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Daria war nackt.
Außerdem war sie geknebelt und hatte eine Binde vor den Augen. Ihre Arme und Beine waren so fest mit einem Seil gefesselt, dass es in ihre Haut schnitt und sie bluten ließ. Es war nicht der einzige Teil ihres Körpers, der blutete. Das große Kreuz, das sie mit einem Jagdmesser in ihren Oberarm geschnitten hatten, blutete ebenfalls noch immer heftig.
Seit Stunden war sie bereits im Kofferraum dieses Fahrzeugs eingesperrt. Sie war mit einem dumpfen Schmerz im Kopf wieder zu sich gekommen. Man hatte ihr mit einem stumpfen, schweren Gegenstand auf den Schädel geschlagen, ihre Arme hinter den Rücken gefesselt, die Knie bis zu ihrer Brust hochgezogen und ebenfalls zusammengebunden. Sie zitterte so heftig, dass ihr ganzer Körper erschüttert wurde.
Man würde sie töten. Dessen war sie sich sicher. Expurgari. Entsetzen und Zorn ließen ihren Magen verkrampfen. Ihr Mund schmeckte nach Galle und Angst.
Sie hatte nicht gehört, wie sie sich angeschlichen hatten, was bedeutete, dass sie sowohl durchtrieben als auch schlau waren. Sie hatte sie auch nicht gerochen. Sie mussten also wissen, wie sie ihren Geruch vor den Ikati verbargen.
All das bedeutete auch, dass sie direkt unter ihren Augen auf sie gewartet und sie beobachtet hatten.
Daria war von dem vielen Tanzen auf dem Ball ganz außer Atem gewesen. Sie hatte mit ihrem Mann, einem seltsam abwesenden Christian und vielen anderen Angehörigen des Stammes – sowohl Freunde als auch Verwandte – viele Runden auf dem Parkett gedreht, ehe sie in den Rosengarten hinausgetreten war, um etwas frische Luft zu schnappen. Nur einen Moment lang war sie allein gewesen. Sie hatte sich an ein Spalier gelehnt, das voll blühendem Jasmin war, und zu den Sternen hochgeblickt.
Zweifelsohne war sie abgelenkt. Die Nachricht, dass Jenna sich vor dem Rat und den Alpha verwandelt hatte und zwar durch einen Kuss von Leander, hatte sich wie Lauffeuer durch die versammelte Party-Gesellschaft verbreitet. Danach waren die beiden verschwunden.
Vermutlich, um noch weitere Dinge zu besprechen.
Daria lächelte, während sie zu den Sternen hinaufblickte und über die beiden nachdachte. Trotz seiner Unabhängigkeit wusste sie, dass sich ihr Bruder nach einer Partnerin sehnte, die ihn liebte und die sich gegen ihn behauptete und ihn zugleich unterstützte – die das Beste in ihm zum Vorschein bringen würde. Jenna schien für diese Aufgabe perfekt zu sein. Vielleicht vermochte sie ihn sogar zu überreden, den Frauen der Kolonie mehr Entscheidungsgewalt zu geben, damit auch diese ihr Leben ein wenig besser gestalten konnten.
Ein Sternenhaufen im Bild der Jungfrau blinkte zu ihr herab – Millionen von Lichtjahren entfernt, voller Träume und Versprechen.
Da hatte sich eine Hand auf ihren Mund gelegt.
Sie war schwielig, rau gewesen und mit etwas Klebrigem wie Harz bedeckt. Eine Sekunde später hatte Daria einen stechenden Schmerz auf ihrem Hinterkopf gespürt, der sie scharlachrote und orangefarbene Sternchen hinter ihren geschlossenen Lidern sehen ließ. Übelkeit und Schwindel hatten sie erfasst, rasch gefolgt von einer zunehmenden Dunkelheit. Dann nichts mehr.
Bis sie wieder zu sich gekommen war und festgestellt hatte, dass sie gefesselt war, ihre Haut blutete und man ihren Körper auf eine dreckige, stinkende Decke in einen schwarzen Kofferraum geworfen hatte. Das leise Surren rollender Reifen auf einer Straße kam ihr wie der Abschiedsgesang auf ihr Leben vor. Sie wurde weggebracht, und mit jedem Kilometer, den sie weiterfuhr, schwand ihre Hoffnung auf Rettung.
Sie wusste, dass sie ihnen nicht entkommen konnte. Sie war geschwächt, gefesselt und verletzt. Sie konnte sich nicht verwandeln. Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken, und betete, dass sie stark genug sein würde, nichts zu verraten.
Obwohl die Expurgari sicher schreckliche Methoden hatten, um sie zum Reden zu bringen.
Darias Herz schlug ängstlich und voller Qualen in ihrer Brust, als der Wagen langsamer wurde und dann anhielt. Sie hörte, wie Türen geöffnet und wieder geschlossen wurden, das Knirschen von Stiefeln auf Kies und gedämpfte Stimmen von Männern, die etwas sagten, das sie nicht verstand. Ein kalter Windstoß traf auf ihre nackte Haut, als der Deckel des Kofferraums geöffnet wurde. Sie schrie gegen den Knebel in ihrem Mund an, als vier große Hände sie an Handgelenken und Fußknöcheln packten und sie aus dem Wagen hievten.