16

Der Schnitt an ihrer Fußsohle war klein. Zumindest anfangs. Sie zog ihn sich zu, nachdem sie auf die papierdünne Kante eines zersplitterten Obsidian getreten war, der vor der Hütte gelegen hatte. Die Ränder des Schnitts waren sauber, und er reichte nicht tief. Es blutete mehr als es wehtat. Doch die Wirkung, die diese Verletzung nach sich zog, war höchst beängstigend.

Seit sie auf den Stein getreten war, war Jenna nicht mehr in der Lage, ihre Gestalt zu wandeln.

Sie versuchte es auf jede nur erdenkliche Weise, eine Verwandlung zu erzwingen. Zuvor war es wie zufällig geschehen, wenn sie sich aufregte, verängstigt war oder auch wenn sie nur daran dachte. Ein einziges Wort in ihrem Inneren reichte, und sie vermochte all den Dingen zu entkommen, die aus Leanders Mund kamen. Sie wurde zu Nebel.

Doch nun gab es nur ein Glühen, ein Flackern. Aber die Verwandlung trat nicht ein.

Sie hatte keinen Plan gehabt, als sie in den Wald geflohen war. Es war ihr nur darum gegangen, Leander zu entkommen. Die Hütte schien ein guter Ort zum Verweilen zu sein, während sie sich sammelte und überlegte, was sie als Nächstes machen sollte. Klares, kaltes Wasser plätscherte in einem kleinen Bach etwa zwanzig Schritte von dem Häuschen entfernt, es gab wilden Senf und Himbeeren, und selbst einige Morcheln zeigten ihre blassen Köpfe auf einem verbrannten Fleck Erde ganz in der Nähe. Jenna hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte zu essen, und sie hatte zu trinken.

Was sie nicht hatte, war irgendeine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.

Den ersten Tag verbrachte sie in einem Zustand des Zorns, der sich so anfühlte, als ob er nicht in ihrem Inneren, sondern um sie herum wäre. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr überallhin folgte, ein dichter Nebel aus Wut, durch den sie kaum zu blicken vermochte. In ihr selbst spürte sie nichts – kein Licht, keine Hoffnung, nichts Festes oder Greifbares. Es schien so, als ob die enormen Gefühle nicht in ihren Körper passten, sondern mehr Raum bräuchten, um zu atmen.

Sie hingegen konnte nicht atmen. Sie verbrachte viele lange Minuten der Panik, in denen sie nach Luft schnappte und sich sicher war, jeden Moment einem Herzinfarkt zu erliegen, so groß waren die Schmerzen in ihrer Brust.

Als die Sonne unterging und der Wald in dämmriges Licht getaucht war, nahmen die Schmerzen ab. Statt der hoffnungslosen Qual erfüllte sie jetzt gedämpfte Pein. Der Himmel wurde in ein leuchtendes Fuchsiarot getaucht, als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. Jenna stand da, beobachtete das rosafarbene und violette Farbenspiel und dachte an ihr Zuhause. Ihr winziges Apartment am Strand, das Welten von dieser Umgebung entfernt war. Es fehlte ihr auf einmal mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Sie vermisste Mrs. Colfax und Becky und ihre Arbeit bei Mélisse, ja selbst für den hysterischen Geoffrey empfand sie so etwas wie Nostalgie. Zumindest waren diese Leute real und zuverlässig gewesen, ihre Heimat.

Hier hingegen war sie nicht zu Hause. Es würde auch niemals ihre Heimat sein. Und diese Leute … Christian hatte recht. Diese Leute waren Tiere.

Sie schlief neben der kalten Feuerstelle ein, zitternd wie ein Hund. Immer wieder lauschte sie den Geräuschen der kleinen Kreaturen des Waldes, die mit der Dunkelheit aufwachten.

Als sie schließlich am Morgen wieder ganz zu sich kam, hatte sie einen steifen Nacken und starre Glieder. Doch ihr Kopf fühlte sich klar an – so klar wie der Sonnenaufgang, der über den rauchig-violetten Hügeln in der Ferne zu sehen war. Es gab keine weiteren Antworten mehr, nichts, das noch etwas in Ordnung bringen oder ihr helfen könnte, alles besser zu verstehen.

Sie beschloss, dass es weniger wichtig war, die Vergangenheit zu verstehen, als sich der Zukunft zuzuwenden.

Sie würde abreisen. Sie würde diesen Ort, seine mythischen Wesen und den Schrecken all der Geheimnisse, die es hier gab, verlassen. Sie wollte ein neues Leben irgendwo auf der Welt beginnen, ganz für sich.

An irgendeinem Ort, an dem man sie nicht finden konnte.

Sie wusste, wie man sich versteckte. Das war ihr als Kind von einem wahren Experten beigebracht worden. Sie würde im Wind verschwinden und für immer fort sein. Endlich wäre sie frei.

Doch in dem Moment, in dem sie ihre Entscheidung gefällt hatte und den Rücken durchdrückte, um sich in Nebel zu verwandeln und von der Luft fortgetragen zu werden, trat sie auf diesen verdammten Stein. Ganz gleich, wie sehr sie es auch versuchte: Sie konnte sich nicht mehr verwandeln. Sie konnte nicht mehr entkommen.

Jenna blieben nun zwei Möglichkeiten: Entweder lebte sie so lange sie konnte im Wald weiter, wo sie nach Essen suchen musste und den Elementen ausgeliefert wäre, oder sie kehrte in die Höhle des Löwen zurück. Sie brauchte eine Stunde, um das Für und Wider beider Alternativen abzuwägen. Dann traf sie ihre Entscheidung.

Tod durch Verhungern oder Erfrieren war nur ein Bruchteil weniger attraktiv als die Rückkehr nach Sommerley.

Die nächsten zwei Tage verbrachte sie damit, nackt, hungrig und nur mit der groben Decke um die Schultern durch den Wald zurück zum Herrenhaus zu laufen. Ihre Haut war von einer feinen Schicht Schmutz bedeckt, da sie auf dem blanken Erdboden schlafen musste. Der Schnitt in ihrem Fuß wurde schlimmer, je länger sie lief. Das Dickicht aus Baumstämmen, Steinen und Pflanzen riss die Verletzung noch weiter auf. Außerdem hatte sie sich nun eine Infektion zugezogen.

»Ich frage mich, wie du es geschafft hast, Leanders Wachen im Wald und um das Haus herum zu meiden. Wie ist es dir gelungen, einfach hier hereinzuspazieren, ohne dass auch nur eine einzige Seele etwas bemerkt hat?«

Morgan hob den Blick von Jennas linkem Fuß, den sie in einer Schüssel mit warmem Seifenwasser gewaschen hatte. Jenna hatte die ganze Zeit stoisch und stumm dagesessen und sich auf die Unterlippe gebissen, um vor Schmerz nicht aufzuschreien.

Sie zuckte mit den Achseln – eine Geste der Erschöpfung. In der hellblauen Seidenrobe, die Morgan ihr angezogen hatte, strahlte sie etwas seltsam Unwirkliches aus. »Ich konnte sie fühlen. Wo sie waren, wenn sie sich in der Nähe befanden und wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richteten.«

Außer ihres linken Fußes, der nun sauber war, wies der Rest ihres Körpers noch immer eine Schicht Dreck auf. Schließlich hatte sie viele Meilen hinter sich gebracht. Ihre Schienbeine waren voller blauer Flecken, ihre Knöchel zerkratzt. In ihren Haaren hatte sie so viele Knoten, dass Morgan sie kaum wiedererkannte. Jenna war durch die Küche hereingekommen, hatte sich die lange, gewundene Treppe hochgeschlichen und war dann nackt auf dem Bett in ihrem Zimmer zusammengebrochen. Sie war sofort eingeschlafen, als ihr Kopf auf dem Kissen lag.

Sie war derart erschöpft gewesen, dass sie vergaß, die Tür abzusperren.

Wenige Augenblicke zuvor war sie erschrocken aufgewacht und hatte Morgan entdeckt, die vor ihrem Bett stand und wie eine Glucke Schnalzlaute von sich gab. Sie bedeckte Jennas nackten Körper gerade mit der Robe.

»Alle Wächter?« Morgan sah sie verblüfft an. Sie hielt mit der Bewegung inne, und der nasse Waschlappen tropfte in die Schüssel, die sich in ihrem Schoß befand. »Du konntest sie alle spüren?«

»Ist das so wichtig?« Jenna zog ihren Fuß zurück. Sie stellte ihn auf den Teppich, schlang den Gürtel um ihre Taille und strich sich eine schmutzige Strähne aus den Augen. »Jedenfalls bin ich zurück. Ich bin mir sicher, dass man mich einsperren wird. Es macht also keinen Unterschied, wen ich spüren kann und wen nicht. Soweit ich euer Gesetz verstanden habe, wird man mir sowieso niemals mehr erlauben, dieses Zimmer zu verlassen.«

Morgan sah sie mit ihren grünen Augen nachdenklich an, den Kopf zur Seite geneigt. »Es macht sogar einen großen Unterschied«, sagte sie leise und stellte die Schüssel auf den Boden.

Morgan war bereits dreimal an der Schlafzimmertür gewesen. Das erste Mal hatte sie mit jemandem flüsternd gesprochen, der draußen stand. Das zweite Mal hatte sie die Tür versperrt, und das dritte Mal hatte sie versucht, das laute Trommeln zu unterbinden, das jemand mit einer Faust auf der anderen Seite der Tür verursachte.

Das Trommeln begann jetzt wieder – und zwar lauter als zuvor. Die schwere Tür begann in ihrem Rahmen zu wackeln.

»Lass mich raten«, sagte Jenna. Sie warf einen erschöpften Blick auf die Tür. »Inzwischen wissen alle, dass ich wieder da bin.«

»Falls sie es bisher noch nicht wussten, dann werden sie es auf jeden Fall jetzt hören«, murmelte Morgan. Sie erhob sich und wandte sich wieder der Tür zu.

»Kannst du ihn nicht einfach ignorieren?« Jenna spürte, wie die Erschöpfung an ihr zerrte. Sie hatte keine Lust, sich schon jetzt dem Mann mit der trommelnden Faust zu stellen.

Morgan sah sie an. »Ihn?«

»Ja, ihn. Leander.«

Sie wusste, dass er es war. Sie konnte ihn riechen, seine besondere Energie spüren, die durch die geschlossene Tür bis zu ihr drang und erneut wie ein Stromschlag ihre Haut zu erhitzen begann. Sie hasste die Tatsache, dass er selbst jetzt, als sie sich so erschöpft und müde fühlte, in der Lage war, eine solche Wirkung bei ihr zu erzielen. Und dann sein Herzschlag … Ihr wurde allmählich klar, dass sie das Geräusch seines Herzens überall und immer wiedererkennen würde – als ob es eine Stimme wäre, die unaufhörlich ihren Namen rief.

Morgan sah sie fragend an. »Dann kannst du uns also alle spüren? Jeden Einzelnen? Du spürst nicht nur ganz allgemein, dass ein Ikati in deiner Nähe ist, sondern du kannst jeden von uns identifizieren?« Sie warf einen Blick auf die geschlossene Tür. »Ohne ihn oder sie sehen zu müssen?«

Jenna seufzte. »Nein. Nur ihn. Bei euch anderen spüre ich nur diese … Ich spüre, dass ihr da seid. Ihr seid anders als alles, was ich vorher gespürt habe. Es ist also nicht schwer, euch auszumachen. Aber bei ihm …« Sie seufzte wieder, weil sie sich ärgerte, dass sie so etwas zugeben musste. »Bei ihm ist es wie ein Pulsschlag, wie ein Stromschlag, kurz bevor der Blitz trifft. Das erste Mal, als ich es spürte, war es so stark, dass ich das Bewusstsein verlor.«

Morgan sah sie noch fassungsloser an als zuvor. Ihre Augen waren jetzt so geweitet, dass Jenna das Weiß der Augäpfel sehen konnte.

»Was?«

Morgan warf erneut einen Blick auf die Tür. Sie wirkte verwirrt. »Deshalb bist du in dem Supermarkt also in Ohnmacht gefallen? Bist du dir sicher?«

»Ja, bin ich. Ich habe es gespürt, bevor ich ihn überhaupt gesehen habe. Und als ich ihn dann schließlich sah, hat mich diese Energie umgeworfen. Damals habe ich noch so getan, als hätte es nichts mit ihm zu tun. Aber leider scheint das schon der Fall zu sein.«

Morgan gab einen Ton überraschter Belustigung von sich. Sie hielt die Hand vor den Mund, und Jenna bemerkte, dass sie ein Lächeln zu verbergen versuchte.

»Bitte, lass mich nicht raten, was du gerade denkst, Morgan. Ich habe keine Kraft für solche Spielereien«, bat Jenna.

»Ach, es ist nichts«, erwiderte sie leichthin und winkte ab. »Wirklich, es ist wahrscheinlich nichts.«

Jenna starrte sie an.

»Na ja, es ist nur so …« Morgan brach wieder ab und presste die Lippen aufeinander.

»Was?«

»Es ist nur so, dass eigentlich nur ein Alpha einen anderen Alpha auf diese Weise spüren, ihn von den anderen unterscheiden kann.« Sie kicherte, ein mädchenhafter, leichter Ton, der so gar nicht zu der Situation zu passen schien. »Und nur den Alpha, mit dem er zusammen ist.«

Jenna wünschte sich, nicht so müde zu sein. An jedem anderen Tag wäre sie wahrscheinlich in der Lage gewesen, Morgan bei einer solchen Bemerkung quer durchs Zimmer zu schleudern. »Wenn du noch einmal so etwas zu mir sagst, dann weiß ich nicht, was passieren wird.«

Morgan zuckte mit den Schultern und hob die Hände, als ob sie Jenna beruhigen wollte. Ihr Lächeln half jedoch nicht, Jenna das Gefühl zu vermitteln, dass diese Bemerkung völlig unschuldig gemeint war.

Es wurde wieder gegen die Tür gehämmert. Noch lauter als zuvor.

»Also gut. Wir haben noch etwa fünf Sekunden, bevor er die Tür eintritt. Ich kann es nicht länger ignorieren. Was soll ich ihm sagen?«

»Sag ihm, dass ich später zum Abendessen hinunterkomme – wenn es mir gestattet ist, zu Abend zu essen.« Sie lächelte freudlos.

Morgans Belustigung verschwand. Einen Moment lang betrachtete sie Jenna mit einer seltsamen, eindringlichen Aufmerksamkeit. »Das erlauben sie dir bestimmt. Was den Rest betrifft … Was man dir sonst gestattet oder nicht …«

Sie schürzte die Lippen. »Das hängt allein von dir ab.«

Jenna schloss die Augen und ließ ihre Haare über ihr Gesicht fallen. Morgan ging wieder zur Tür. Diesmal öffnete sie sie, trat in den Flur hinaus und schloss sie hinter sich. Wenige Sekunden später kam sie jedoch bereits wieder ins Zimmer gestürmt und warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Jetzt sollte es funktionieren.«

Als Jenna die Augen öffnete, sah sie, dass Morgan mit verschränkten Armen am Fußende ihres Bettes stand. »Ich habe ihm einfach erklärt, dass du aus dem Fenster fliegst, wenn er nicht endlich mit dem Hämmern aufhört. Er würde dich dann nie wiedersehen.«

»Das war eigentlich auch mein Plan«, murmelte Jenna. Sie unterdrückte ein Gähnen und betrachtete das Kissen, die weiche Bettdecke und die Laken aus Satin auf der Matratze. Das weiche Bett rief sie wie der Gesang einer Sirene, einladend, verführerisch, sinnlich. Dieser Ort mochte vielleicht ein Gefängnis sein, aber zumindest war er nicht unbequem.

»Nun, kleiner Vogel. Du bist so lange zu Hausarrest verurteilt, bis dieser Fuß geheilt ist«, sagte Morgan.

Jenna war plötzlich wieder hellwach. »Warum?«

»Weil wir uns nicht verwandeln können, wenn wir verletzt sind. Selbst ein kleiner Schnitt hält uns bereits davon ab. Du kannst nirgendwohin, bis du wieder ganz gesund bist.«

Etwas in Jennas Bauch lockerte sich. In ihr erblühte eine kleine Blume der Hoffnung. Ein harmloser Schnitt wie dieser würde schnell heilen. Ein paar Tage, vielleicht eine Woche …

Sie wandte sich ab, damit Morgan die Überraschung in ihrem Gesicht nicht sah. Dann stand sie auf, wobei sie ihr Gewicht auf ihren rechten Fuß verlagerte, und humpelte über den weichen Teppich zum Badezimmer.

»Du willst mir also damit sagen, dass ich hierbleiben muss, bis das ganz verheilt ist?«, sagte sie über ihre Schulter hinweg.

»Ich will dir damit sagen, meine Liebe«, erwiderte Morgan mit neutraler Stimme, »dass du für immer hierbleiben musst.«

Jenna blieb ruckartig stehen. Langsam drehte sie sich zu Morgan um, wobei sie eine Hand ausstreckte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt breitete sich wieder Panik in ihr aus. »Ich wusste es«, sagte sie. Ihr Mund war staubtrocken geworden. »Ich wusste, dass ich ihm nicht vertrauen darf. Er hatte nie vor, mich wieder gehen zu lassen, nicht wahr?«

Morgans Gesicht zeigte erneut einen Ausdruck, den Jenna nicht deuten konnte. Ihre Augen schimmerten mit einer seltsamen Härte und Nachdenklichkeit. Einen Moment lang wanderte ihr Blick zum Fenster. »Es sei denn …«

»Es sei denn was?«, fragte Jenna scharf.

Morgans Blick kehrte wieder zu ihr zurück. Als sie sprach, klang ihre Stimme dringlich. Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen. »Wie ist es dir gelungen, nach Sommerley zurückzukehren, Jenna?«

»Ich bin gelaufen. Das habe ich dir doch schon erzählt.«

»Ja, ich weiß. Zwei Tage lang. Durch Wälder, in denen du noch nie zuvor gewesen bist. Du bist einer Armee der besten Jäger dieser Welt ausgewichen, um dann einfach durch die offene Küchentür hier hereinzuspazieren. Aber woher wusstest du, welche Richtung du einschlagen musstest?«

Aus irgendeinem seltsamen Grund zeigte sich in Morgans Gesicht ein Ausdruck ungläubiger Erwartung – als ob sie gerade um eine Ecke blicken würde, hinter der ein Einhorn mitten im Zimmer stand.

»Ich bin ganz einfach …« Jenna suchte nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was sie zurückgeführt hatte. »Ich bin ganz einfach der Spur gefolgt.«

Morgan starrte sie noch immer schweigend und voll Erwartung an. Jenna fuhr also fort.

»Da war eine Spur …«

»Dein Duft? Hast du vielleicht deinen eigenen, tagealten Geruch wiedererkannt?«, unterbrach Morgan.

»Ja, mein Geruch war natürlich offensichtlich. Aber da gab es auch … dieses Licht.«

Es war nicht das passende Wort, um die Energie zu beschreiben, die sie gespürt hatte, als sie sich niedergekniet und den Schnitt in ihrer Fußsohle untersucht hatte. Sie schloss einen Moment lang die Augen und sah erneut die konzentrischen Kreise unter ihren Lidern, ein schwaches, diamantweißes und goldenes Schimmern, das in den Wald hineinführte. Wenn sie die Augen öffnete, war es verschwunden. Doch sobald sie die Augen wieder schloss, kehrte es zurück. Das Licht glitzerte wie ein mit Wimpeln versehener Kreis, der sie stetig nach Süden lockte, auch wenn sie den Kopf hin und her drehte, um zu sehen, ob es sich bewegte.

Sie wusste instinktiv, dass es sie selbst war, die sie da sah – ein flüchtiger Abdruck ihres Selbst, als sie wie ein Pfeil durch den Wald geschossen war. Sie wusste, dass sie mithilfe ihres eigenen Lichts nach Sommerley zurückfinden würde.

»Du konntest deinen eigenen Wärmeabdruck sehen«, sagte Morgan ausdruckslos. »Du konntest deinen Geruch wahrnehmen und deinen Wärmeabdruck sehen – obwohl beides bereits mehr als zwei Tage alt war.« Sie ließ sich wankend auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes nieder. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Ich weiß nicht, wie ich es genau erklären soll … Aber ja, das klingt in etwa richtig.« Jenna musterte Morgans Gesicht, das plötzlich kreidebleich geworden war. »Wieso? Was bedeutet das? Kannst du das nicht auch? Kann das nicht jeder hier?«

»Ich … Ich …« Morgan räusperte sich und begann heftig zu blinzeln. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und ihre Wangen röteten sich. »Und jetzt, wenn du jetzt deine Augen schließt, kannst du dann auch etwas sehen?«

Jenna zog eine Augenbraue hoch. »Woher weißt du, dass ich meine Augen geschlossen hatte?«

»Versuche es einfach«, flüsterte Morgan. »Es ist sehr wichtig, Jenna. Bitte, versuch es.«

»Ich muss mich dringend duschen, Morgan. Außerdem habe ich einen unglaublichen Hunger und bin vor Erschöpfung nahe der Ohnmacht. Ich finde nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für mich ist …«

»Marie Antoinette«, unterbrach sie Morgan mit einem heiseren Flüstern.

Jenna sagte nichts. Sie sah Morgan nur fragend an. Diese saß nun aufgeregt auf dem äußersten Rand des Stuhls. »Sie war die letzte Ikati …«

»Eine Königin. Ja. Ich weiß. Eure dem Untergang geweihte Vorfahrin, die Königin von Frankreich. Was soll mit ihr sein?«, fragte Jenna ein wenig gereizt. Ihr Fuß pochte schmerzhaft, sie verlor allmählich die Geduld, und ihr Magen verkrampfte sich so sehr, dass sie befürchtete, er würde sich vor Hunger bald selbst verdauen.

Morgan wirkte äußerlich wieder gefasster. Sie atmete normal, aber Jenna konnte das wilde Hämmern ihres Herzens hören, das wie ein Kolibri in ihrer Brust flatterte. »Die Ikati sind keine Hunde, Jenna. Wir leben nicht in Rudeln, obwohl wir Alpha, Hierarchien und mehr als genug Gesetze und Regeln haben«, erklärte sie langsam. Sie schluckte, ehe sie fortfuhr. »Wir sind KATZEN. Und jedes Katzenrudel hat eine Königin.« Sie machte wieder eine Pause. »Allerdings hatten die Ikati keine mehr seit Marie Antoinette. Sie war die mächtigste Alpha ihrer Zeit, um vieles begabter als die männlichen Alpha. Sie war die letzte wahre Königin.«

»Hat ihr offenbar nicht viel genützt«, murmelte Jenna ohne einen Anflug von Ironie in der Stimme.

Morgan schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, worum es hier geht. Der Königin von Frankreich wurde alles gestattet, weil sie so war, wie sie war. Sie hatte ihr Schicksal in der Hand. Wäre sie eine andere Ikati gewesen, hätte das Gesetz sie in Fesseln gelegt, so wie es das mit uns anderen tut. Das mag jetzt vielleicht weit hergeholt sein, aber wenn ich recht habe …«

Morgan holte tief und zitternd Luft. »Schließ einfach die Augen und sag mir, was du sehen kannst.«

Jenna starrte sie verwirrt an. »Warum?«

»Weil es wichtig ist.«

Jenna zog die Augenbrauen hoch.

Morgan holte erneut zitternd Luft. »Weil es sehr wichtig ist.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Bitte!«

Jenna stöhnte genervt auf. »Ich weiß bereits, was ich sehen kann. Das Licht! Das habe ich dir doch schon erklärt!«

Morgan sagte nichts, faltete aber die Hände vor ihrer Brust, wie um Jenna stumm anzuflehen.

»Also gut«, erwiderte diese durch zusammengebissene Zähne. »Aber du wirst enttäuscht sein. Außerdem schuldest du mir dann was.« Sie schloss die Augen.

Zuerst sah sie nichts außer das bernsteinfarbene Schimmern des Sonnenlichts hinter ihren Lidern. Zwei Singvögel begannen, draußen vor dem Fenster zu zwitschern – eine helle Melodie, die sich immer höher zu schrauben schien und die Luft mit ihren hellen Klängen erfüllte. Jenna seufzte frustriert auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Entspann dich, Jenna«, murmelte Morgan. »Lass los und konzentrier dich auf deine Atmung.«

Einatmen, Ausatmen. Sie entspannte ihren Körper und spürte dabei ihre Erschöpfung so sehr, dass sie befürchtete, selbst aufrecht stehend jeden Moment in Tiefschlaf zu versinken. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten, als sie gähnen musste. Dann bemerkte sie, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte. Etwas sank in ihre Zellen und schien die Zeit um sie herum aufzuweichen. Sie hörte nur noch das gedämpfte Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das schwache Echo von Morgans Atmen. Ein warmes Gefühl überkam sie, als ob man Honig über ihre Haut gießen würde.

Auf einmal überkam sie mit einem Atemzug eine stille Klarheit, so plötzlich, als hätte sie bereits seit Langem auf Jenna gewartet – als hätte es für sie nie etwas anderes gegeben, als mit geschlossenen Lidern zu sehen.

Bilder: ein nächtlicher Himmel, schwarz, klar, wolkenlos. Irgendwo auf dem Land, wo keine anderen Lichtquellen die jungfräuliche Dunkelheit stören konnte. Stille. Dann, nach einem Moment erwartungsvoller Anspannung ein Schimmern. Ein Stern.

Zuerst funkelte ein Stern – ein heller Punkt auf einem schwarzen Hintergrund aus Samt. Er schien so nah zu sein, dass sie glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihn berühren zu können. Dann ein weiteres schimmerndes Licht, wieder sehr nahe, doch diesmal blutrot. Dann noch eines und noch eines, glitzernd und hell und alle ganz nahe bei dem ersten.

Plötzlich leuchteten Tausende von Sternen auf.

Sie funkelten am dunklen Himmel, schimmerten und leuchteten und riefen Jenna mit einer wunderschönen, sehnsuchtsvollen Melodie. Die Töne durchliefen ihre Sinne wie ein warmer Zephir, wie ein seidiger, lebendiger Wind. Er ließ sich in ihrem Inneren nieder, als ob er schon seit Jahren darauf gewartet hätte, als ob er nur für sie sein Lied singen würde.

Sie sah überall Ansammlungen von Lichtpunkten, wie Galaxien im Universum – wunderschön, unwirklich und bis ins Unendliche um sie herum ausgebreitet. Die Sterne pulsierten mit einer heißen Kraft, wobei jeder eine andere Farbe, Form und Größe hatte. Jeder rief sie, jeder sprach sie direkt an.

Das eindringlichste Lied kam von dem leuchtend roten Stern. Jenna erzitterte.

Das Beben begann in ihrem Innersten, im Zentrum ihres Bauchs, und breitete sich dann über Arme und Beine aus. Es verwandelte sich in Gänsehaut, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch wurden zu einer roten Flamme. Eine große Freude übermannte sie und schien sie fast zu verbrennen. Am liebsten hätte sie nie mehr den Blick von diesen Sternen abgewandt, denn sie spürte, dass sie mehr waren als bloße Lichtquellen. Sie waren etwas wie …

»Du kannst sie alle sehen, nicht wahr?«, fragte Morgan mit einem ehrfürchtigen Flüstern, als ob sie in einer Kirche wäre. »Alle Ikati. Alle von uns. Alle auf der ganzen Welt.«

Jenna schlug die Augen auf und sah Morgan an. Ihr war ganz schwindlig, und sie musste mehrmals schlucken, ehe sie in der Lage war, zu antworten.

»Ich habe nichts gesehen.« Ihre Stimme klang erschütterter, als ihr lieb war.

Morgan betrachtete sie mit etwas wie Bewunderung. Bewunderung … und Ehrfurcht. »Doch, das hast du.«

»Nein, habe ich nicht.« Sie hielt einen Moment lang inne. »Und selbst wenn ich etwas gesehen hätte, bedeutet das gar nichts. Ich bin einfach wahnsinnig müde.«

»Ich werde dir erklären, was es bedeutet.« Morgan stand unsicher auf. »Es bedeutet, dass du mit uns allen verbunden bist. Du kannst uns überall finden, selbst wenn es stockdunkel ist, selbst in einem Schneesturm oder auf dem Meeresgrund. Diese Gabe ist die größte unserer Spezies – eine Gabe, die nur einigen wenigen von uns seit Anbeginn der Zeit zuteilwurde. Marie Antoinette war mit dieser Gabe gesegnet.«

»Tatsächlich bedeutet das«, fuhr Morgan fort und neigte den Kopf, während sie einen tiefen Knicks machte, »dass du die Königin bist.«

Jenna starrte sie verwirrt blinzelnd an. »Entschuldigung«, sagte sie langsam. »Ich glaube, ich habe bereits Halluzinationen. Ich dachte, du hättest gerade gesagt, dass ich die Königin sei.«

»Das bist du auch«, bestätigte Morgan. Mit schimmernden Augen richtete sie sich auf und sah Jenna an.

Für einen langen Moment herrschte völlige Stille. Nur die Standuhr, die an der hinteren Wand lehnte, tickte laut und durchdringend. Fünf, zehn, zwanzig …

»Das ist das Absurdeste, was ich jemals gehört habe.«

Jenna humpelte zum Bett zurück und ließ sich darauf nieder. Verwirrt sah sie sich in dem goldenen Zimmer um. Sie gähnte und kämpfte gegen eine erneute Welle der Müdigkeit an, die sie hinunter in den Ozean eines traumlosen Schlafes ziehen wollte.

Als sie aufblickte, stellte sie fest, dass Morgan sie anstrahlte.

»Nein, Morgan.«

»Doch, Jenna.«

»Nein. Nein!«

Morgan sah sie noch immer mit einem rätselhaften Lächeln an. Jetzt verlor Jenna endgültig die Geduld.

»Ich habe keine Ahnung, welches Spiel du hier mit mir treibst, aber ich bin wirklich nicht in der Stimmung dazu! Ich bin nur hierhergekommen, um zu erfahren, was mit meinem Vater passiert ist. Zuerst finde ich heraus, dass er … dass er hier hingerichtet wurde. Dann stelle ich fest, dass man mich gefangen hält, und jetzt behauptest du auch noch, dass ich die … dass ich eine …«

»Dass du eine Königin bist«, beendete Morgan ruhig und mit leiser Stimme den Satz. »Ob dir das gefällt oder nicht – genau das glaube ich. Du bist die Königin und nicht nur das. Leander ist dein … Gefährte.«

Jenna ließ sich auf das Bett fallen, wo sie sich in Embryonalstellung zusammenrollte. »Bitte geh jetzt einfach. Ich will allein sein. Bitte.«

Für eine Weile hörte Jenna nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren und Morgans unregelmäßiges Atmen. »Du solltest wissen«, murmelte Morgan, »dass es große Vorteile mit sich bringt, Königin der Ikati zu sein.«

»Ich kann mir kaum vorstellen«, sagte Jenna mit gedämpfter Stimme, da sie in die Bettdecke sprach, »dass es irgendeinen Vorteil haben könnte, der interessant für mich ist, Matriarchin eines Rudels wilder Tiere zu sein, das im Verborgenen lebt und sich gegenseitig auf der Stelle tötet, wenn auch nur eine Regel gebrochen wird.«

Jenna hörte das Rascheln von Seide, als Morgan nervös ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. »Jetzt werden die tun müssen, was du verlangst.«

Jenna hatte kaum die Kraft, ihr zu antworten. »Wer sollen die sein?«

»Der Rat«, erwiderte Morgan. »Wenn du die Königin bist, bedeutet das, dass du tun und lassen kannst, was du willst. Es bedeutet, dass du kommen und gehen und dein eigenes Leben führen kannst. Die anderen hingegen können zur Hölle fahren …« Morgan brach ab und seufzte befriedigt.

Etwas in ihrer Stimme begann Jenna nervös zu machen. Sie setzte sich auf und starrte Morgan an. »Du darfst ihnen nichts davon erzählen. Dass du das glaubst und so.«

Morgans Mund klappte fassungslos auf. »Mach dich doch nicht lächerlich! Weißt du denn nicht, was das für dich bedeutet? Du wirst in der Lage sein …«

»Versprich es mir«, unterbrach Jenna. Sie lehnte sich vor und nahm Morgans Hand. »Versprich mir, es niemandem zu sagen.«

»Jenna! Ich muss es ihnen sagen! Du hast keine Ahnung, wie wichtig du für uns bist – für mich …«

»Nein!«

»Warum um Himmels willen nicht?«, wollte Morgan indigniert wissen.

Jenna ließ Morgans Hand los und lehnte sich wieder zurück. Sie holte tief Luft und blickte über Morgans Schulter hinweg durch das Fenster. Der Himmel zeigte nun ein tiefes Azurblau. »Weil ich das nicht sein will. Ich kann es nicht sein.«

»Aber«, sagte Morgan überrascht, »warum nicht?«

Jenna massierte sich den Nasenrücken. Sie hasste die Erinnerung, die jetzt in ihr aufstieg. Verzweifelt versuchte sie, ihre Stimme so monoton wie möglich klingen zu lassen. Zumindest ihre Stimme konnte sie kontrollieren. Im Gegensatz zu den Qualen ihres Herzens. Im Gegensatz zur Vergangenheit.

»Nachdem mein Vater verschwunden war, trank meine Mutter sich langsam zu Tode. Sie brauchte acht Jahre dafür. Es war nicht schön, und ich war hilflos. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe täglich gebetet, dass das, was sie so krank machte und ihr solche Angst einflößte, endlich aufhören würde. Ich glaube, sie war wortwörtlich zu Tode geängstigt. Durch die Vorstellung, wer ihr da ständig folgte, durch die Vorstellung, wer oder was sie tot sehen wollte.« Sie blickte Morgan an. »Die Ikati. Und jetzt erklärst du mir, dass ich angeblich … Was? Die Anführerin bin? Das Oberhaupt jener Leute … jener Tiere, die sie umgebracht haben? Derjenigen, die meinen Vater töteten?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Niemals. Das wird nie passieren.«

Morgan sah sie einen langen Moment mit ernster Miene an. »Es tut mir leid, das mit deiner Mutter zu hören«, sagte sie leise. »Das habe ich nicht gewusst. Ich wusste nur – so hat man uns das allen erzählt –, dass dein Vater die Kolonie wegen einer Menschenfrau verließ und ein Kind mit ihr bekam. Und dann hat er …« Sie befeuchtete ihre Lippen und zögerte weiterzusprechen. »Und dann hat er …«

»Sich selbst geopfert, um uns zu retten«, beendete Jenna den Satz.

»Ja, das hat er offenbar getan. Aber er wusste genau, was er tat. Er liebte diesen Ort«, erklärte Morgan sanft. »Er liebte sein Volk, seine Stellung, unsere Lebensweise. Er verließ Sommerley nicht, weil es schlecht war. Er verließ es, weil er nicht haben konnte, was er wollte, wenn er geblieben wäre. Wegen des Gesetzes. Aber du kannst alles haben, was du willst, Jenna. Begreifst du denn nicht? Weil du so bist, wie du bist, kannst du gehen oder du kannst bleiben. Du kannst all das haben, wonach ich mich mein ganzes Leben gesehnt habe.«

Morgan lehnte sich vor und nahm vorsichtig Jennas Hand in die ihre. Einen Moment lang hielt sie sie fest.

»Und das wäre?«

»Freiheit«, hauchte sie. »Du kannst deine Freiheit haben.«

Jenna erinnerte sich wieder an Morgans Worte, die sie am Abend ihrer Ankunft so eindringlich in der Limousine ausgesprochen hatte: Es geht eher darum, was wir versuchen, nicht rauszulassen.

Jennas Körper fühlte sich vor Müdigkeit so schwer an, dass sie das Gefühl hatte, durch die Matratze direkt auf den Boden sinken zu können. Das Bedürfnis zu schlafen schien so unwiderstehlich wie die Anziehungskraft des Mondes auf die Gezeiten. Noch einen Moment länger kämpfte sie dagegen an.

»Die hatte ich bereits, Morgan. Die habe ich bereits, und es gibt nichts, das mich hier gegen meinen Willen festhält. Ich mache da nicht mit. Ganz gleich, was Leander und der Rat oder sonst jemand auch versuchen mag – ich werde nicht mitmachen.« Sie sah Morgan blinzelnd an. Ihr Gesicht verschwamm immer wieder vor ihren Augen. »Und ich glaube auch nicht, dass du in Wirklichkeit mitmachen willst. Ich glaube, dass dir dieser ganze Macho-Scheiß bis hier steht.«

Morgan drückte erneut ihre Hand. Ihr Gesicht verschwamm wieder vor Jennas Augen, als sich die Erschöpfung wie langsam härter werdender Zement durch ihre Muskeln ausbreitete.

»Versprich mir also, dass du ihnen nichts erzählen wirst. Jedenfalls nicht für den Moment. Nicht ehe ich herausgefunden habe, wie es sich vermeiden lässt – oder wie ich es schaffe, hier wegzukommen. Versprich es mir. Dann werde ich dir versprechen, dir dafür auch etwas zu geben. Was immer du willst, und was immer ich dir geben kann.«

»Alles?«, fragte Morgan, die plötzlich angespannt wirkte. »Du gibst mir alles, was ich will? Ist das ein Versprechen?«

»Ja, das ist ein Versprechen.«

Jennas Augen fielen zu. Doch sie riss sie wieder auf, als sich Morgans Fingernägel in das Fleisch ihrer Hand vergruben. Sie beugte sich zu ihr, die Augen groß und dunkel, und sah sie eindringlich an.

»Ich will, was mir immer vorenthalten wurde, was für andere selbstverständlich ist. Ich will, was du hast, Jenna. Ich will frei sein. Ich will Sommerley verlassen können und nie mehr hierher zurückkehren. Ich will mir auch keine Sorgen machen müssen, dass man mich sucht und jagt. Wenn du Leander dazu bringen kannst, mich gehen zu lassen, dann werde ich niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Ich werde dir sogar helfen, hier rauszukommen. Du hast mein Wort.«

Die unterdrückte Leidenschaft in Morgans Stimme überzeugte Jenna.

Sie sank zur Seite, und ihr Kopf fiel auf das Kissen. »Abgemacht«, murmelte sie bereits halb schlafend. »Aber verrat es niemandem. Das wissen nur wir beide … Für den Moment … Und ich werde Leander überreden, dich ziehen zu lassen … Ich bin mir sicher, dass ich einen Weg finden werde, ihn zu überzeugen …«

Die Dunkelheit begann sich wie eine warme, weiche Decke über sie zu legen.

Sie schlief beinahe, als sie Morgan noch etwas flüstern hörte. Etwas Gequältes, Worte voller Selbsthass. Fast klang es so, als ob sie um Vergebung bitten würde.

Doch ehe Jenna fragen konnte, wofür Morgan um Vergebung bat, sank sie in tiefen Schlaf.