gleich, in ihr zu toben.

Mit einer Hand hielt er ihr Handgelenk fest und führte es über ihren Kopf, wo er es auf das Kissen drückte. Dann drückte er seine Lippen auf die Haut ihres Halses, wo er zu lecken und zu saugen begann, sodass sie den Rücken durchdrückte. Dann biss er sie.

Es war kein fester Biss, nichts, was die Haut verletzte oder ein Mal zurückließ. Doch mit diesem flüchtigen Biss wurde eine stets in ihr schlummernde Quelle der Energie und der Kraft zum Ausbruch gebracht. Ein blendend weißer Strom animalischen Bewusstseins schoss durch ihre Muskeln, ihr Blut und ihre Nerven, als ob sie ein Haufen trockener Blätter wäre, der von einer Fackel entzündet wurde …

… als ob ein Tier, das in ihr geschlummert hatte, endlich geweckt worden war, um sich mit wilder, ungezähmter Freude seinen Begierden hinzugeben.

Jenna öffnete die Augen und starrte an die Decke. Sie spürte, wie sich etwas Dunkles, einem Sturm gleich, in ihr zusammenbraute.