30

Jenna starb nicht.

Allerdings erholte sie sich auch nicht ganz. Über eine Woche lang verweilte sie in einem Zustand ruhelosen Schlafes, in der sie sich die ganze Zeit im Bett hin und her warf. Gelegentlich durchbrach sie ihr unheimliches, schreckliches Schweigen durch ein leises Stöhnen.

Leander, der sie Tag und Nacht von dem Stuhl bei der Tür oder dem Sofa am Ende des Himmelbetts beobachtete oder nervös in ihrem Zimmer auf und ab tigerte, war in einem ähnlichen Zustand der Stagnation. Er konnte weder trauern noch konnte er sich freuen. Sie war da, aber sie war es auch nicht, und der Arzt konnte ihm wenig Hilfreiches sagen.

»Sie ist stark, Leander. Aber sie hat Schreckliches durchgemacht. Ihr Geist und ihr Körper brauchen Zeit, um zu heilen. Zum Glück sind ihre Wunden nicht infiziert. Wenn sie bereit ist, wird sie aufwachen.«

Glück. Er glaubte nicht daran. Dieses Wort bedeutete gar nichts.

Mut. Tapferkeit. Trotzige, starrköpfige Tollkühnheit. Das waren Wörter, die ihm gefielen, denn diese Wörter beschrieben die Frau, die da so regungslos und tödlich blass auf dem Bett lag, die langen blonden Haare in seidigen Wellen auf dem Kissen.

Seine Schwester lebte noch – wenn auch nur gerade noch so –, weil Jenna mutig genug gewesen war, sie zu retten. Sie hatte sich für jemanden in Gefahr begeben, den sie kaum kannte. Wahrscheinlich war es ihr gelungen, Daria zu retten, indem sie einfach die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er stand auf eine Weise in ihrer Schuld, die sich gar nicht bemessen ließ. Doch seine Dankbarkeit wurde bei Weitem von der übergroßen Liebe verdrängt, die er für sie empfand. Es war Leidenschaft gepaart mit Respekt, die mit jedem Tag, seitdem sie sich das erste Mal begegnet waren, zugenommen hatte. Doch seine Liebe war wie eine unerblühte Blume noch immer in seinem Inneren gefangen, ohne dass er Jenna ihre Pracht hätte zeigen können.

Sie war sein Herz und sein Feuer. Er liebte sie mit jeder Faser seines Wesens, aber er hatte keine Ahnung, wie er ihr das sagen sollte. Nicht nach all dem, was er ihr angetan hatte.

Natürlich machte er sich die größten Vorwürfe. Für jeden Fehler, jeden falschen Schritt und jede verpasste Gelegenheit, die sie in diese Situation gebracht hatte, geißelte er sich tagtäglich aufs Neue. Er vermochte nicht, die Erinnerungen auszulöschen. Sie verfolgten ihn bis in den Schlaf, und er sah sie immer wieder vor sich, auch wenn er wach war.

Zuerst hatte er Jenna aus dieser schrecklichen Folterkammer befreit und dann seine Schwester. Er hatte ihre geschundenen Körper in Decken gehüllt und dabei wie ein Dämon geflucht. Selbst trug er eine blutdurchtränkte Hose, die er einem der toten Männer ausgezogen hatte. Wie ein Wahnsinniger war er dann nach Sommerley in einem Wagen zurückgerast, den er von den Expurgari gestohlen hatte.

Von den toten Expurgari.

Sollten sie auf alle Ewigkeit im Feuer der Hölle schmoren.

Doch es gab mehr, das wusste er – viele mehr als die wenigen, die er in London umgebracht hatte. Das war erst der Anfang. Er hatte Tage damit verbracht, Schlachtpläne zu entwickeln, um seine Kolonie zu sichern und sich und die Seinen auf einen langen, hässlichen Kampf vorzubereiten. Der Rat war jeden Tag zusammengekommen, und die Kriegsmaschine war angerollt.

Jeden Tag war er jedoch abgelenkt und mit den Nerven am Ende. Die schreckliche Vorstellung, dass Jenna vielleicht nie mehr aus ihrem unruhigen Schlaf erwachen könnte, überwältigte ihn fast vor Angst.

Er beobachtete sie frühmorgens, wenn die Sonne aufging und lavendelblau, rosa und silbern stumm durch einen Schlitz in den zugezogenen Vorhängen über die Bettdecke wanderte. Er legte seinen Finger auf den Puls an ihrem Handgelenk, wenn die Standuhr zwölf Uhr Mittag schlug. Er saß über lange, mondlose Nächte hinweg neben ihr und strich ihr immer wieder mit den Lippen über die Stirn, während er sie innerlich anflehte, doch endlich aufzuwachen.

Schließlich tat sie es.

Acht Tage vergingen, ehe sie die Augen öffnete, weitere zehn, bevor sie kräftig genug war, um aufzustehen. Doch sie blieb stumm und blass und ging nur in unsicheren, langsamen Schritten an seinem oder Christians Arm durch das Haus.

Leander hatte seinen Bruder aus der Zelle geholt und ihn um Vergebung dafür gebeten, dass er ihn dort hineingesteckt hatte. Er war durchgedreht, als Jenna weg war und musste seinen Zorn an irgendjemandem auslassen. An irgendjemandem. Doch jetzt konnte er keinerlei Zwietracht mehr in seiner Familie ertragen. Er konnte sich nicht auf den Krieg vorbereiten, wenn jeder, den er liebte, wenn das, was ihm alles bedeutete, zerbrochen zu seinen Füßen lag.

Unglaublicherweise vergab ihm Christian und erklärte, dass er ihn verstünde.

Leander wusste nicht, ob er an seiner Stelle auch so nachsichtig gewesen wäre.

»Du verdienst sie nicht, das weißt du.«

Sie saßen an einem warmen Vormittag nach dem Frühstück in der leeren Ostbibliothek und beobachteten Jenna durch die hohen Fenster. Sie stand regungslos im Rosengarten, das Gesicht dem klaren Sommerhimmel zugewandt.

Leander nickte nur zustimmend, als er Christians flapsigen Kommentar hörte. Er sah Jenna zu, wie sie sich hinabbeugte und eine Rose pflückte. Der azurblaue Seidenschal, den sie trug, lag um ihre Schultern, und der Saum ihres Rocks flatterte im leichten Wind. Als sie sich aufrichtete, zuckte sie zusammen. Er sah es selbst aus dieser Entfernung, wie sie die Luft einsog und ihr Gewicht auf eine Seite verlagerte, die offenbar weniger in Mitleidenschaft gezogen war. Dann atmete sie langsam aus und führte die Blüte an ihre Nase. Sie schloss die Augen.

Ihre Schultern entspannten sich und die seinen ebenfalls. Erst jetzt bemerkte er, dass er ein wenig nach vorn geschnellt war, als er ihr schmerzverzerrtes Gesicht gesehen hatte. Er atmete tief durch und sank dann auf den Stuhl zurück. Einen Moment lang packte ihn erneut die kalte Wut.

Sie würden dafür bezahlen, was sie ihr angetan hatten. Jeder Einzelne von ihnen. Bis auf den letzten Mann.

Als Christian Leanders Reaktion bemerkte, lächelte er ihn schief an. »Na ja, jedenfalls verdienst du sie fast nicht.«

Leander schüttelte langsam den Kopf, ohne Jenna aus den Augen zu lassen.

»Es ist sowieso egal«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Christian. »Sie wird mich nicht mehr wollen. Nicht nach all dem, was ich ihr angetan habe. Sobald sie wieder ganz gesund ist, wird sie gehen. Es gibt nichts, was sie hier hält.«

Christian lächelte ihn erneut schief an und führte dann eine Teetasse an seine Lippen. Das zarte Porzellan mit den winzigen gelben Blüten, die darauf gemalt waren, schien in größter Gefahr zu sein, zwischen seinen Fingern zu Staub zermalmt zu werden. »Du bist nicht halb so klug, wie du denkst, großer Bruder«, murmelte er.

Er nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse und hielt sie dann mit einem Stirnrunzeln von sich weg, als ob ihn etwas verärgert hätte. Dann stellte er die Tasse mit einem lauten Klirren auf die Marmorplatte des Tisches.

»Nur aus Neugier«, fügte Christian hinzu. Seine Stimme klang betont ruhig und klar. Seine Hände hatte er jetzt in seinem Schoß gefaltet, und man konnte die Knöchel der Finger weiß hervorstehen sehen. »Hast du ihr eigentlich schon von der Entscheidung des Rats erzählt?«

Leander warf ihm ein kleines, säuerliches Lächeln zu. »Vergiss nicht, von wem wir hier reden. Ihr ist völlig egal, was der Rat zu sagen hat. Sie wird sich seinen Regeln niemals beugen.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ich muss zugeben, ich kann es ihr nicht einmal vorwerfen.«

Jenna wandte sich um und sah Leander durch das Fenster direkt an. Fast schien es so, als ob sie seinen Blick bemerkt hätte. Ihr Gesicht war bleich und von der glänzend goldenen Haarmähne halb verdeckt, die in Wellen über ihre Schultern und ihren Rücken fiel.

Nur ihre Augen waren klar zu erkennen. Ihr Blick war kühl und ernst, die grünen Augen weit und groß.

Für einen Moment sahen sich die beiden an. Leander wäre am liebsten von seinem Stuhl aufgesprungen und zu ihr hinausgerannt. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und sie mit Küssen auf ihre Haare, ihre Wangen und ihre Lippen überschüttet. Doch in diesem Moment senkte sie den Blick und wandte sich ab. Sie zog den Seidenschal enger um sich und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, wobei diese Geste auf eine merkwürdige Weise zugleich abweisend, gleichgültig und doch auf eine höchst mädchenhafte Weise verletzlich wirkte. Die Rosenblüte segelte langsam vor ihr auf den Kiesboden.

»Na ja.« Christian erhob sich. Er warf einen letzten Blick auf Jenna, ehe er sich ganz Leander zuwandte. »Man kann nie wissen. Es könnte einen Unterschied machen. Du solltest es ihr zumindest sagen.«

Leander spürte die Hand seines Bruders auf seiner Schulter, nachdem er hinter seinen Stuhl getreten war. Einen Moment lang drückten Christians Finger leicht zu, ehe er sich abwandte und langsam durch die Bibliothek zur Tür lief. Sein Gang wirkte schwerfällig, die Haltung gebeugt. Als er wieder zu den Fenstern sah, war Jenna verschwunden.

Die Tage gingen vorüber, aber Jenna brach ihr Schweigen nicht. Ihre Haut wirkte noch immer unnatürlich blass, und sie schien so ernst und in sich gekehrt, dass Leander wusste, wie recht er hatte. Sie würde abreisen, sobald sie dazu in der Lage war.

Es war nur eine Frage der Zeit.

Er fand sie eines frühen Abends dösend in einem Schaukelstuhl, der sich in einem unbenutzten Schlafzimmer im ersten Stock des Hauses befand. In ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein kleines Feuer prasselte im Kamin. Orangefarben und gelb glühende Holzscheite wurden zu Glut und Asche. Er beobachtete sie eine Weile von der Tür und sah zu, wie ihr Gesicht von den letzten Sonnenstrahlen erhellt wurde, während sich ihre Brust langsam hob und senkte.

Ihre nackten Füße sahen unter dem Rand der gestrickten Wolldecke hervor, die auf ihrem Schoß und ihren Beinen lag. Der Anblick dieser blassen und zerbrechlich wirkenden Zehen, die sich so deutlich von dem dunklen Holz des Bodens abhoben, versetzte ihm unerwartet einen schmerzlichen Stich.

»Du weißt schon, dass du das ziemlich oft machst«, murmelte sie und streckte sich. Sie sah ihn mit schweren Lidern an, die honigfarbenen Haare zerzaust auf ihren nackten Schultern.

»Was mache ich ziemlich oft?«, fragte er und lehnte sich an den Türrahmen.

Sie schürzte die Lippen und musterte ihn einen Moment lang von Kopf bis Fuß, ehe sie antwortete. »Mich anstarren.«

»Tue ich das? Nun, das tut mir leid. Ich war mir dessen gar nicht bewusst.«

Auf einem Sekretär in der Nähe ihres Schaukelstuhls stand eine Kristallvase voll scharlachroter Rosen. Ihr Duft erfüllte die Luft. Leander betrat das Zimmer und schlenderte zu den Blumen, um eine Blüte zwischen die Finger zu nehmen. Er stellte sich vor, wie Jenna die Blumen gepflückt und die Vase mit Wasser gefüllt hatte, um sie in diesen leeren, stillen Raum zu bringen und ihn mit Leben zu erfüllen. Er fragte sich, ob das etwas bedeutete.

»Doch, das tust du. Du hast mich sogar im Schlaf beobachtet«, beschuldigte sie ihn sanft.

Er drehte sich zu ihr um, ehe er seine Überraschung unterdrücken konnte. Sie sah ihn durch ihre langen Wimpern an, wobei ihre Miene entweder Neugier oder Unwohlsein oder Verachtung widerspiegelte. Er wusste es nicht. Sie sahen sich durch den Raum hinweg an, während sich die untergehende Sonne orangefarben, ingwergelb und golden in leuchtenden Prismen auf dem glänzenden Boden brach. Jennas Blick fiel auf ihre Hände und das aufgeschlagene Buch in ihrem Schoß. Sie klappte es entschlossen zu und legte es auf das Tischchen aus Palisanderholz, das neben ihrem Schaukelstuhl stand.

»Woher weißt du das?« Leander musste sich sehr anstrengen, gelassen zu klingen. »Warst du wach?«

Sie lächelte. Ihr Lächeln wirkte ein wenig traurig, wie sie so in die Ferne blickte. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ob ich wach bin oder schlafe, es scheint so, dass ich dich immer … fühlen kann«, erwiderte sie leise. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß, dann rieb sie sich die Oberarme.

»Ja, verstehe.« Er trat näher zu ihrem Schaukelstuhl, wobei er die samtig weiche Rose noch immer in der Hand hielt. Er rieb die Blütenblätter zwischen seinen Fingern und stellte sich die seidige Festigkeit von Jennas Haut vor, wenn er sie berührte. »Morgan hat uns von deiner Gabe erzählt. Deiner ziemlich … außergewöhnlichen Gabe.«

Er blieb neben dem Fenster stehen und blickte zum Himmel hinauf. In der Scheibe spiegelte sich Jennas Bild wie die Erscheinung eines Geistes. »Du kannst uns also alle sehen? Du kannst uns alle spüren? Überall und jederzeit?«

Sie rutschte auf dem Schaukelstuhl hin und her, und er drehte sich zu ihr um, um sie anzusehen. Da sie den Kopf gesenkt hatte, fielen ihr die Haare golden und schimmernd über das Gesicht, das er so nicht mehr sehen konnte. »Einige stärker als andere.«

Er verstand die Andeutung, doch sein Ego wollte, dass sie es laut aussprach. »Du meinst … mich?«

Sie zog die Knie hoch und legte ihr Kinn darauf. Ihr geblümtes Baumwollkleid fiel über ihre nackten Beine, ehe sie die Wolldecke wieder darüberzog und die Arme um ihre Schienbeine schlang. »Ja«, murmelte sie leise. »Vor allem dich«, fügte sie düster hinzu.

Er wartete einen Moment, ob sie noch mehr sagen würde. Doch sie blieb, wie sie war, die Augen gesenkt, still schweigend und einen Schleier aus Haaren vor dem Gesicht.

»Ich habe Morgan nicht umgebracht«, sagte er schließlich.

»Das habe ich gehört«, erwiderte sie. Ihre Finger vergruben sich in ihren Oberarmen. »Aber du hast sie auch nicht freigelassen.«

Schwang in ihrem weichen Tonfall ein Anflug von Verurteilung mit? Zeigte sich in ihrem kaum sichtbaren Gesicht leichte Abscheu?

»Ihr Verrat hat uns schwer getroffen, Jenna. Wir haben einige unserer Männer verloren, und unsere Verteidigungslinien wurden durchbrochen. Unsere sichere Existenz steht auf dem Spiel. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Und du …«

Er brach abrupt ab. Als er weitersprach, klang seine Stimme sehr dunkel. »Und ihr Verrat hätte dich beinahe das Leben gekostet. Was hätte ich denn anderes tun sollen?«

»Ich habe viel darüber nachgedacht«, erklärte sie ruhig und blickte zu ihm auf. »Und um ganz ehrlich zu sein … Ich weiß es auch nicht.« Ihre Augen waren so klar, dass sie in dem Licht beinahe farblos wirkten. Er konnte ihren Ausdruck nicht deuten. »Aber ich habe etwas versprochen, und dieses Versprechen muss ich halten. Irgendwie.«

Sie brach ab, und er sah sie stirnrunzelnd und abwartend an. Doch sie fügte nichts hinzu, sondern sah ihn nur ausdruckslos an.

Sie musterte sein Gesicht und dann wanderte ihr Blick zu seiner Brust, wo sich unter dem offenen Kragen seines Hemds eine weiße Bandage zeigte.

»Du bist verletzt«, murmelte sie.

Er bedachte sie mit einem trockenen Lächeln. »Ich werde es überleben. Tut mir leid. Es ging nicht sehr tief, nicht im Vergleich …« Sein Lächeln verschwand. Stattdessen begannen seine Kiefermuskeln zu zucken, und er wandte den Blick von ihr ab auf die Blütenblätter, die er in seiner Faust zerrieben hatte. Langsam ließ er sie auf den Boden rieseln.

»Wie geht es Daria?«, fragte sie nach einer Weile leise. »Christian hat mir gesagt, dass sie sich besser erholt als erwartet. Viel besser. Aber …« Sie schluckte und senkte den Blick, ehe sie ihre Beine fester an ihren Körper zog. »Sie sah so schrecklich aus. Ich dachte, dass er mich vielleicht aufmuntern will, indem er die Tatsachen ein wenig beschönigt.«

Leander sah sie an. Sie hatte ihre Unterlippe zwischen ihre Zähne gezogen und schaukelte sehr langsam auf dem Schaukelstuhl vor und zurück.

»Noch ist es zu früh für Spekulationen. Der Arzt hat gemeint, dass höchstwahrscheinlich etwas zurückbleiben wird. Außerdem«, fügte er schärfer als beabsichtigt hinzu, »wird sie auf jeden Fall viele Narben behalten.«

Jenna legte eine blasse Hand auf ihre Augen. »Mein Gott, wenn ich doch nur früher da gewesen wäre«, flüsterte sie. »Ich habe so lange gebraucht, um sie zu finden. Beinahe den ganzen Tag. Wenn ich schneller gewesen wäre …« Bebend holte sie Luft und schüttelte den Kopf. Sie kniff die Augen zu. Tränen sammelten sich unter ihren Wimpern. Mit den Fingern wischte sie diese hastig fort.

»Jenna«, sagte Leander mit rauer Stimme. »Es ist nicht deine Schuld. Wenn du sie nicht gefunden hättest, wenn du nicht nach ihr gesucht hättest, wäre sie jetzt tot. Was du getan hast, das ist …«

Ihm fehlten die Worte.

Als er sie nun so wunderschön, fragil und sichtbar niedergeschlagen sah und wie das Licht der untergehenden Sonne ihr Gesicht wie ein zärtlicher Liebhaber berührte, versetzte ihm das erneut einen schmerzhaften Stich. In seinem Inneren begann ein Feuer zu lodern, das ihm fast den Atem raubte. Er versuchte, Luft zu holen, versuchte, nicht die Nerven zu verlieren, doch das schien ihm auf einmal kaum mehr möglich zu sein.

Wie viel Zeit blieb ihm übrig? Wie viele Tage oder Stunden oder Minuten, bis sie ihn mit einem riesigen Loch in der Brust an der Stelle, wo sein Herz gewesen war, zurückließ?

Die Vorstellung, ohne sie zu leben, brannte sich wie Säure in ihn.

»Also …« Sie holte tief Luft, sammelte sich und setzte sich aufrecht in ihrem Schaukelstuhl hin, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. Dann betrachtete sie ihre Finger und fragte mit einer leisen, kleinen Stimme: »Wann gedenkst du es zu tun?«

Die Hoffnungslosigkeit, die in ihrem Ton lag, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er runzelte die Stirn.

»Was?«

Sie warf ihm einen düsteren, resignierten Blick zu. »Mich einsperren.«

Er starrte sie entsetzt an.

»Mit Morgan«, erklärte sie, als er nicht antwortete.

»Mit wem? Warum? Was?«, stotterte er.

Sie winkte mit einer blassen Hand ab, wobei ihre Geste schwach und erschöpft wirkte. »Du musst nicht so tun, als ob du nicht wüsstest, wovon ich spreche, Leander.« Sie seufzte. »Ich weiß, du glaubst, dass ich Morgan geholfen habe. Du hast mich dessen vor dem Rat bezichtigt. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Außerdem bin ich erneut weggelaufen und habe das Gesetz gebrochen. Ebenfalls zum wiederholten Mal. Das ist doch deine Aufgabe, nicht wahr? Sicherzustellen, dass das Gesetz eingehalten wird, um die Kolonie zu beschützen.« Sie starrte ihn an. Ihr Blick wirkte grimmig, aber entschlossen. »Den Feind zu bestrafen.«

»Jenna«, sagte Leander betroffen. In seinen Augen spiegelte sich der Schock wider. Sein Gesicht war bleich geworden. Er kniete sich auf den Boden vor sie hin und fasste nach ihren Händen, um diese festzuhalten. »Wie kannst du so etwas glauben? Wie kannst du annehmen, dass ich dir wehtun will?«

»Weil du …«, begann sie langsam und blinzelte unsicher. »… weil du es selbst gesagt hast. An jenem Abend bei der Ratsversammlung. Du hast gesagt …«

»Ich habe dich gefragt, ob du mir etwas zu sagen hättest«, unterbrach er sie, ehe sie zu Ende sprechen konnte. »Du hasst es, herumkommandiert zu werden. Das hast du mir selbst erklärt. Ich hatte gehofft, dass du aufhören würdest, dich vor mir zu verstecken, dass du aufhören würdest, Geheimnisse vor mir zu haben. Ich wollte dir nur die Chance geben, es mir freiwillig zu sagen. Du warst immer so trotzig, immer so eigenwillig. Ich wollte dich zu nichts zwingen – nicht mehr. Ich wollte nur, dass du etwas vor mir zugibst, was ich bereits wusste …«

»Das du bereits wusstest?« Sie löste die Hände aus den seinen. Die Wolldecke rutschte herab und legte sich um ihre Füße. Sie stieg darüber hinweg, ging zum Bett und setzte sich aufrecht, ja geradezu starr auf den Rand der Matratze.

Ihre Stimme klang seltsam und wackelig. »Was soll das heißen? Was genau hast du bereits gewusst?«

Auch Leander erhob sich. Sein Herz pochte wild in seiner Brust. »Was du bist. Wer du bist.«

Sie wandte ihren Kopf nur um wenige Millimeter zur Seite, sodass er ihr Profil sehen konnte. Geschürzte Lippen, gerötete Wangen, lange, geschwungene Wimpern. Ihre Finger vergruben sich in dem Pelzüberwurf, der sich auf dem Bett befand.

»Und wer soll das sein, Leander?«, erkundigte sie sich steif.

Mit langsamen, gemessenen Schritten kam er auf sie zu, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. Der Duft nach Rosen und nach ihr stieg ihm warm in die Nase, und das Licht der untergehenden Sonne durchflutete jetzt das Zimmer. Ihre Haare schienen zu lodern. Er blieb vor ihr stehen und legte einen Finger unter ihr Kinn. Sie sah ihn an.

Jenna hob die Augen, und ein Sonnenstrahl fiel über ihr Gesicht. Der Strahl ließ ihre Iriden smaragdgrün leuchten, als ob er sich in den Prismen eines Edelsteins brechen würde.

»Also …«, flüsterte sie. »Wer bin ich?«

»Du bist Königin der Ikati«, murmelte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Meine Königin. Mein Herz und meine Seele … Meine wahre Liebe.«

Ihre Lippen öffneten sich. Sie blinzelte nicht und sprach auch kein Wort.

»Du bist die Frau, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Die Frau, für die ich ein besserer Mann werden will und von der ich glaube, dass ich mit ihr endlich der Mann sein kann, der ich schon immer sein wollte.«

Er setzte sich neben sie auf die Matratze und umfing ihr Gesicht mit beiden Händen, sodass sie sich ihm ganz zuwenden musste. »Du bist alles, was ich jemals wollte. Und die Vorstellung, dass du gehen wirst, dass du nur darauf wartest, bis du kräftig genug bist, um von hier fortzugehen – diese Vorstellung bringt mich um.«

Jenna starrte ihn an. Ihr Mund stand offen, und sie war bleich wie ein Laken. Das Feuer im Kamin knisterte leise. Ein Holzscheit fiel herab. Irgendwo draußen begann eine Nachtigall zu singen.

»Und ich«, brachte sie schließlich über die Lippen und blinzelte, um die Tränen, die ihr in die Augen getrieben waren, zu vertreiben, »ich dachte, dass ich gar nicht von hier weg darf.« Sie senkte den Blick, doch er sah noch das winzige Lächeln, das ihr über die Lippen huschte.

»Ganz im Gegenteil.« Er erlaubte sich, ebenfalls zu lächeln. »Der Königin ist eine überraschend große Anzahl von Freiheiten gestattet.« Er nahm ihr Handgelenk und führte es an seine Lippen, ehe er ihre Hand auf seine Wange presste.

Nun schenkte sie ihm ein richtiges Lächeln. »Da ist schon wieder dieses Wort«, sagte sie, die Augen noch immer nach unten gerichtet. »Ich glaube nicht, dass ich diesen Titel haben möchte.« Sie hielt inne. »Jedenfalls verdiene ich diesen Titel nicht.«

»Der Rat findet schon, dass du ihn verdienst«, sagte er. Er strich mit seiner Wange über ihren Unterarm bis zu ihrer Ellbogenbeuge, wobei er tief den Duft ihrer Haut in sich einsog. Dann verfolgte er den gleichen Weg zurück zu ihrem Handgelenk, diesmal jedoch mit Küssen.

Jenna blickte überrascht auf.

»Es kam zu einer Abstimmung, wobei mehrere wichtige Dinge berücksichtigt wurden. Zum einen ist da die Frage deiner Abstammung. Du hast ein sehr mächtiges Erbe. Da dein Vater der einzige Leibwandler war …«

»Was zum Teufel heißt das?« Jenna entwand ihm ihren Arm und beugte sich vor, um ihn durchdringend anzusehen. »Weymouth hat das auch bereits zu mir gesagt, an jenem Abend bei der Ratsversammlung. Was bedeutet das?«

Leander starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen überrascht an. »Das musst du doch wissen«, erwiderte er. »Du musst es gesehen haben, als du ein Kind warst. Deine Mutter muss es dir erzählt haben …«

Jenna schüttelte den Kopf.

Leander nahm sanft ihre Hände in die seinen. »Es ist ein Begriff, den wir von den Indianern übernommen haben. Es ist das einzige Wort, das unserer Meinung nach beschreibt, wozu er in der Lage war.«

»Wozu war er in der Lage?«, hauchte Jenna.

Leander zögerte. Er strich mit seinem Daumen über ihre Hände, um sie so zu liebkosen und zu wärmen. »Jenna, dein Vater konnte sich in jede Gestalt verwandeln, in die er sich verwandeln wollte«, sagte er leise. »Nicht nur in Nebel oder in einen Panther. In jedes Tier auf diesem Planeten. Er konnte zu jedem Menschen werden, dem er ähneln wollte. Er konnte alle organischen Formen annehmen, zu allen Elementen werden und zu allen unbelebten Dingen. Wind. Wasser. Feuer. Ein Baum. Eine Lampe. Einfach alles.«

Sie starrte ihn atemlos an. Ihr Puls schlug so laut, dass er sein Echo in seinen eigenen Ohren zu hören glaubte.

Dann gab sie einen Ton von sich, den er nicht ganz einzuordnen vermochte. Sie dachte an jene Nacht auf der Veranda in Hawaii, die schon so lange vorbei war. An ihren Vater. An die Krähe. An den Schmetterling.

Leander lächelte, als er sah, wie sich in ihrem Gesicht etwas änderte. Er hob die Hand, um ihr über die Wange zu streichen.

»Wo war ich? O ja, zweitens gab es da Morgans Bericht von deinen verblüffenden Fähigkeiten, die der Rat ebenfalls mit einbezog. Und schließlich die Tatsache, dass du dein Leben riskiert hast, um Daria zu retten, was, wie sogar Durga zugeben musste, etwas ist, das nur jemand mit einem reinen Herzen tun würde. Danach wurde beschlossen, dass, nach abgeschlossener Beweisaufnahme, du die Königin bist.«

Jenna schluckte und winselte. Ihr Atem kam nur noch stoßweise. »Nach abgeschlossener Beweisaufnahme? Aber ich … Ich kann mich nur in Nebel verwandeln … und dann einmal in einen Panther.«

Sein Finger strich immer wieder über ihre Wange, während sein Lächeln breiter wurde. »Die Ikati haben eine uralte Regel: Blut folgt Blut. Wozu dein Vater in der Lage war, das könnte sich auch in deinem Blut wiederfinden. Höchstwahrscheinlich tut es das auch. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass wir alle recht gespannt sind, es herauszufinden.«

Auf seiner Wange zeigte sich ein Grübchen. »Einige von uns mehr als die anderen.«

Jenna starrte ihn an. Sie nahm mehrmals Anlauf, um etwas zu sagen, fand jedoch nicht die richtigen Worte.

»Ich … Ich …«, brachte sie schließlich heraus. Sie senkte den Blick wieder auf das Bett und malte dann mit einem Finger Kreise auf den Pelzüberwurf zwischen ihnen. »Ich verstehe. Ja. Das ist alles sehr … interessant.« Bebend holte sie Luft. »Kann man wohl so sagen. Aber …«

Sie richtete den Blick direkt auf ihn und sah ihn mit ihren kühlen grünen Augen ruhig an.

»Ich will nicht eure Königin sein.«

»Vielleicht ein anderer Titel?«, schlug er vor, während er sie nicht aus den Augen ließ. »Herzogin? Kaiserin? Diejenige, der man Gehorsam schuldet?«

Ihre Miene wurde säuerlich. »Ihr Engländer seid viel zu titelversessen.«

Er antwortete ihr nicht, sondern wartete, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

»Was soll es bringen, über ein Volk zu … herrschen, das nichts selbst bestimmen kann, das sein Schicksal nicht in der Hand hat – über ein Volk, das nicht einmal entscheiden darf, wer wen heiraten darf? Über Leute, die mich dafür hassen, weil ich etwas habe, was sie nicht haben: Freiheit.« Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir schon einmal gesagt. Du hast keine Ahnung, wie wunderbar es ist, frei zu sein. Wenn ich die … Wie immer du mich nennen willst … wenn ich also diese Königin bin und eine Wahl habe, dann wähle ich meine Freiheit.«

»Dann hast du also nicht den Wunsch, das Gesetz zu ändern«, stellte Leander nüchtern fest.

»Ändern?« Sie runzelte die Stirn, während er sie gelassen ansah. Er hatte etwas rätselhaft Schönes an sich, und sie bewunderte das Licht, das rotgolden über seine Haut spielte. »Was meinst du mit ändern?«

»Na ja«, erwiderte er noch immer völlig gelassen, während er seine Augenbrauen hochzog. »Wer glaubst du wohl wäre in der Lage, das Gesetz zu ändern, wenn nicht die Königin?«

Sie brauchte eine halbe Minute, bis sie ihn verstanden hatte. Das Blut begann in ihren Ohren wie ein reißender Strom zu rauschen.

»Aha. Veränderungen. Ja. Verstehe.« Sie räusperte sich. »Ich habe gedacht, das Gesetz wäre viel zu strikt für so etwas. Despotisch.«

Er nickte ernst. »Archaisch.«

»Ja, genau. Es müssen dringend ein paar … Erneuerungen her.«

»Angleichungen«, stimmte er zu.

»Hm. Ja, das Gesetz muss dringend umstrukturiert werden. Und wenn nur die Königin diese Art von Veränderungen veranlassen kann …« Sie richtete sich auf.

Leander beobachtete, wie sie die Lippen schürzte, die wie reife Kirschen auf ihrer milchig weißen Haut schimmerten.

»Du solltest es als Gelegenheit sehen, die Fehler eines unvollkommenen Systems auszumerzen«, flüsterte er. »Den Unterdrückten die Freiheit zu geben. Du könntest das Gesetz der Ikati ins einundzwanzigste Jahrhundert bringen.«

Ihre gesenkten Wimpern warfen einen seidig dunklen Schatten auf ihren Wangen. »Ich habe mich eigentlich nie als jemand gesehen, der sich für Veränderungen starkmacht …« Ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir Freiheit doch besonders am Herzen liegt.«

»Ganz abgesehen von dem Brechen von Regeln und deinen aufrührerischen Tendenzen«, fügte er hinzu. Sie blickte zu ihm auf. Sein Gesicht wirkte gelassen, doch seine Augen funkelten belustigt.

»Und vergiss nicht die Klunker«, sagte sie.

Sein Lächeln wurde breiter, während seine Hand ihren Arm bis zu ihrer Schulter hochwanderte. Zärtlich streichelte er ihre nackte Haut. Er legte seine Finger um ihren Nacken und vergrub sie dann in der kühlen Masse ihrer Haare. »Große Klunker, wenn ich mich recht erinnere«, sagte er heiser.

Seine Augen begannen heller und intensiver zu leuchten, als er ihren Kopf zu sich heranzog.

Sanft strich er mit den Lippen über ihren Wangenknochen und ihre Schläfe. Er strich ihre Haare zur Seite und knabberte an ihrem Hals. »Und natürlich der so geliebte Kniefall«, sagte sie atemlos.

Er lachte leise in ihr Ohr und legte dann seine Arme um sie, damit er sie enger an sich ziehen konnte. Auch sie schlang ihre Arme um seine Schultern. »Dazu wollte ich gerade kommen«, murmelte er und drückte sie fester an sich. Ein spöttischer Seufzer kam ihm über die Lippen. »Wie viel einfacher mein Leben doch wäre, wenn ich nicht in eine so willensstarke, fordernde Frau verliebt wäre. Ich glaube, du wirst meinem Bluthochdruck gar nicht guttun.«

»Stimmt«, entgegnete sie und legte den Kopf an den seinen. »Ich befürchte, ich werde eine sehr schwierige Ehefrau werden. Sehr wartungsintensiv, könnte man wohl sagen.«

Ehefrau. Sein Herz begann in seiner Brust anzuschwellen und schien so groß zu werden, dass er befürchtete, es könnte zerreißen.

»Ein richtiger Teufelsbraten«, murmelte er und drückte die Lippen auf ihren Mundwinkel. Er spürte, wie sie lächelte, als er sie berührte.

»Für dich immer noch Königin Teufelsbraten, Liebster«, hauchte sie und legte sich auf die Kissen zurück. Sie streckte die Arme nach ihm aus, und er beugte sich über sie und strahlte sie an. Diesmal war sein Lächeln offen und ohne Zwischentöne.

»Ja, mein Gott«, flüsterte er. Er beugte den Kopf herab, um die zarte Haut ihres Halses zu küssen. Seine Lippen wanderten zu ihren Brüsten hinab, die einladend oberhalb des Ausschnitts ihres Kleides herausspitzten. »Sag es noch einmal.« Seine Finger entdeckten die feinen Perlenknöpfe ihres leichten Sommerkleids, und er öffnete die ersten.

»Königin …« Sie brach ab, als er mit der Zunge die Haut erkundete, die sich unter den geöffneten Knöpfen zeigte. Ihre Finger vergruben sich in seinen Haaren, ihre Lippen näherten sich seinem Nacken. »Königin Teufelsbraten?«

»Nein, das andere«, murmelte er leise lachend, ohne mit dem Küssen ihres Dekolletés inne zu halten. Dann hob er den Kopf und sah ihr tief in die Augen, während eine Hand ihr Gesicht umfasste.

»Oh, warte mal.« Sie tat so, als ob sie nachdenken müsste. Ihr Blick wanderte zur Decke, und sie runzelte die Stirn. »Ich bin etwas müde. Mein Gedächtnis funktioniert nicht mehr ganz so gut …«

»Liebster«, sagte er und sah sie finster an. »Du hast Liebster gesagt. Und ich will es noch einmal hören.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Und ich soll die Fordernde sein?«

»Jenna.«

»Und was die Dickköpfigkeit betrifft …«

»Jenna!«

»Liebster«, flüsterte sie nachgebend, während sie ihn mit leuchtenden, offenen Augen ansah. »Ich gebe es zu. Du bist mein Liebster, mein Leben. Und es gibt nichts in der Welt, das mich wieder von dir wegbringen könnte. Nicht einmal eure lächerlichen Titel.«

»Meine Schöne«, hauchte er. Dann ließ er alle Vorsicht fahren und gab sich ganz ihrem geschmeidigen, weichen Körper und ihrem leidenschaftlichen Herzen hin. Er presste seine Lippen auf die ihren. Das Tier in ihm erwachte, streckte sich und brüllte »Ich will, ich brauche«, bis er kaum mehr hörte, was er noch zu Jenna sagte. »Große Klunker und Kniefälle werden nur der Anfang sein. Ich werde dich jeden Tag für den Rest unseres Lebens auf Händen tragen.«

Damit senkte er den Kopf und drückte erneut seine Lippen auf die ihren.

Später, viel später, nachdem das Feuer zu Glut und Asche herabgebrannt war und ein riesiger, leuchtender Mond im Himmel stand, beobachtete Jenna Leander im Schlaf.

Er schlief auf dem Rücken, einen Arm um ihre Schultern gelegt, sein Gesicht in ihre Haare gedrückt. Sie lag auf der Seite neben ihm und fuhr mit den Fingern über seine muskulöse Brust und die Ränder der weißen Bandage. Seine Haut fühlte sich überall wunderbar warm an.

Wieder verspürte sie dieses sehnsüchtige Gefühl, von dem sie jetzt wusste, dass es Glück war. Es kam ihr nicht nur unbekannt, sondern auch schrecklich zerbrechlich und beängstigend vor. Sie fragte sich, wie vielen Leuten es wohl möglich war, damit zu leben. Wie ein scheues, wildes Tier schien es jeden Moment davonstürmen zu wollen.

Sie lächelte wehmütig. Allmählich begann sie zu verstehen, was in wilden Tieren vor sich ging. Sehr gut sogar. Vielleicht würde sie eines Tages auch dieses schwer einschätzbare Tier namens Glück besser kennen.

»Woran auch immer du denkst, denk weiter daran«, murmelte Leander und öffnete die Augen, um sie mit einem schläfrigen Lächeln anzusehen. Er rollte sich auf die Seite und zog sie sanft an sich. Sie spürte den glatten Satinstoff unter der Haut und legte den Kopf zur Seite, um Leander besser zu sehen. Im dunklen Zimmer schien er nur aus Schatten und Lichtreflektionen zu bestehen, wobei sich seine grünen Augen von der warmen, braunen Haut seines Gesichts abhoben.

»Es war nichts Wichtiges«, sagte sie und streichelte mit den Fingerspitzen seine Schultern. »Du weißt schon: Was ist Realität? Was bedeutet unser Leben? Solche Sachen.«

Er beugte den Kopf herab, um an ihren Lippen zu knabbern. Seine weichen Haare fielen duftend auf ihren Hals. »Das klingt schrecklich langweilig.« Liebevoll nahm er ihre Hand und schob sie unter die Decke zwischen seine Schenkel. Seine Erektion drängte bereits gegen ihre Hüfte. »Ich bin mir sicher, dass wir ein paar aufregendere Themen finden könnten.«

»Es gibt bestimmt Leute, die es aufregend finden, über die Bedeutung des Lebens zu diskutieren«, entgegnete sie keck und schenkte ihm ein sinnliches Lächeln.

»Aber keiner in diesem Zimmer«, gab er zurück und übersäte ihr Schlüsselbein mit Küssen.

»Und was ist mit der Zukunftsfrage? Vielleicht sollten wir über die Zukunft reden.«

Er hielt inne und hob den Kopf, um sie genauer zu mustern. »Du wirst mir doch jetzt nicht sagen, dass du deine Meinung geändert hast? Über uns? Bin ich zu schnell eingeschlafen? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Er bemühte sich, sich aufzusetzen. »Habe ich etwa geschnarcht?«

Sie drückte ihn in die Kissen zurück und versuchte, nicht zu lachen. »Nein! Du hast nichts Falsches gesagt, und du schnarchst auch nicht!« Sie senkte den Blick und strich mit dem Finger über den Rand seiner Bandage. Ihre Haare fielen in sein Gesicht. »Wobei ich zugeben muss, dass du wirklich schnell eingeschlafen bist. In fünf Sekunden. Du solltest vielleicht einen Arzt aufsuchen.«

»Es ist nicht meine Schuld, dass du so verdammt wunderschön bist und ich deshalb nicht an mich halten kann«, erwiderte er sichtbar entspannt. Er hob die Hand und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Jenna schmiegte sich wieder an ihn, und er lächelte. »Einfach nicht mehr an mich halten«, wiederholte er. »Bis ich völlig erschöpft bin.«

»Bist du ohnmächtig wirst«, verbesserte ihn Jenna und blinzelte unter ihren Wimpern zu ihm auf.

Er strich mit dem Finger über eine rote Narbe, die ihre Schulter entstellte. Er folgte der Spur eines Messerstichs. Sein Lächeln verschwand.

»Ich habe dir doch nicht wehgetan«, fragte er und beugte sich zu ihr hinüber, um ihr einen flaumleichten Kuss auf die Schulter zu drücken. »Ich habe mich doch nicht vergessen und dir wehgetan.«

Er blickte zu ihr auf, und sie sah die Selbstvorwürfe und die Qualen in seiner Miene. »Du bist noch immer nicht gesund. Du bist noch immer höchst fragil. Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich hätte warten sollen …«

»Wenn du gewartet hättest, hätte ich mich auf dich gestürzt, und das wäre doch wohl kaum ein angemessenes Verhalten für eine Königin gewesen!« Jenna strich mit der Hand über sein Gesicht, seine Augenbrauen, seine Stirn. »Es geht mir gut, Leander. Ich bin nur etwas wund.«

»Von mir oder von …«

Er beendete die Frage nicht. Sie hatte ihn noch nie so beunruhigt oder auch so schön gesehen. In seinen Haaren spiegelte sich das Licht der Mitternacht, und die Strähnen schimmerten onyxschwarz, nerzgrau und indigoblau.

»Du hast mir nicht wehgetan«, erklärte sie langsam und legte beide Hände an sein Gesicht. »Falls du den Unterschied nicht bemerkt haben solltest: Das waren Seufzer der Lust, mein Liebster.«

Er atmete erleichtert auf, schloss die Augen und legte seinen Kopf an den ihren. »Nichts darf dir jemals wieder wehtun«, flüsterte er in ihr Ohr. »Niemand – weder ich noch diese Schweinehunde. Als ich dich da so gesehen habe, angekettet und bleich wieder der Tod, und all das Blut …«

Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Eine Weile sagte sie nichts. Jenna legte ihre Hand auf seine Brust, wo sie sein Herz kraftvoll und unruhig schlagen spürte.

»Ich dachte, ich werde verrückt«, meinte er schließlich und drückte sie enger an sich. »Ich bin so was wie verrückt geworden. Und als du dann so lange nicht aufgewacht bist …«

Sie lag still und fast regungslos neben ihm, während sie seinem Herzen nachspürte und die Stärke seiner Arme genoss, die sie an ihn zogen.

»Sie werden dafür bezahlen, was sie getan haben«, flüsterte er leidenschaftlich. »Sie werden dafür mit ihrem Blut bezahlen.«

»Ja«, erwiderte Jenna leise. Sie streichelte seinen Rücken und ließ dann ihre Finger über sein Rückgrat wandern. »Ich weiß. Und wir werden diesen Krieg gewinnen – oder was immer es ist. Weil wir stärker als sie sind. Klüger.«

»Besser«, erklärte er heiser.

Sie nickte und rieb ihren Kopf an seiner Schulter. »Und besser informiert.«

Er blickte zu ihr auf und sah sie abwartend und fragend an.

»Ein Gutes hatte das Ganze nämlich«, sagte sie ernst und leise, während sie sein Gesicht musterte. »An dem Tag, an dem ich Daria gesucht habe … An dem Tag, an dem sie mich erwischt haben, da gab es eine gute Sache.«

Seine Miene verdüsterte sich. »Das kann ich mir kaum vorstellen, dass es da irgendetwas Gutes gab.«

»Er hat mich berührt«, flüsterte Jenna.

»Dessen bin ich mir durchaus im Klaren«, erwiderte Leander steif. Er löste sich von ihr und setzte sich aufrecht hin, die Arme um seine Knie geschlungen. Die Decke legte sich in Falten um seine Taille. »Ich bin mir durchaus bewusst, was sie dir angetan haben.«

Jenna setzte sich ebenfalls auf und schob ihre Hand über seinen Rücken, wo sie die festen Muskeln unter seiner glatten Haut spürte. Sein Haar fiel seidig auf seinen Nacken. »Nein, ich habe damit gemeint, dass er mich berührt hat. Ihr Anführer. Mit seiner bloßen Hand.«

Er brauchte einen Moment, bis er begriff, was sie meinte. Fassungslos drehte er sich zu ihr und starrte sie an. Das Mondlicht fiel durch das Fenster hinter ihm, sodass sie seine Miene nicht ausmachen konnte.

»Willst du damit sagen …«

»Genau«, unterbrach sie ihn. »Das will ich damit sagen.«

»Du konntest also …«

»Alles sehen. Seine Erinnerungen, seine Gedanken.« Ihre Stimme klang düster. »Seine Pläne.«

Eine Zeit lang war nur Leanders Atmen und das leise Knistern des verlöschenden Feuers im Zimmer zu hören. Nach einer Weile beugte sich Leander zu Jenna und drückte sie mit einer sanften Geste wieder auf die Matratze zurück.

»Erzähl mir davon«, bat er sie leise und legte sich mit abgestützten Ellenbogen neben sie. Seine Augen funkelten.

»Es wird nicht leicht werden«, begann Jenna stockend. »Es gibt so viele von ihnen. Sie sind völlig durchorganisiert und sehr …« Sie schnitt eine Grimasse, ehe sie entschlossen fortfuhr. »… sehr gut ausgebildet. Der Anführer dieser kleinen Gruppe war innerhalb ihrer Organisation nicht sonderlich weit oben. Sie wissen alles über die Kolonien außer über eine. Und sie sind wirklich fanatisch. Sie wollen die Kolonien infiltrieren und angreifen. Sie wollen uns alle auslöschen, egal, was dazu nötig ist.«

Sie presste ihre Wange an seine Schulter und schloss die Augen. »Sie hassen euch … uns. Es ist blanker Hass.«

»Verstehst du jetzt, warum wir uns all die Jahre versteckt haben?«, fragte Leander flüsternd. Er strich mit den Fingern über ihre Lippen und wanderte dann zu ihrem Wangenknochen und ihrem Kinn. »Man hasst, was man nicht versteht, was anders ist, als man selbst. Sie hassen uns, und sie wollen uns auslöschen. Die menschliche Natur ist durchwirkt von Gewalt und Intoleranz, die sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte ziehen.«

»Meine Mutter war ein Mensch, und sie war nicht so«, protestierte Jenna. »Ich kenne viele Menschen, die nicht so sind. Dieses Vorurteil darf nicht einfach von Generation zu Generation weitervererbt werden. Es bremst die Ikati. Wir werden niemals in aller Offenheit leben können, wir werden niemals in der Lage sein, uns weiterzuentwickeln, wenn wir nicht mit der Vergangenheit abschließen.«

Er lächelte sie an. Das Mondlicht schien nun auf seine Gesichtszüge und glitt mit seinen bleichen, kristallklaren Strahlen magisch und schimmernd wie Feenstaub über seine Haut. »Wie dumm von mir, anzunehmen, dass du mir zustimmen könntest«, murmelte er und senkte das Gesicht, um ihre Nase mit der seinen zu berühren.

»Ich werde dir nie zustimmen, wenn du falschliegst«, sagte sie und wandte das Gesicht ab.

Er fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf, sodass sie ihn wieder ansehen musste. »Ich mag bei vielen Dingen falschliegen, aber bei einer Sache bin ich mir absolut sicher«, sagte er und strich mit dem Daumen über ihre Wange.

»Und das wäre?«, fragte Jenna pikiert.

»Ich bin mir sicher, dass du der größte Trotzkopf bist, dem ich jemals begegnet bin.«

Sie schnaubte und drehte erneut den Kopf weg. Wieder fasste er nach ihrem Kinn und rollte sich sogleich halb auf sie. Er drückte nun mit seinem Körper ihre Brust und ihre Beine in die Matratze. Sein Lachen ließ sie beide erbeben.

»Ich bin noch nicht fertig! Du bist das sturste Wesen, dem ich jemals begegnet bin …«

»Das hast du schon gesagt!«

»Und ich liebe dich, Jenna. Ich liebe dich wach oder schlafend, diskutierend oder zustimmend, durch dick und dünn – ich liebe dich.« Er blickte zu ihr herab. Sein Körper presste sich an den ihren, und seine Augen wanderten voll Zärtlichkeit über ihr Gesicht.

»Oh. Nun. Vielleicht hättest du das zuerst sagen sollen.« Über ihre Lippen huschte ein Lächeln. Sie senkte den Blick. »Und nur um das mal klarzustellen«, fügte sie hinzu und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Da ich es bisher nicht so direkt gesagt habe … Ich liebe dich auch. Ich habe endlich das Gefühl, zu Hause zu sein. Du bist mein Zuhause, Leander.« Sie schloss die Augen und drückte einen Kuss auf seine Brust. »Das Leben ist ein Kampf, und wir werden alle sterben«, flüsterte sie in Erinnerung an die Worte ihrer Mutter. »Aber wahre Liebe lebt für immer. Und sie kann mir den Weg nach Hause weisen.«

Er strich über ihren Arm und Rücken, ehe er einen Schauer aus zarten Küssen auf ihren Hals und ihre Schulter regnen ließ. Dann küsste er ihre Wangen und strich mit den Lippen zart über die ihren. Er verlagerte seine Hüfte so, dass er sich mit seinem ganzen Gewicht zwischen ihre Beine legte. In ihrem Bauch entflammte erneut ein Feuer.

»Ich sollte dir erzählen, was ich gesehen habe«, murmelte sie und keuchte dann, als er sein Gesicht senkte und mit dem Mund ihre Brustwarze umfing. Eine heiße Zunge und seidenweiche Lippen spielten mit ihrer Haut. »Ich muss dir über ihre … ihre Pläne …«

»Morgen«, murmelte Leander und hob den Kopf. Sein Blick wirkte ernst. »Morgen können wir uns überlegen, wie wir vorgehen. Wir können unsere Kriegszüge planen und Rachepläne schmieden. Morgen können wir all das tun. Aber jetzt …«

Wieder küsste er sie, wobei er diesmal so leidenschaftlich war, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam. Sie drückte den Rücken durch und drängte sich noch mehr an ihn.

Leander sah sie aus halb geschlossenen Augen an und lächelte. »Jetzt haben wir andere Dinge, um die wir uns kümmern müssen, große Königin.«

»Übrigens«, murmelte sie und schlang ihre Arme um seinen Nacken, »ich finde, du solltest eher ›Diejenige, der man Gehorsam schuldet‹ zu mir sagen. Das klingt irgendwie hübscher.«

Sein Lachen klang gedämpft, da er sein Gesicht an ihrem Nacken vergraben hatte. »Also gut. Wenn du meinst …« Seine Lippen wanderten erneut über die ihren. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Wie kann ich zu Diensten sein, Mylady?«

»Oh, ich bin mir sicher, dass mir da etwas einfällt«, erwiderte sie unschuldig. »Mir fallen spontan sogar gleich mehrere Dinge ein.«

Er senkte den Kopf und sah sie an. Um seine Lippen spielte ein wölfisches Lächeln.

Sie erwiderte es auf ebenso animalische Weise und hob die Beine, um sie um seine Taille zu schlingen.

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J.T. Geissinger

Nachtjäger – Die Verräterin


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