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Jenna hatte seit der Kindheit immer wieder den gleichen Traum. Obwohl die Einzelheiten manchmal variierten, wachte sie jedes Mal mit dem gleichen Glücksgefühl auf. Sie rannte durch einen uralten Wald, sprang über Baumstämme und moosbewachsene Steine, flog durch die Luft und glaubte, vom Morgennebel wie von seidigen Haarsträhnen umspielt zu werden. Sie konnte sich diesen Momenten völlig hingeben. Während sie lief, stieg der Duft von Moos und grünen Blättern wie Parfüm in ihre Nase, und sie hatte das Gefühl, als ob der Waldboden nur aus weicher Muttererde bestünde.

Diesmal war der Traum aber anders und zutiefst verstörend.

Er begann damit, dass ihr jemand ihren Namen ins Ohr flüsterte.

Die Stimme klang vertraut und fremd zugleich – und seltsam beruhigend. Sie wandte sich ihr zu und streckte sich mit einem Seufzer danach aus. Ihre Fingerspitzen berührten weiche Haut über einem kraftvollen Kinn, ehe sie über volle Lippen fuhren. Doch ihre Augenlider fühlten sich so schwer an, dass es ihr unmöglich war, sie zu öffnen und das Gesicht unter ihrer Hand zu sehen. Die Lippen bewegten sich auf sie zu, strichen über ihre Stirn, ihre Schläfen und ihre Wange. Dann drückten sie sich sanft auf ihren Mundwinkel. Sie erbebte. Ein Duft von Gewürzen, Rauch und Sommerhitze spielte um ihre Nase.

»Ja«, murmelte Jenna in die Dunkelheit. Dann spürte sie die Hände.

Eine Hand mit kräftigen, kühlen Fingern legte sich um ihren Nacken und umfasste ihren Kopf. Die andere strich über ihre Wange und wanderte dann ihren Hals entlang bis zu jenem Punkt, wo ihr Puls heiß und kraftvoll unter der Haut schlug. Sie spürte, wie die Lippen sie dort berührten. Dann wurde ihr Name erneut geflüstert.

Sie drückte den Rücken durch und gab einen leisen, heiseren Laut von sich, ehe sie flüsterte: »Ja, bitte.«

Die Finger griffen in ihre Haare und zogen ihren Kopf sanft zurück, sodass ihr Hals ganz entblößt war. Ein federleichter Kuss auf ihrem Nacken verwandelte sich in ein stärkeres Saugen, als sich der warme Mund auf ihre Haut drückte. Jenna stöhnte, während sich ungezügeltes Verlangen zwischen ihren Beinen ausbreitete.

»Sag mir, dass du mich willst«, flüsterte die Stimme heiser, liebevoll, sexy. Lippen wanderten über ihre Haut.

»Ja, ja«, erwiderte sie. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihr Atem ging rascher.

»Sag es«, befahl die Stimme sanft.

Jenna zitterte vor rasendem Verlangen. Gänsehaut bildete sich auf ihrem ganzen Körper und erhärtete die Brustwarzen, sodass sie sich wie ein einziges Nervenbündel anfühlten, das sich nach seiner Zunge und dem sanften Druck seiner Zähne sehnte.

»Ich will dich, ich will dich, ich will …«

Doch ihre geflüsterte Antwort wurde durch die Lippen erstickt, die sich auf die ihren pressten. Finger vergruben sich in das Fleisch ihrer Hüften, und ihre Hände streckten sich aus, zogen das Gesicht näher heran. Ihre Finger wühlten in dicken, seidigen Locken.

Dann presste sie ihren Körper gegen eine feste Brust. Sie wollte mehr, so viel mehr. Doch plötzlich war der Kuss vorbei, die Hände waren verschwunden, und es blieb nichts anderes als ein leises, heiseres Lachen, das verklang, als sie hellwach hochschnellte. Zitternd und keuchend saß sie im dunklen Zimmer.

Sie brauchte Stunden, ehe sie wieder einschlafen konnte.

Als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, lag sie auf der Seite, die Knie angewinkelt, die Hände unter einer Wange gefaltet. Die Bettlaken waren um ihre Taille gewickelt. Sonnenlicht drang durch einen Spalt der schwarzen Rollos und bildete einen goldenen Fleck auf dem beigen Teppich.

In der Ferne schrie eine einsame Möwe, und der Geruch von heißem Espresso aus der Nachbarküche stieg ihr in die Nase. Sie sah den Wecker auf dem Nachtkästchen neben der Leselampe sowie ein gerahmtes Foto ihrer Mutter, die zur Abwechslung einmal gelächelt hatte. Im Hintergrund stand ihr Schreibtisch mit dem Computer und dem Telefon.

Das Buch, das sie gerade las, lag offen auf dem Nachtkästchen, obwohl sie sich genau daran erinnerte, dass sie es zugeklappt hatte, ehe sie das Licht ausgeschaltet hatte und eingeschlafen war.

Jenna runzelte die Stirn und starrte es einen Moment lang an. Dann setzte sie sich auf. Sie hatte es garantiert geschlossen. Das wusste sie. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie gedacht hatte, dass sie ein Buch aus der Bibliothek auf keinen Fall mit einem Eselsohr versehen durfte. Jetzt nahm sie das Buch und sah es an. Vielleicht war sie auch nur zu müde gewesen, um sich noch an irgendetwas genau zu erinnern. Mit einem Schulterzucken legte sie es wieder auf das Nachtkästchen, gähnte und streckte sich.

Mühsam schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Zuerst spürte sie den weichen Teppichboden und dann die kühlen Kacheln unter ihren Füßen, als sie das Badezimmer betrat. Ihr Spiegelbild zeigte, was für eine unruhige Nacht sie verbracht hatte. Ihre Haare waren zerzaust und verknotet, und ihre Augen gerötet. Die Lider waren aufgedunsen, und sie hatte tiefe Schatten darunter.

Sie schnitt eine Grimasse und drehte das Wasser in der Dusche auf. Dann beugte sie sich unter das Waschbecken, um ihre Bürste herauszuholen, damit sie einige der Knoten aus ihren Haaren herausbekommen konnte, während das Wasser heiß wurde.

Als sie das Schränkchen unter dem Waschbecken öffnete, stellte sie fest, dass ihr Make-Up-Täschchen von seinem üblichen Platz in einem kleinen Drahtkorb beiseitegeschoben worden war. Auch die Cremes und Parfümflaschen daneben wirkten so, als hätte jemand sie bewegt.

Jenna richtete sich so rasch auf, dass sie beinahe mit dem Kopf gegen das Waschbecken gestoßen wäre.

Sie war geradezu zwanghaft ordentlich. In einem Apartment, das so winzig war wie das ihre, blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Alles hatte seinen Platz, jeder Raum war genau aufgeteilt, um ihn so effizient wie möglich zu nutzen. Ihre Kosmetikartikel waren stets perfekt geordnet.

Jetzt nicht mehr.

Sie versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Im Grunde war es nichts. Vermutlich hatte sie nur vergessen, gestern noch einmal alles aufzuräumen. Sie war so müde, so erschöpft gewesen. Ja, das musste es sein. Sie hatte sich unwohl gefühlt und verwechselte jetzt wahrscheinlich ein paar Dinge. Langsam ließ sie die Tür des Schränkchens zufallen und stellte sich unter die Dusche.

Nachdem sich Jenna angezogen hatte, kochte sie sich einen Kaffee. Während sie in der Küche das Kaffeepulver in einen Filter löffelte, fiel ihr auf, dass eines ihrer ledergebundenen Fotoalben, die sie auf einem Regal im Wohnzimmer aufbewahrte, einige Zentimeter weiter herausragte als die anderen – als ob man es hastig wieder zurückgestellt hatte, aber nicht mehr dazu gekommen war, es vernünftig zu verstauen.

Eine böse Vorahnung kroch ihr wie eine Schlange über den Rücken.

Sie lief zur Wohnungstür und kontrollierte, ob sie verriegelt war. Aber es war alles in bester Ordnung. Auch die Fenster und die Terrassentür waren verschlossen.

Jenna stand für einen langen Moment im Wohnzimmer und schaute auf den Ozean und den Strand hinaus. Sie war derart in Gedanken versunken, dass sie den Kaffee kalt werden ließ.

Es war kein Problem gewesen, in ihr Apartment zu gelangen, obwohl es abgeschlossen war.

Leander war einfach durch die haarfeine Ritze in der oberen Ecke des Badezimmerfensters eingedrungen – jene Ritze, die ihr erst auffallen würde, wenn sie groß genug war, um von einem Auge wahrgenommen zu werden.

Wesentlich schwieriger war es gewesen, ihr beim Schlafen zuzusehen.

Sie schlief mit der unschuldigen Hingabe eines Kindes. Sie atmete tief und ruhig, ihr Körper lag in der Mitte des Doppelbetts, die Arme waren weit ausgebreitet und ihre Haare hatten sich wie ein goldener Wasserfall über die Kissen ergossen. Der Mond tauchte ihren schlanken Hals und die nackten Schultern in ein weißes Licht.

Er beobachtete sie aus der Ecke ihres dunklen Schlafzimmers, während sich seine Brust langsam hob und senkte. Ihr nackter Körper zeichnete sich unter den Laken ab.

Er hatte sich bereits in ihrem Apartment umgesehen und nach Hinweisen gesucht. Nach irgendetwas, das zeigte, dass sie tatsächlich eine der Gaben ihrer Spezies besaß.

Bisher hatte er nichts entdecken können.

Sie mochte Kunst und Musik und liebte es anscheinend zu lesen. Das war mehr als eindeutig. Ihre Bücher, ihre große CD-Sammlung, die abgerissenen Eintrittskarten zu einer Molière-Ausstellung im Getty Museum. Rechnungen von einem französischen Restaurant, Postwurfsendungen in einer Korbablage neben dem Telefon in der Küche. Speisekarten in einer Schublade. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Geliebten, keine Fotos von Freunden, kein Hinweis, dass sie irgendjemandem nahestand. In ihren Fotoalben befanden sich nur alte Bilder ihrer Mutter, von ihr selbst als Kind und von Orten, die sie besucht hatte. Dazwischen lagen einige Postkarten.

Ihr ordentliches, ja geradezu steriles Apartment verwies auf ein Leben, das von Einsamkeit geprägt war.

Als Leander sich verwandelt hatte, war er zuerst nicht auf die Idee gekommen, sie zu besuchen. Er hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, sondern ließ sich nur von der warmen Nachtluft nach oben tragen und die Veranda des Four Seasons weit hinter sich. Die Lichter und Geräusche der Stadt rückten in immer weitere Ferne, während er sich in der Atmosphäre fast auflöste. Er wirbelte und schlingerte durch feine, saphirblaue Wolken und überließ sich dem Spielen des Windes.

Er kannte ihren Namen und ihre Adresse. Er hatte auch ein Foto von ihr, das allerdings einige Jahre alt und leicht verschwommen war.

Aber er kannte sie nicht. Er kannte nicht dieses Wesen aus Gold, Satin und weiblichen Kurven. Mit einer Haut wie Rosen, Sahne und Sonnenlicht auf Wasser. Im Gegensatz zu ihr waren die anderen seiner Spezies alle dunkel, mit Haaren so schwarz wie der Waldboden um Mitternacht und gebräunter Haut. Er hatte nicht geahnt, dass die Stärke seines Verlangens ihn dazu bringen würde, auf seine Knie zu sinken, nackt in der Dunkelheit zu kauern, sein Herz bis zum Hals pochen zu spüren und ihren Duft in sich aufzunehmen.

Das hatte er nicht erwartet.

Er nahm sie in sich auf und fragte sich zugleich, ob sie auch die Gabe der Schönheit besaß, die alle Ikati miteinander teilten. Schließlich war sie zur Hälfte ein Mensch und damit minderwertig. Sie gehörte jener untergeordneten Spezies an, die sich aus Erde und Schmutz entwickelt hatte und zu Gewalt, Gier und Krankheiten neigte. Er hatte noch nie einen einzigen dieser Menschen auch nur andeutungsweise attraktiv gefunden.

Ihr Vater hingegen schon. Er hatte das Unvorstellbare getan und sich mit einer Menschenfrau vereint. Er hatte zudem Leanders Vater das Versprechen abgerungen, dass seine Halbblut-Tochter nicht nach Sommerley gebracht werden durfte, um dort bis zu ihrer ersten Verwandlung ein Leben in Gefangenschaft zu führen. So befahl es gewöhnlich das Gesetz. Jenna hingegen sollte es gestattet sein, frei von den Fesseln der Pflicht und der Einschränkung innerhalb der Kolonie aufzuwachsen.

Für eine Frau gab es mehr Einschränkungen, als für so manche erträglich war.

In der langen Geschichte der Kolonie hatte es immer wieder Deserteure gegeben. Mit ihnen hatte man ebenso rasch und gnadenlos kurzen Prozess gemacht, wie man das bei anderen Bedrohungen von außen tat.

Leander beobachtete Jenna, bis die Muskeln in seinen Schenkeln zu schmerzen begannen. Dann stand er auf und trat lautlos neben ihr Bett. Selbst in Menschengestalt war er so leise wie eine Katze. Er sah in der Dunkelheit genauso gut wie am helllichten Tag. Überhaupt verfügte er über die geschärften Sinne der animalischen Seite in ihm.

Gewöhnlich war das ein Vorteil. Jetzt jedoch … Jetzt war es eher Folter.

Auf ihrem Nachtkästchen lag ein Buch. Er schlug es auf und las einen Abschnitt.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das konsumiert, ohne zu produzieren. Der Mensch gibt keine Milch, er legt keine Eier, er ist zu schwach, um mit bloßen Händen ein Feld zu pflügen, er kann nicht schnell genug laufen, um Hasen zu fangen. Trotzdem versteht er sich als Herr über die Tiere. Er lässt sie für sich arbeiten, und er gibt ihnen gerade genug, dass sie nicht verhungern. Den Rest behält er für sich selbst.

Leander lächelte belustigt. Farm der Tiere von George Orwell.

Welche Ironie.

Er richtete den Blick wieder auf Jenna. Einen Moment lang betrachtete er den Bogen ihrer Lippen, ihre glatte Stirn, ihre weichen Wangen. Steckte mehr in ihr als die Sinnlichkeit, die sie ausstrahlte und die ihm so gut gefiel? Wie stand es mit ihrem Sinn für Humor, ihrer Intelligenz, ihrer Leidenschaft? Würde sie um ihre Freiheit kämpfen?

Wie auch immer sich die Dinge entwickelten – die Zeit ihres Lebens in Freiheit war für sie auf jeden Fall fast vorbei. Wenn sie ihre Gestalt wandelte und ganz zu einer ihrer Spezies werden würde, musste er sie nach Sommerley zurückbringen. Notfalls sogar mit Gewalt. Sie würde der Kolonie beitreten und lernen, was es bedeutete, eine Itaki zu sein. Eines Tages wäre sie vielleicht sogar die Seine.

Dieser letzte Gedanke kam so unerwartet, dass er komplett erstarrte, die eine Hand immer noch auf dem Buch.

Die Meine.

Er ging neben dem Bett in die Hocke. Eine lange, goldene Locke hing vom Kissen herab. Er hob sie hoch und drückte sie an seine Nase.

Und wenn sie sich nicht verwandeln kann, wenn sie keine Gabe besitzt, dachte er und starrte auf ihre karmesinroten Lippen, die im Schlaf leicht geöffnet waren. Dann ist es die Aufgabe des Alpha, sie zu töten. Meine Aufgabe.

»Jenna«, flüsterte er beinahe lautlos in die Dunkelheit.

Sie bewegte sich ein wenig und gab ein leises Stöhnen von sich. Ihr Rücken drückte sich unter den Laken durch – eine schläfrige, laszive Bewegung, die ihren Körper einen Moment lang anspannte.

Er sah ihre schmale Taille, ihren flachen Bauch, ihre vollen, perfekten Brüste.

»Ja, bitte«, murmelte sie und sank dann mit einem Seufzer wieder auf die Matratze.

Ein solch heftiges Verlangen ergriff ihn, dass ihm einen Moment lang schwindlig wurde. Dann begriff er, dass sie träumte.

Er spürte, wie der Boden unter ihm verschwand, wie sich die Grundfeste von Gesetz, Ordnung und Stammesrecht, sein gesamtes Leben aus Pflicht und Opfer, Sicherheit und Schweigen auflösten. Jenna wurde mit einem plötzlichen Sinneswandel in ihm zu dem einzigen Wesen, das er begehrte.

Aber er war der Alpha und sie ein Halbblut, Tochter eines Verstoßenen. Ihre Zukunft hing an einem seidenen Faden, ihr Leben war in großer Gefahr.

Er durfte sie nicht zu der Seinen machen.

Ihre Haarsträhne glitt aus seinen Fingern, und er richtete sich mit pochendem Herzen auf. Dann wandte er sich zum Gehen.