17
Der Raum war voll.
Viel zu voll, dachte Leander, während er den Blick über die Lakaien an der Wand zur Galerie, die entzündeten Kerzenleuchter und das Meer aus Satin und Spitze wandern ließ, in dem sich raschelnd und knisternd die Damen bewegten. Die Frauen der Ratsmitglieder und der anderen Alpha hatten sich für diese Gelegenheit herausgeputzt. Es war eine Dinnerparty, die er nicht hatte geben wollen.
Bei einer anderen Gelegenheit. In ihm stieg der Zorn auf. Bei einer anderen Gelegenheit wäre es für mich kein Problem gewesen, das zu unterbinden. Doch nachdem sich der Rat der Alpha traf, war er einfach überstimmt worden. In seinem eigenen Heim!
Es war der reine Wahnsinn.
Jetzt war nicht die Zeit für Festivitäten und dummes Geplauder. Es war auch der falsche Zeitpunkt dafür, dass sich die gesamte Führungsriege der Ikati an einem Ort versammelte, wo sie ein leichtes Ziel abgaben. Während der letzten vierundzwanzig Stunden waren die Alpha der anderen Kolonien in Sommerley samt ihren Familien, Abgesandten und Gefolgsleuten eingetroffen. Sie würden einen Tag, eine Woche oder auch einen Monat bleiben – je nachdem, wie lange es dauern würde, bis sie zu einer Übereinkunft kamen, welche Vorkehrungen getroffen werden mussten und was man hinsichtlich der Expurgari unternehmen wollte.
Genauso wichtig war die Frage, wie man mit Jenna Moore verfahren sollte, einer Ikati, die nicht tat, was man ihr sagte.
Auf Anweisung des Rats – und gegen Leanders explizite Wünsche – hatte man Jenna seit vier Tagen als Gefangene in ihren Räumen gehalten. Sie galt jetzt als eine unbekannte Größe, als eine mögliche Bedrohung. Noch hatte sie vor dem Rat nicht ihre Gestalt gewandelt, war in den Wald geflohen und hatte sich geweigert, irgendwelche Fragen zu beantworten oder auch nur eines der Ratsmitglieder zu treffen.
Im Rat ging sogar das Gerücht um, dass sie möglicherweise mit denjenigen unter einer Ecke steckte, die jetzt die Ikati verfolgten. Mochte das nun aus Wut oder aus Rache geschehen – Jenna hatte guten Grund für beides und die Möglichkeit, sich gegen sie zu stellen.
Leander war gerade noch davon abgehalten worden, dem Mann, der diesen Verdacht geäußert hatte, den Hals umzudrehen. Er erinnerte den Rat aufgebracht daran, dass Jenna nichts über ihren Vater gewusst hatte, bis er es ihr erzählt hatte.
Sie wurde von jeweils vier Männern rund um die Uhr bewacht. Man brachte ihr Essen und Wasser auf einem Silbertablett und gestattete ihr, jeden zu sehen, den sie sehen wollte. Jenna jedoch ließ nur Morgan zu sich. Dieses Verhalten war bisher toleriert worden. Aber Leander wusste, dass der Rat allmählich unruhig wurde. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, ehe man sie dazu zwingen würde, unwiderlegbare Beweise zu erbringen, dass sie eine Ikati war. Sie würde zeigen müssen, dass sie ihre Gestalt wandeln konnte – und damit, dass sie auf ihrer Seite und nicht der des Feindes stand.
Bisher war Leander der Einzige gewesen, der miterlebt hatte, wie sie sich in Nebel verwandelt hatte. In diesen schwierigen Zeiten reichte sein Wort allein nicht mehr, um die anderen davon zu überzeugen, dass Jenna tatsächlich eine von ihnen war.
»Wir wissen nicht, wie sie denkt, Leander«, hatte der Alpha der Manaus-Kolonie erklärt. »Sie bleibt eine Gefahr für uns, bis wir den Beweis haben, dass sie es nicht ist.«
Auch ihm hätte Leander am liebsten den Hals umgedreht.
Sein Blick wanderte durch den Ballsaal, bis er auf Morgan fiel, die am anderen Ende des Raums stand. Sie war blass und lehnte kerzengerade mit dem Rücken an einer Alabastersäule. Zur Abwechslung trug sie ein ungewöhnlich keusches Kleid aus schlichtem, elfenbeinfarbenem Satin. Sie wirkte so, als wäre sie auf der Hut, aber er spürte ihr Hochgefühl.
Leander runzelte die Stirn. Morgan war ihm in den vergangenen Tagen merkwürdig anders erschienen. Nur die Planung dieser hastig auf die Beine gestellten Dinnerparty hatte sie – etwas – aus ihrer seltsamen Aufregung gerissen. Während der Zusammenkunft des Rats hatte sie geschwiegen und nichts als eine rätselhafte Miene zur Schau gestellt, als die anderen erhitzt darüber diskutierten, was mit Jenna geschehen sollte. Auch jetzt wirkte ihr Gesicht undurchdringlich.
Sie wandte den Kopf und merkte, dass Leander sie beobachtete. Mit einem Mona-Lisa-Lächeln, das sie nur einen ihrer Mundwinkel heben ließ, legte sie zwei Finger an ihre Stirn und senkte grüßend den Kopf.
Leanders Stirnrunzeln verstärkte sich. Doch das laute Lachen eines Mannes in seiner Nähe lenkte ihn ab. Er sah woandershin und fuhr sich mit einem Finger unter den steifen Kragen seines Hemds, um ihn von seiner erhitzten Haut zu ziehen. Der Ballsaal war nicht nur überfüllt, sondern auch zu stark geheizt.
Der Rat der Alpha sollte sich am selben Abend um zehn Uhr nach dem Dinner treffen. Nach dem – unbeschreiblich dummen – Tanz. Das Kammerorchester spielte bereits jetzt in einer Loge oberhalb des Ballsaals. Sie musizierten auf Violinen und Hörnern unter den entzündeten Kerzen der Kronleuchter, die alles in ein unwirkliches Licht tauchten. Durch die hohen Fenster schien der Mond und verstärkte noch die bleiche Atmosphäre.
Ein finster dreinblickender Christian trat neben Leander. Er trug einen perfekt geschnittenen Smoking und ein italienisches Seidenhemd. In der Linken hielt er ein großes Glas mit Single-Malt-Whiskey.
Leander wusste, dass es bereits sein vierter Whiskey an diesem Abend war. Er hatte Christian nach Morgans Kommentar in der Ostbibliothek genau beobachtet. Der Kommentar, der eine schreckliche, brennende Eifersucht in ihm ausgelöst hatte. Der Kommentar, der ihn so wütend machte, dass er beinahe sprachlos gewesen war.
Noch nie zuvor war er mit seinem Bruder in Wettstreit getreten. Auch jetzt wollte er es nicht. Doch in einer dunklen Ecke seines Herzens ahnte er, dass es genau das war, was sie beide gerade miteinander ausfochten – wenn auch schweigend und ohne es direkt auszusprechen. Er vermochte kaum die quälende Pein zu beschreiben, die ihm das einbrachte. Es war sowohl für ihn als auch für Christian eine Bedrohung ihrer brüderlichen Beziehung. Leander hegte noch einen anderen Verdacht, den er jedoch kaum vor sich selbst auszusprechen wagte. Er befürchtete, sonst die Büchse der Pandora zu öffnen und das selbstsüchtige, böse Tier in sich zu befreien, das ausschließlich an sich dachte.
Der Verdacht war folgender: Ganz gleich, wie viel Leid es für sie beide auch bedeuten würde, Leander plante alles zu unternehmen, um Jenna für sich zu gewinnen.
Alles – einschließlich die Aufgabe seiner familiären Verbindungen und das Brechen jedes Gesetzes, das ihn an die Ikati band.
»Wie immer die üblichen Verdächtigen«, sagte Christian trocken. Er führte das Glas an seine Lippen und trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Schluck. Er senkte den Arm und bedeutete dann einem Kellner, der in der Nähe stand, das Glas noch einmal zu füllen. »Ich glaube, unser Freund Alejandro da drüben wird dich später zu einem Duell herausfordern.«
Alejandro, der Alpha von Manaus, Brasilien, der sich Jenna gegenüber so misstrauisch gezeigt hatte, funkelte Leander finster an. Er stand in einer Gruppe von Frauen, die wie ferngesteuerte Motten um ihn wie um eine Kerze tanzten. Er war groß, genauso groß wie Leander, wenn auch ohne dessen körperliche Präsenz. Bei ihm hatte man vielmehr den Eindruck, dass man ihm eine Faust in den Magen schlagen könnte, und sie würde wie ein heißes Messer durch Butter durch ihn hindurch dringen.
Er hatte lange Zähne und ein schleimiges Lächeln. Seine Haare schimmerten vor Gel und waren im Stil eines sizilianischen Mafioso nach hinten gekämmt. Seine Kolonie war klein – wie das alle Kolonien im Vergleich zu Sommerley waren –, aber seine Hinterlist und sein Ehrgeiz waren es nicht.
»Gut«, erwiderte Leander und starrte seinen Kontrahenten ausdruckslos an. Er war neben Leander der einzige unverheiratete Alpha. Alejandro war vier Jahre und um zahlreiche Erfahrungen jünger, eingebildet und eitel. »Dann kann ich vielleicht das beenden, was ich bei der Versammlung angefangen habe.«
Alejandro senkte den Blick und wandte seine Aufmerksamkeit einer seiner Bewunderinnen zu – einer rundlichen Frau, die in einem Kleid steckte, das zwei Größen zu klein für sie war, was zur Folge hatte, dass ihr üppiger Busen in Gefahr war, jeden Moment den zarten Stoff ihres Ausschnitts zu durchreißen. Sie brach in ein begeistertes Lachen aus und wedelte mit einer speckigen Hand vor ihrem Gesicht herum.
In diesem Moment passierten mehrere seltsame Dinge auf einmal.
Zuerst ließen die Musiker ganze zwei Takte der Sonate aus, die sie gerade spielten. Der Violinist fuhr mit seinem Bogen auf seltsam schrille Weise über die Saiten seiner Geige. Das Orchester war einen Moment lang völlig durcheinander und brauchte eine Weile, um wieder in sein Stück zurückzufinden. Leander blickte auf und sah mit schmalen Augen zu den Musikern hinüber.
In diesem Augenblick wurde es völlig still im Raum. Die Leute hörten mitten im Gespräch auf zu reden, blieben stehen und unterdrückten ihr Lachen. Selbst die Eiswürfel in ihren Gläsern schienen nicht mehr zu klirren. Eine unheimliche Stille erfüllte den Ballsaal. Die rundliche, lachende Frau bei Alejandro hielt die Hand vor den Mund und klammerte sich an den Arm des Alpha, wo sie ihre Finger so tief in dessen Fleisch vergrub, dass Leander beinahe den blauen Fleck zu spüren glaubte, der sich dort bilden musste.
Alejandro sah sie stirnrunzelnd an. Man konnte seine Zähne sehen, obwohl er nicht lächelte. Dann hob er den Blick. Auch er erstarrte, wie von einem Pfeil getroffen. In diesem Moment vernahm Leander, wie Christian neben ihm bebend Luft holte. Seine inneren Alarmglocken begannen anzuschlagen, und er wirbelte herum.
Und da war sie. Ein Engel, gekleidet in dämonisches Rot.
Jenna stand unter der geschwungenen Tür, eine Hand leicht auf dem Kopf eines Marmorpanthers liegend, der sich mitten im Sprung befand. Die andere Hand wanderte langsam über die Kurven ihrer schmalen Taille, die sich so deutlich unter dem scharlachroten Valentino-Kleid abzeichnete. Er hatte ihr geraten, es nicht zu tragen, doch insgeheim gewusst, dass sie es genau deshalb tun würde.
Sie wirkte gelassen, als sie so geheimnisvoll lächelnd dastand und keine Sorgen zu haben schien. Nichts ließ erahnen, dass sie einem ganzen Ballsaal voller Raubtiere gegenüberstand, die nur darauf warteten, sich auf sie zu stürzen. Hier hatte sich das dunkle Herz der Spezies versammelt, um Zeuge ihres Ruhms zu werden.
Oder ihres Untergangs.
Sie war immer wunderschön – in seinen Erinnerungen und in seinen Fantasien. Doch jetzt verlieh ihr das Kerzenlicht, das ihre Haut so geheimnisvoll schimmern und Schatten über ihr Gesicht und ihren Körper tanzen ließ, etwas Magisches, etwas Poetisches – wie das Leuchten eines Sonnenstrahls, der eine düstere Wolkendecke durchschnitt.
Sie trug ihre Haare offen, sodass sie in wunderbaren, honigfarbenen Wellen über ihre bloßen Schultern fielen. Die milchig weißen Linien ihres Halses, ihres Dekolletés und ihrer Arme bildeten einen perfekten Kontrast zu der blendenden Farbe. Ein Teil von Leander – jener Teil, der noch denken konnte und der nicht von ihrem Zauber völlig in Bann gezogen war – bemerkte ihr sinnliches, wissendes Lächeln und den ruhigen, kontrollierten Blick, mit dem sie den Saal voll schweigender Feindseligkeit betrachtete. Sie verlagerte ihr Gewicht. Der hohe Schlitz in ihrem Kleid ging auf und enthüllte ein langes, nacktes, perfekt geformtes Bein, das in einer zarten, hochhackigen Sandale in Scharlachrot endete. Er spürte, wie sein Herz raste, während sein Blick über diesen vollkommenen Knöchel wanderte, hinauf zur Wade, dem Knie und dem Schenkel, der ihm in seiner Erinnerung und aus seinen erotischen, sehnsüchtigen Träumen so vertraut war – Träume, die ihn jede Nacht wie ein schleichendes Gift erfassten und ihn bis zum Morgen nicht mehr losließen.
Sie gehört mir, dachte er gierig. Die Worte fluteten mit einem Anflug von Verzweiflung durch seinen Körper. Ihre Augen fanden die seinen, und ihr Lächeln wurde eindeutig aufreizend.
Christian atmete zischend aus. Er klang verblüfft, und das brach den Zauber.
Leander schritt durch den noch immer schweigenden Ballsaal. Langsam kehrte das Blut in seine Wangen zurück. Die Gäste traten beiseite, um ihn durchzulassen. Er blieb kurz vor Jenna stehen, nahe genug, um ihr feines Parfüm aus frischer Luft und Winterrosen wahrzunehmen, nahe genug, um die Hand auszustrecken und ihr über den Arm zu streichen. Es bedurfte all seiner Konzentration, sich davon abzuhalten, sie zu berühren. Stattdessen verneigte er sich leicht vor ihr. »Jenna«, sagte er geschmeidig und leichthin. »Du hast also beschlossen, herunterzukommen. Es freut mich, dich zu sehen.«
Sie schürzte die Lippen. Für einen Moment lang schien ein Schatten über ihr Gesicht zu huschen, der jedoch sogleich wieder verschwand. Sie bewahrte ihre Haltung, indem sie den Kopf zurückwarf. »Ich versäume ungern eine Party«, sagte sie in einem ebenso leichten Tonfall. Sie musterte ihn ausdruckslos, das Kinn angehoben. »Außerdem hat mich meine erzwungene Einsamkeit allmählich gelangweilt.«
Jemand trat zu ihnen. Doch Leander war nicht in der Lage, den Blick von Jenna zu wenden.
Sie war in Sicherheit. Sie war hier, sie stand scheinbar unbeschwert und wunderschön vor ihm, und wieder war es ihr offenbar gelungen, sich an den Wachen vorbeizuschmuggeln. Sie wirkte unverletzt – mehr als unverletzt: Sie wirkte auf wunderbare Weise leuchtend. Und auf seltsame Weise selbstbewusst. Tollkühn, wenn er es genau bedachte, hinsichtlich der augenblicklichen Situation.
Er merkte, dass sich alle Augen im Raum brennend in seinen Rücken bohrten.
Doch Jenna blieb so, wie sie war, als ob sie durch eine Scheibe Glas von den anderen getrennt wäre: gelassen, unerschütterlich, als hielte sie sich selbst für nichts anderes als eine Kuriosität in einer Vitrine, wie ein Schrumpfkopf, den man aus den tiefsten Wäldern Amazoniens mitgebracht hatte und nun für alle sichtbar ausstellte.
Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Pass auf, meine Liebe«, sagte er in zärtlichem Tonfall. »Sie suchen alle nach einem Grund, dich einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen. Gib ihnen also keinen Anlass dazu.«
Jenna zog ebenfalls eine Augenbraue hoch und wirkte jetzt so kühl und hochmütig wie Kleopatra vor den Römern. »Sie? Und du nicht, Leander?«
Gegen seinen Willen musste er lächeln. »Ich habe andere Gründe, da kannst du dir sicher sein«, murmelte er. Er blickte ihr eine halbe Ewigkeit in die Augen und versuchte, sie dazu zu bringen, auf ihn zu reagieren, ihm irgendeinen Hinweis zu geben, dass sie etwas für ihn empfand.
Aber natürlich bedachte sie ihn mit nichts anderem als einem kühlen Lächeln, ehe sie ihm ihr perfektes Profil zuwandte, um mit derjenigen zu sprechen, die neben ihm stand.
»Jenna.« Morgan befand sich direkt neben Leanders Ellenbogen. »Du siehst hinreißend aus.« Leander bemerkte, dass die beiden Frauen ein wissendes Lächeln austauschten.
»Das ist mein Lieblingskleid geworden«, erklärte Jenna leichthin. Sie strich mit der Hand über die Schichten aus gerüschter Seide, die sich unter dem Mieder befanden, genau unterhalb der Rundung ihrer Brüste. »Bisher war Rot nie mein Favorit, aber dieses Kleid … Es sitzt wirklich perfekt.« Sie warf Leander einen Seitenblick zu, und ihr Lächeln wurde beinahe unmerklich wärmer. »Aus irgendeinem seltsamen Grund gefällt es mir besonders gut.«
»Darf ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte Morgan ehrerbietig.
»Vielleicht ein Glas Champagner?«, erwiderte Jenna noch immer lächelnd. »Das scheint irgendwie passend zu sein, findest du nicht?«
Morgan nickte. Sie presste die Lippen aufeinander und schwebte dann auf einen Kellner zu.
»Ihr beide scheint ja inzwischen beste Freundinnen zu sein«, bemerkte Leander, während er Morgan hinterhersah. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber er vermochte nicht den Finger daraufzulegen. Jenna und Morgan wirkten seltsam vertraut miteinander … Und wie zum Teufel war es Jenna gelungen, an den Wachen vorbeizukommen?
Jeder winzige Riss oder Spalt ihres Zimmers war vor ihrem Eintreffen versiegelt worden. Selbst die Tür wurde durch eine unsichtbare Dichtungsmasse geschützt, um Jenna davon abzuhalten, sich in Nebel zu verwandeln und so zu fliehen. Man hatte keine Mühen gescheut, und doch waren die Vorsichtsmaßnahmen unzureichend gewesen. Die Musik begann erneut zu spielen, und die Gäste fingen wieder an, miteinander zu reden, wenn auch nur leise flüsternd. Noch immer waren alle Augen im Raum auf die beiden gerichtet.
Jennas Lächeln wurde breiter und spöttisch.
»Man hat mir aus vertrauenswürdiger Quelle mitgeteilt, dass es gut ist, Freunde zu haben.« Das Grün ihrer Augen wurde eine Nuance dunkler. »Leute, denen man in Zeiten der Not trauen kann.«
Morgan trat wieder zu ihnen und reichte Jenna ein Glas Champagner. In der Kristallschale stiegen kleine Bläschen an die Oberfläche. Morgan verhielt sich so höflich, dass Leander glaubte, einen unsichtbaren Knicks wahrzunehmen, als sie Jenna das Glas gab. Die beiden wechselten erneut einen Blick. Morgan berührte einen Moment lang Jennas Unterarm, ehe sie sich umdrehte und dann auf einen noch immer mit offenem Mund dastehenden Christian zuging.
Christians Blick war auf Jennas Bein fixiert, das noch immer unbekümmert aus dem hohen Schnitt ihres Kleids herauslugte. Dann wanderten seine Augen langsam zu ihrer Taille, ihren Brüsten und ihrem Gesicht.
Erst jetzt merkte Christian, dass Leander ihn anstarrte. In diesem Moment trat Morgan neben ihn.
Leander musterte seinen Bruder kühl und direkt, bis dieser den Blick abwandte und sich Morgan zudrehte. Diese flüsterte ein paar Worte in sein Ohr. Christian nickte steif und mischte sich dann unter die anderen Gäste.
»Brauchst du irgendetwas? Kann ich dir irgendetwas Gutes tun?«, fragte Leander, als er sich schließlich wieder Jenna zuwandte.
»Danke, es geht mir gut …« Er glaubte, etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen, das entweder Schmerz oder Wut sein konnte. Doch ebenso schnell, wie es erschien, war es auch wieder verschwunden.
»Ja, Morgan hat es mir erzählt. Wenn auch nicht viel mehr«, fügte er bewusst hinzu.
Ihre Antwort bestand nur aus einem geheimnisvollen Lächeln.
»Die Verletzung war also nicht schlimm?«, fragte er nach.
»Die Verletzung an meinem Fuß war nicht weiter tragisch, nein«, antwortete sie, während ihr Blick über die Menge im Ballsaal wanderte. »Der Schnitt ist wieder geheilt. Danke der Nachfrage.«
»So rasch?«, fragte er zweifelnd. »Es schien ziemlich viel Blut zu sein …«
»Morgan ist eine ausgezeichnete Krankenschwester«, erwiderte sie vage und blickte über seine Schulter.
Diese höfliche, belanglose Unterhaltung machte ihn allmählich nervös. Seine Hände begannen zu zucken.
Was hatte sie in den vergangenen vier Tagen gemacht? Warum hatte sie nicht mit ihm gesprochen? Warum hatte sie nur Morgan zu sich gelassen? Wann konnte er endlich mit ihr allein reden? Warum zum Teufel gab sie sich so distanziert?
»Nur aus Neugier: Wer ist der große, attraktive Mann am anderen Ende des Saals, der von den ganzen Frauen umringt ist?«
Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wen sie meinte. Seine Antwort klang gepresst: »Alejandro. Der Alpha der brasilianischen Kolonie.«
Jenna sah Leander aufmerksam an. »Du magst ihn nicht.« Es schien sie zu amüsieren.
»Nein. Ich mag ihn nicht.«
Sie lächelte. »Dann willst du vielleicht jetzt lieber gehen. Er kommt nämlich direkt auf uns zu.«
Leander drehte sich um und sah, wie Alejandro, ohne irgendetwas anderes wahrzunehmen, schnurstracks auf Jenna zueilte – wie ein Bluthund auf der Jagd. Gnadenlos drängte er sich durch eine Gruppe von Frauen, die schockiert miteinander flüsternd zur Seite traten.
Leander fasste Jenna leicht am Ellenbogen und begann, sie aus dem Saal zu ziehen. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten«, murmelte er. Zu seiner Überraschung zog sie ihren Arm nicht zurück, als er sie berührte.
»Oh, nein«, antwortete sie. »Ich würde liebend gern hören, was er zu sagen hat. Nach den letzten Tagen meiner erzwungenen Einsamkeit sehne ich mich nach einer anregenden Unterhaltung.« Einen Moment lang sah sie Leander scharf an. Dann wandte sie den Blick ab.
»Madame.«
Alejandro stand plötzlich neben ihnen. Er stieß Leander mit der Schulter beiseite und gab sich die größte Mühe, ihn zu ignorieren.
Leander ließ Jennas Ellenbogen los, als sich der Brasilianer geübt verbeugte – tief und kriecherisch.
»Sie sind …« Er räusperte sich und musterte Jennas Gestalt von Kopf bis Fuß, ehe seine Augen auf ihrem Dekolleté hängen blieben. »Muito bonita. Noch atemberaubender, als mir bereits mitgeteilt wurde.«
Für Leander bedeutete es die größte Herausforderung, Alejandro nicht das Gesicht einzuschlagen.
»Wie überaus charmant«, erwiderte Jenna und lächelte geziert.
Zu Leanders Entsetzen hob sie die Hand und reichte sie Alejandro. Dieser beugte sich über sie, und seine Lippen strichen kaum merklich über ihre seidenweiche Haut. »Das scheint heutzutage eine überaus seltene Eigenschaft zu sein«, fügte sie leicht hinzu, während sie seine dunkel schimmernden Haare betrachtete. »Obwohl es eine Eigenschaft ist, die ich besonders schätze.«
Alejandro richtete sich wieder auf. Er hielt noch immer Jennas Hand, als er Leander einen siegessicheren Blick zuwarf. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Jenna zu. Seine Miene wirkte verzückt und außer sich, als ob er zu viel von einem süßen Dessert gegessen hätte und es jetzt schwierig fände, die Nachspeise zu verdauen.
»Obrigado, schöne Dame«, schnurrte er. »Leider besitzen nicht alle von uns die Fähigkeit, freundlich zu sein. Aber wie ich immer sage: Um charme pouco vai um longo caminho. Mit ein wenig Charme ist schon viel gewonnen.«
»Wie recht Sie haben. Ich stimme Ihnen völlig zu«, entgegnete Jenna geschmeidig. Sie ließ ihre Hand in der von Alejandro ruhen, als ob sie nicht vorhätte, ihn jemals wieder loszulassen. Einen Moment lang sahen sie sich an und lächelten beide. In Jennas Gesicht spiegelte sich belustigte Neugier wider. Leander hoffte inbrünstig, dass diese ausschließlich auf Alejandros Frisur zurückzuführen war.
In ihm tobte ein Feuersturm tödlicher, alles verschlingender Wut.
Jenna ließ ihren Blick noch einmal über den Raum hinter Leanders Schulter streifen. Sie runzelte die Stirn, fand dann aber wieder zu ihrer gelassenen Miene zurück. Schwungvoll und anmutig warf sie die Haare zurück. »Wunderbar, hier kommt die Kavallerie«, murmelte sie, wobei sie kaum die Lippen bewegte.
Hinter Leander drängten sich nun vier Männer. Dann waren es acht, schließlich zwanzig. Er spürte sie alle. Er spürte ihre konzentrierte Energie, die sich laserstrahlengleich auf Jenna richtete. Diese lächelte noch immer, als würde sie das Ganze nicht im Geringsten durcheinanderbringen.
Der Rat. Die Alpha. Der Feuersturm in Leander nahm an Intensität zu und wurde zu einem unerträglichen Heulen in seinem Schädel.
»Lady Jenna«, sagte eine Stimme hinter seiner rechten Schulter. Es war LeBlanc, der Alpha aus Quebec, dieser verdammte Höllenhund. Sie wollten Leander offensichtlich nicht einmal eine Sekunde mit ihr alleine lassen. Sie wollten es nicht riskieren, dass er mit ihr redete, sie warnte.
»Vielleicht möchten Sie mit uns für einen Moment in den Salon kommen. Leider haben wir viel zu besprechen, ehe wir mit unserem Fest fortfahren können.«
»Aber natürlich, Gentlemen«, erwiderte Jenna souverän. Sie zog ihre Hand aus Alejandros festem Griff, trank einen kleinen Schluck Champagner und senkte dann das Glas, ehe sie bewusst langsam mit der Zunge über ihre rubinroten Lippen fuhr. Sie lächelte die Männer an, alle nacheinander.
Leander beobachtete, wie zwei von ihnen ein wenig ins Wanken kamen. Der Rest war viel zu benommen, um noch irgendeine andere Reaktion außer fassungslosem Staunen zuzulassen.
»Ich würde nur ungern das Fest unterbrechen, indem ich mich unhöflich zeige. Also bitte«, sagte sie mit süßer Stimme und hielt LeBlanc ihre Hand hin. Ihr Lächeln war betörend, faszinierend und eiskalt. »Ich folge Ihnen.«
Einen Moment lang wanderten ihre Augen, die eisig blass wirkten, zu Leander zurück.
Etwas Dunkles, Urtümliches regte sich in seiner Brust. Er erinnerte sich plötzlich an einen Rat, den ihm sein Vater vor langer Zeit, als er noch ein Junge war, gegeben hatte. Es war ein Rat über das Wesen der Frau gewesen.
Unterschätze niemals eine Frau, mein Sohn, und mache auch nicht den dummen Fehler, zu versuchen, sie gefügig zu machen. Sie mag dir schmeicheln, lächeln und vielleicht sogar zustimmen, aber letztlich wird sie dir das Herz herausreißen, deinen Körper den Wölfen zum Fraß vorwerfen und danach selig schlafen.
Mit einem lauten Tosen in seinen Ohren trat Leander einen Schritt zur Seite, sodass Jenna an der Hand LeBlancs aus dem Ballsaal den langen Korridor bis zur Tür des Salons geführt werden konnte. Er beobachtete, wie die Gruppe schweigender, drängelnder Ikati ihr, hungrigen Raubtieren gleich, folgte.
»Dafür werden wir einige Beweise brauchen«, wiederholte LeBlanc zum x-ten Mal. Er drückte die Finger auf die schimmernde Oberfläche des Mahagonitischs, während seine grünen Augen kalt funkelten. »Und zwar brauchen wir diese Beweise jetzt.«
Im Salon herrschte Stille. Nur von Ferne hörte man die Musik aus dem Ballsaal am anderen Ende des Hauses zu ihnen herüberklingen. Manchmal vernahm man auch das angespannte Keuchen der versammelten Männer. Alle waren nervös. Es war hier dunkler und kühler als im Rest des Hauses. Hier gab es keine Fenster, durch die während des Tages Licht kommen konnte, und auch keinen Kamin, um abends die Kälte zu vertreiben.
Sie saßen auf Stühlen und Sesseln, die man aus allen Ecken des Zimmers hastig zu einem Kreis zusammengestellt hatte. Neunzehn Männer saßen aufrecht auf ihren Plätzen, während drei der vier Alpha sich wie Richter im Gerichtssaal hinter einem langen Tisch niedergelassen hatten.
Jenna stand alleine vor ihnen. Ihre Haut schimmerte blass im Kerzenlicht, und erneut fiel Leander auf, wie ausgezeichnet ihr das leuchtend rote Kleid stand. Im düsteren, engen Raum des Salons erinnerte sie ihn an den Morgenstern, der als erster und als letzter Stern am Firmament die Welt grüßte.
Ihre Augen, dachte Leander, während er sie genau beobachtete. Ihre intensiven Augen sammelten das schwache Licht und schienen es wie Messer auf die Anwesenden abzufeuern.
In den vergangenen zwanzig Minuten hatte Jenna einen wahren Tanz um die Fragen aufgeführt, die ihr gestellt wurden. Sie schien die wachsende Anspannung und Frustration der Männer zu genießen, die vor ihr saßen. Außer ihr stand nur Leander.
Sie hatte LeBlancs Einladung, sich doch ebenfalls zu setzen, mit einem schlichten »Nein« abgeschmettert.
Leander hatte den Eindruck, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, in welcher Gefahr sie sich befand. Er hatte miterlebt, dass man Ikati eingesperrt und bestraft hatte, weil sie sich viel weniger als diese demonstrative Zurschaustellung fehlenden Respekts geleistet hatten.
»Tun Sie das?«, gab Jenna zurück. Sie zog die Augenbrauen hoch und schürzte verächtlich die Lippen.
»Ja«, erwiderte LeBlanc streng, während er auf seinem Stuhl nach vorne rutschte. Er stemmte die Handflächen auf den Tisch und stand auf. »Sie müssen sich vor dem Rat verwandeln. Es reicht nicht, dass Sie uns Ihr Wort geben …«
»Und was ist mit dem Wort des Alpha von Sommerley, dem Wort von Lord McLaughlin?«, unterbrach ihn Jenna. Ihre Verachtung für den Mann ließ sie die Lippen zusammenpressen. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Ihr Blick wanderte zu Leander, der am anderen Ende des Salons stand. Er lehnte mit verschränkten Armen, nervös und schweigend, an der Wand, verborgen von den Schatten, die sich im Zimmer gesammelt hatten und die seine Miene verbargen. Und seine Augen.
»Ist denn nicht sein Wort genug Beweis? Nennen Sie ihn etwa einen Lügner?«
Leander hörte, wie LeBlanc mit den Zähnen knirschte, und lächelte grimmig. Jenna war klug. Wie auch immer LeBlancs Antwort lauten mochte – entweder gab er sich geschlagen oder er gestand Hochverrat ein. Dem Gesetz nach durfte kein Alpha öffentlich infrage gestellt werden, ohne dass dies einen Kampf, der mit dem Tod endete, nach sich zog.
Viscount Weymouth meldete sich nun zu Wort, und die anderen wandten ihm den Kopf zu.
»Niemand ficht Lord McLoughlin an, Lady Jenna. Er verbürgte sich für Ihre Fähigkeiten ebenso wie für Ihre Motive. Aber das Gesetz verlangt Beweise, und Ihre stete Weigerung, diese zu liefern, bringt Sie in eine schwierige Lage. Wir leben in gefährlichen Zeiten … Wir müssen wissen, wem Ihre Loyalität gilt, und Ihre Gaben kennenlernen. Falls Sie welche haben, würde es Ihnen nicht schwerfallen, uns einen Beweis zu liefern. Entweder Sie sind eine Ikati oder Sie sind es nicht. Entweder Sie sind für uns oder Sie sind gegen uns.«
Im Salon war zustimmendes Murmeln zu hören. Leander sah, wie die Männer nickten und einander triumphierend ansahen, während sie auf Jennas Antwort warteten.
Vor Wut schoss Leander das Blut ins Gesicht, und er ballte die Hände zu Fäusten. Morgan hatte recht. Diese Männer waren nichts anderes als aufgeblasene Idioten, begeistert vom Klang ihrer eigenen Stimme und sich ihrer Position und Autorität viel zu sicher, um noch Mitgefühl oder Wehmut zu zeigen. Sie taten nur das, was ihnen selbst nutzte, sie handelten nur nach ihrem eigenen Gusto und um ihre Stellung zu sichern.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Leander das Gefühl, dass sich dringend etwas ändern musste.
»Das Gesetz«, sagte Jenna spöttisch. »Verstehe. Es gibt kein Entkommen vor dem tödlichen Griff Ihres perfekten, wunderbaren, barbarischen Gesetztes.«
Sie musterte die Männer mit frostigem Blick. Dann wanderten ihre Augen durch den Raum zu Leander.
Sogleich schien die aufgesetzte Lässigkeit aus ihrer Miene zu verschwinden. Sie wirkte jetzt offen und entblößt, als ob die Schichten einer Zwiebel entfernt worden wären und nur noch das weiche Innere übrig war. Ihre Augen schimmerten klar und hell, und das Lächeln auf ihren Lippen wirkte fast melancholisch. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Beinahe tun Sie mir leid. Sie wissen gar nicht, was Ihnen fehlt. Sie wissen nicht, wie wunderbar es ist, frei zu sein.«
Aus einer anderen dunklen Ecke des Zimmers war ein Lachen zu vernehmen. Leander wusste, dass es Morgan war. Dazu musste er sich gar nicht erst umdrehen.
»Leander hat dem Rat erzählt, dass Sie sich vor Ihrem Geburtstag verwandelt haben, Lady Jenna«, erklärte jemand mit scharfer Stimme, ohne weiter auf das leise Lachen von Morgan zu achten.
Leanders Blick wanderte zu dem Besitzer der mit starkem Akzent sprechenden Stimme.
Sie gehörte Durga, dem Baron Bhojak, Alpha aus Nepal.
Er saß vor Jenna in der Mitte des Tisches, die Hände über seinen großen Bauch gefaltet. Die Beine hatte er ausgestreckt, und seine ganze Haltung strahlte betonte Langeweile aus. Leander wusste, dass der Eindruck täuschte. Durga stand im Ruf, seine Kolonie mit eiserner Faust zu regieren. Er war altmodisch, ein extremer Hardliner und Purist. Für ihn galt allein das Gesetz.
»Hat er das?«, murmelte Jenna, die Leander noch immer mit diesen glitzernden Augen ansah. Ein Beben durchlief ihn. Sie wissen gar nicht, was Ihnen fehlt …
»Ja, das hat er. Das ist … ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich. Sogar kaum zu glauben.« Durga strich ein unsichtbares Staubkorn vom Kragen seines schwarzen Smokings und hielt den Blick gesenkt, während er weitersprach. »Ich zumindest kann mich an keinen einzigen vergleichbaren Vorfall erinnern. Ich habe noch nie von einem Halbblut gehört, das sich vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag verwandelt hätte.«
In seiner Stimme schwang eine offene Provokation mit. Leander beobachtete, wie Jennas Blick zu Durga wanderte und sie den Kopf neigte, um ihn schweigend zu mustern. Alejandro saß in einem Stuhl, der in seine Richtung gedreht war. Selbst am anderen Ende des Zimmers spürte Leander das Verlangen, das dieser Mann ausstrahlte. Er vermochte nicht, Jenna aus den Augen zu lassen. Sie wanderten ununterbrochen ihren Körper auf und ab. Er starrte sie mit geschürzten Lippen und gerunzelter Stirn an, als ob er versuchen würde, eine besonders schwierige Gleichung zu lösen.
Leander stieß sich von der Wand ab und öffnete die Fäuste. Seine Lungen fühlten sich so an, als ob sie von einem Stahlband umgeben wären, das es schwer für ihn machte, Luft zu holen.
»Hm«, sagte Jenna leichthin und strich sich die Haare mit einer anmutigen, weiblichen Geste aus dem Gesicht. »Es war nicht das erste Mal.«
Leander vergaß Alejandro für einen Moment komplett. Verblüfft blinzelte er.
Es war nicht das erste Mal?
Keiner bewegte sich. Die Stille dröhnte in Leanders Ohren.
»Das erste Mal geschah es, als ich noch ein Kind war. Und es gab andere Male. Allerdings schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich habe sehr gut aufgepasst, dass es nicht passiert …« Sie brach ab, und ihr Blick wanderte in seine Richtung. Auf ihren Wangen zeigte sich eine leichte Rötung.
Leander war der Erste, der sich wieder fing. »Wie alt warst du beim ersten Mal?«, fragte er in die Stille hinein.
»Zehn«, sagte sie mit unsicherer Stimme. Sie räusperte sich. »Ich war zehn. Es war der Tag, an dem mein Vater verschwand.«
Man hörte keinen einzigen Laut im Salon. Alle hielten den Atem an.
Zehn.
Leander merkte, wie ihm fast schwindlig wurde. Er hatte sich das erste Mal mit elf verwandelt und war damit der jüngste seiner Altersgenossen, ja, der jüngste seiner ganzen Kolonie gewesen. Niemand, den er kannte, hatte sich vor dem zwölften Lebensjahr verwandelt. Und wie er waren auch alle anderen reine Ikati gewesen.
Aber wenn sie sich mit zehn verwandelt hatte …
»Unmöglich«, protestierte Durga und erntete gemurmelte Zustimmung. Die Stimmen der Männer waren zuerst vorsichtig und wurden dann selbstbewusster, als er sich wiederholte. Er verschränkte seine dicken Arme über seiner Brust und schüttelte mit dem Kopf. »Das ist einfach nicht möglich.«
Nur Viscount Weymouth schwieg und starrte Jenna fassungslos an. Alejandro sprang von seinem Stuhl auf, als ob man ihn gestochen hätte. Wie zwei andere Männer auch musterte er Jenna nun mit einem solch finsteren Verlangen, dass es geradezu gefährlich wirkte – animalisch wie eine bösartige Raubkatze.
»Wenn das wahr ist …« Alejandro beendete seinen Satz nicht. Er hob eine Hand und zeigte damit auf Jenna, ehe er sie wieder sinken ließ und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. Leander trat einen Schritt ins Zimmer. Er ließ Alejandro nicht aus den Augen.
»Das ist eine Lüge«, erklärte Durga tonlos. Er erhob sich, rückte seinen Smoking zurecht und musterte Jenna voller Verachtung. »Vergessen wir nicht, wer das ist, Gentlemen. Das hier ist das Kind einer unseligen Verbindung. Sie entstand aus einer verbotenen Beziehung. Sie ist die Tochter eines Verbrechers. Sie ist zur Hälfte Mensch, ganz offensichtlich minderbegabt und eine Gefahr für unsere Spezies!« Er zeigte mit einem dicken, anklagenden Finger auf Jenna. Sein hasserfülltes Gesicht war puterrot. »Kein Halbblut hat sich jemals in diesem Alter verwandelt. Das ist eine Tatsache. Sie lügt nicht nur, sondern sie ist schlichtweg …«
»Ich bin die Tochter meines Vaters.« Jennas Stimme durchschnitt den engen und auf einmal erdrückend heißen Raum. Sie klang klar und deutlich.
»Ich bin keine Lügnerin, und ich bin auch nicht minderbegabt. Vor allem nicht im Vergleich zu Ihnen.«
Sie starrte Durga mit einer solchen Giftigkeit an, dass er in seiner Bewegung innehielt, als ob ihm der Schock mitten ins Gehirn gefahren wäre und ihn vergessen ließ, was er gerade tat.
Er blinzelte verblüfft. Leander wusste genau, was der Mann jetzt dachte. Er war schlichtweg fassungslos, dass sie es wagte, so mit ihm zu sprechen. Sich ihm entgegenzustellen. Vermutlich erinnerte er sich gar nicht daran, wann er das letzte Mal auf diese Weise angesprochen worden war – wenn es überhaupt jemals in seinem Leben so etwas gegeben hatte.
Er war Alpha der Ikati, ein Anführer der Tiere, die in Menschengestalt auftraten, ein tödlicher, hochverehrter Krieger, ein Lord und Herrscher, der von allen auch als solcher anerkannt wurde.
Seine Macht war absolut, unangefochten und unhinterfragt. So lauteten die Regeln in ihrer Welt. Es war sein Geburtsrecht. Es war das Gesetz. Und sie war nichts anderes als eine Frau.
»Sie werden uns auf der Stelle beweisen, ob Sie eine von uns sind oder nicht«, forderte nun ein anderer Mann der Versammlung. Im ganzen Raum nickte man eifrig mit dem Kopf. »Wenn Sie es nicht tun …«
»Zeig es ihnen«, sagte Leander heiser. Er trat nun ganz aus dem Schatten, um auf Jenna zuzugehen. Deutlich konnte er die zunehmende Anspannung spüren und die Blicke kalter Berechnung auf den Gesichtern der Männer erkennen. Etwas Gefährliches begann seinen hässlichen Kopf zu zeigen.
»Nein.«
Sie sah ihn an, doch ihre Miene war wieder verschlossen. Jetzt zeigte sich darin erneut der trotzige Stolz von vorhin. Er wusste, dass sie nicht auf ihn hören würde. Aber er musste sie dazu bringen, denn sie brachte sich in eine schreckliche Situation.
»Wenn Sie es nicht tun, wird das Konsequenzen haben, meine Liebe«, sagte Viscount Weymouth mit unsicherer Stimme. Er wirkte erschüttert und zutiefst verängstigt. Im Gegensatz zu den restlichen Männern, die längst aufgesprungen waren, angefeuert durch den drohenden Konflikt, saß er noch immer auf seinem Platz. Er räusperte sich und sprach dann wieder. Jetzt klang seine zitternde Stimme seltsam ruhig. »Sehr, sehr unangenehme Konsequenzen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen.«
»Jenna«, begann Alejandro in einem weichen Ton, auch wenn in seinem Gesicht etwas anderes abzulesen war, was Leander ganz und gar nicht gefiel. »Meu caro, Sie scheinen nicht zu verstehen.«
Er trat einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus, hielt jedoch inne, als sie mit einer Grimasse zurückwich. Hastig strich er sich stattdessen über seine Haare und lächelte, um den kurzen Anflug von Ärger zu unterdrücken, der über sein Gesicht gehuscht war.
»Wir wollen nicht respektlos erscheinen. Wir möchten Sie nicht beunruhigen oder Ihnen etwas Böses antun. Wir sind nur hier, um ein paar Antworten zu bekommen. Als Freunde.«
Er warf Durga einen berechnenden Blick zu, der sogleich verstand. Langsam senkte der den Arm, den er in Jennas Richtung ausgestreckt hatte, und setzte sich schwerfällig mit wütend-überraschtem Gesichtsausdruck wieder auf seinen Stuhl. Doch Leander wusste, dass es nur ein Trick war. Sie würden ihr etwas antun, wenn sie nicht gehorchte – und zwar sofort. Mit zehn Schritten war er neben ihr und stellte sich zwischen sie und die schweigende Masse.
Er musste sie dazu bringen zu verstehen, was hier vor sich ging. Er musste sie beschützen.
»Ich weiß sehr wohl, wie Sie Ihre Freunde behandeln«, erklärte Jenna kalt, als Leander die Hand nach ihr ausstreckte.
»Bitte tu das nicht.« Er sprach leise in ihr Ohr, die Finger auf ihrem Unterarm ruhend. »Sie brauchen nur eine schlichte Bestätigung der Wahrheit. All das ist nicht nötig.«
»Ich habe keine Angst vor ihnen.« Ihre Augen waren genauso klar wie ihre Stimme.
»Es wäre klug, große Angst vor ihnen zu haben. Du kennst sie nicht, so wie ich es tue. Für sie bist du eine Bedrohung, eine unbekannte Größe. Sie schätzen dich nicht so, wie ich es tue. Und sie werden auch keine Gnade vor Recht ergehen lassen. Sie werden sich überhaupt nicht gnädig zeigen.«
Jenna zögerte und richtete den Blick auf seine Finger auf ihrem Arm. Dann sah sie ihn an. Ihre Augen waren klar und unverstellt. Jeglicher Zorn, jegliche Pose war verschwunden. »Sie wollen die Wahrheit? Ich habe dich um die Wahrheit gebeten. Und jetzt sieh nur, wohin mich das gebracht hat«, erwiderte sie mit leiser Stimme. »Ich weiß nicht, ob die Wahrheit wirklich so erstrebenswert ist, wie es immer heißt.«
Auf einmal wusste Leander genau, was er zu tun hatte.
»Gut«, sagte er heiser und umklammerte ihren Arm. »Dann weißt du es eben nicht.«
Er zog sie an seine Brust, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.
Einen Moment lang war nichts zwischen ihnen. Er spürte nur ihren vor Wut und Schock erstarrten Körper, merkte, wie sich ihre Lippen regungslos auf die seinen drückten, während sie versuchte, das Gesicht wegzudrehen. Er hielt sie mit beiden Händen fest und hörte dabei das überraschte Murmeln der versammelten Männer sowie ein lautes Luftholen von Alejandro. Unverwandt hielt er seinen Mund auf dem ihren.
Er spürte ihr Herz, das wild und wütend in ihrer Brust schlug. Sie gab kleine Laute des Protests von sich, während sich ihre Hände an seiner Brust zu Fäusten ballten, mit denen sie ihn wegzuschieben versuchte. Einen Moment lang glaubte er, dass sie nie nachgeben würde.
Doch dann wurde etwas zwischen ihnen kaum merklich weicher. Die Anspannung in ihrem Nacken ließ einen Hauch nach, und ihre Lippen verwandelten sich von Stein zu Samt. Ihre Arme, mit denen sie sich gerade noch gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte, wurden lockerer und schlangen sich dann um seinen Hals. Ihr Körper drängte sich gegen den seinen, und sie atmete durch die Nase.
Ihre Lippen öffneten sich.
Sie ließ seine Zunge in ihren Mund, und er glitt mit den Händen in ihre schweren, schimmernden Haare, um ihren Kopf zu umfassen, während er ihren warmen, sinnlichen Körper an seinem spürte. Ihre Finger wanderten zu seinem Nacken. Dort vergruben sie sich in seinen Haaren und zogen seinen Kopf weiter zu ihr herab, um ihren Kuss zu vertiefen.
Sie gab noch einen leisen Ton von sich, der diesmal jedoch rein erotisch war.
Er vergaß seinen hastigen Plan, sie zu retten, vergaß seine Eifersucht, seine Sorgen und alles andere auf der Welt. Nur ein einziger Gedanke beherrschte ihn, während er die Honigsüße ihres Mundes schmeckte und sie in seinen Armen hielt – so schlank, fest, so real. Unglaublich real.
Die Meine.
Schließlich entwand sie sich mit noch immer geschlossenen Augen seiner Umarmung. Ihre Lippen strichen über die seinen, während sie ein heiseres Wort flüsterte.
»Mistkerl.«
Dann blieb Leander zum zweiten Mal in vier Tagen nur mit Jennas leerem Kleid zurück, das zu seinen Füßen herabflatterte.