24

Sie kehrten auf dieselbe Weise nach Sommerley zurück, wie sie es verlassen hatten, indem sie durch den Schornstein schossen, der zu dem riesigen Kamin in Leanders Schlafzimmer führte. Er verwandelte sich bereits wieder in seine menschliche Gestalt, als Jenna aus der Marmoröffnung schwebte und sich in einer Rauchsäule herabließ, um sich dann vor seinen Augen ebenfalls zurückzuverwandeln.

Leander rannte zu seinem Schrank, wobei er so schnell war, dass seine Füße kaum den Boden zu berühren schienen, und riss eine beigefarbene Hose und ein weißes Leinenhemd von hölzernen Kleiderbügeln. Ohne etwas zu sagen, reichte er beides Jenna. Sie zog sich rasch an, schlug die langen Ärmel und Hosenbeine hoch und beobachtete währenddessen Leander, wie dieser Kleidungsstücke für sich herausnahm.

Ihr Blick fiel auf den zerknitterten Haufen aus Mänteln, die noch immer auf dem Boden lagen. Dort hatten sie einander erst wenige Stunden zuvor geliebt. Leanders Miene wurde mit jeder Sekunde, die verging, angespannter und düsterer.

Jenna vermutete, dass auch er jetzt den Gestank des vergossenen Blutes riechen konnte. Er war hier stärker wahrzunehmen und schien die Luft wie Schießpulver zu erfüllen. Sie würde die Quelle finden, woher der Geruch kam, wenn er es ihr erlauben würde, wenn er ihr nur einen Moment Zeit ließe. Doch er eilte bereits an ihr vorbei zur Tür und die Treppe hinab. Barfuß stolperte sie hinter ihm her, während er sie an der Hand durch die langen Korridore des Herrenhauses zerrte – den Herzschlägen und gedämpften Stimmen entgegen.

Sie rissen die schweren Mahagonitüren zur Ostbibliothek auf. Schlagartig herrschte in dem großen Raum Stille.

Alle waren dort versammelt: die Anführer der Ikati und Leanders Ratsmitglieder. Sie saßen starr vor Schock um den langen, rechteckigen Tisch oder hatten sich in kleinen Gruppen in den Ecken des Zimmers versammelt. Aus irgendeinem Grund standen alle Fenster weit offen, sodass es in der Bibliothek eiskalt war.

Morgan saß allein in einer Ecke im Schatten. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, als ob sie sich schützen wollte, und starrte auf den Boden. Als Jenna und Leander eintrafen, richtete sie den Blick erleichtert auf ihn.

Diese Erleichterung wurde jedoch rasch von etwas wie Entsetzen abgelöst.

Christian war der Erste, der seine Stimme wiederfand.

»Ihr seid in Sicherheit«, sagte er kaum hörbar. Sein Blick war einen Moment lang auf Jenna gerichtet, ehe er zu ihrer Hand herunterwanderte, die Leander festhielt, um schließlich ihr zerzaustes Haar und ihre geschwollenen Lippen zu begutachten. Er lief dunkelrot an.

Auch sie errötete, als ihr klar wurde, dass sie vermutlich nicht nur so aussah, als ob sie eine wilde Liebesnacht hinter sich hätte, sondern dass sie auch nach Leander roch. Ein Geruch, den alle im Raum wahrzunehmen vermochten.

»Wir wussten nicht, wo ihr seid … Niemand konnte euch ausfindig machen …«, platzte es aus ihm heraus.

»Was ist passiert?«, unterbrach ihn Leander harsch. »Wo ist Daria?«

»Sie ist noch während des Festes verschwunden. Wir haben sie die ganze Nacht über gesucht. Und wir haben auch versucht, euch zu finden. Wir dachten, ihr seid alle verschwunden …«

»Sie ist verletzt.«

»Das wissen wir! Wir haben ihr Blut und Fußspuren gefunden, die aus dem Osttor führen. Zwei Wachen wurden getötet …«

»Wie zum Teufel sind die hier hereingekommen?«, donnerte Leander und umfasste dabei Jennas Hand so fest, dass sie schmerzte. »Ich habe hundert Mann, die alles bewachen. Wir haben Sensoren und Kameras installiert …«

»Ist das nicht deine Aufgabe?«, fauchte Christian. Er holte zitternd Atem. »Sicherzustellen, dass niemand hier herein- oder hinauskommt?« Sein Blick schoss zwischen Jenna und Leander hin und her und wanderte immer wieder von ihren verschränkten Fingern zu ihren Gesichtern hoch. »Oder bist du vielleicht etwas zu abgelenkt, um dich darum auch noch kümmern zu können?«

»Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, sie zurückzubekommen«, unterbrach einer der Anwesenden. »Wir müssen uns darauf konzentrieren, den Rest der Kolonie besser zu bewachen …«

Die Männer begannen mit immer lauter werdenden Stimmen zu diskutieren. Schon bald herrschte ein solches Durcheinander, dass Jenna ganz verwirrt war.

Nur eine Stimme blieb seltsam still. Ihr Schweigen zog Jennas Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf sich, während ihr ein neuer Geruch in die Nase stieg. Es war ein düsterer, durchdringender Gestank, als ob etwas gestorben wäre und jetzt ganz in ihrer Nähe verwesen würde.

Sie erkannte den Geruch sofort.

Schuld. Es war der klebrige, aufdringliche, schreckliche Gestank von Schuld.

Verzweiflung breitete sich wie eine Krankheit in ihrer Brust aus, während sie nach der Quelle des Geruchs suchte. Etwas Furchtbares war ihr auf einmal klar geworden. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte das Gefühl, als ob sie gerade eine Giftpille geschluckt hätte.

»Morgan!«

Ihre Stimme hallte von den holzvertäfelten Wänden der Bibliothek wider. Das Entsetzen, das darin anklang, ließ die versammelten Männer abrupt schweigen. Leanders Finger umklammerten die ihren so fest, als ob sie sich in einem Schraubstock befinden würden, während dreißig Paar überraschte Augen zuerst zu Jenna und dann zu Morgan wanderten. Diese saß erstarrt und totenbleich auf ihrem Stuhl.

Jennas Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern der Anklage. »Was hast du getan?«

Einen langen, endlosen Moment antwortete Morgan nicht. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte Jenna an. Ihre Haare fielen ihr wie ein schöner, schwarzer Wasserfall über die Schulter. Tränen stiegen ihr in die Augen und begannen ihre Wangen hinabzulaufen.

»Es sollte nicht sie sein«, stöhnte sie.

Im Zimmer brach Chaos aus. Ein großer Mann, den Jenna zuvor nicht bemerkt hatte, stieß einen Schrei der Wut aus. Er war blass und hager. Seine Augen wirkten ganz eingefallen vor Sorge. Mit einem Satz sprang er auf und eilte zu Morgan. Vier Männer konnten ihn gerade noch davon abhalten, seine Hände um ihren Hals zu legen und zuzudrücken. Sie packten ihn an den Armen und zerrten ihn fort, während er vor Zorn aufheulte und sich wie ein Wahnsinniger aus der Umklammerung der anderen zu befreien versuchte.

»Kenneth! Reiß dich zusammen, Mann!«, rief jemand dem Umsichschlagenden zu. Jenna begriff, dass es sich um Darias Ehemann handelte. Ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Wie grauenvoll es sein musste, seinen Partner zu verlieren. Wie sie bluten würde, wenn etwas Leander zustieße. Wie sie tausend Tode sterben würde, wenn jemand ihn verletzte …

Ihren Partner.

Ihr Magen zog sich zusammen, als ob sie sich auf einmal im freien Fall befinden würde. Schlagartig stockte ihr der Atem.

Ihr Blick schoss zu Leander. Er stand aufrecht und aufs Höchste angespannt neben ihr. Sein ganzer Körper strahlte Gefahr und eine kaum kontrollierte Wut aus, als er Morgan hasserfüllt anstarrte. Sie weinte jetzt hemmungslos, während sie von einem Kreis von Männern umringt wurde. Jenna jedoch vermochte nicht den Blick von Leanders Gesicht abzuwenden. Sie vermochte nicht zu atmen, vermochte nicht, sich zu bewegen.

Für einen langen Moment konnte sie ihn nur ansehen – erstarrt und mit offenem Mund. Sie spürte, wie ihr ihre Vergangenheit und ihre Zukunft aus den Händen glitten und wie ihr Herz pochte und sich zusammenzog – als ob es sich in einem Todeskampf befände.

Wenn sie dich jemals finden sollten … Lauf! Und jetzt?

Was war jetzt mit ihr?

Hatte sie sich tatsächlich verliebt? Sie konnte doch nicht in ihn verliebt sein. Ein kalter Wind, der durch die offenen Fenster hereingekommen war, blies ihr ins Gesicht. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als ob sie sich in größter Gefahr befände.

Sie blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück, als gerade zwei Männer damit beschäftigt waren, Morgan an den Armen zu packen und von ihrem Stuhl auf die Beine zu zerren. Sie ließ es mit sich geschehen, ohne zu protestieren. Die Männer zogen sie in Richtung der Tür, während sie Morgan als »Verräterin«, »Monster« und »Hure« beschimpften.

Mit schwachen Knien und am ganzen Körper zitternd löste sich Jenna aus Leanders Griff. Sie musste laut rufen, um die wütenden Stimmen der Männer zu übertönen.

»Stopp!« Alle erstarrten. Leander drehte den Kopf in Jennas Richtung, als sie einen vorsichtigen Schritt nach vorne trat. Dann noch einen. Sie fühlte sich in Leanders Hose und Hemd, die ihr nicht so recht passten, den Blicken der anderen unangenehm ausgeliefert. Der kühle Holzboden sog bei jedem Schritt die Wärme aus ihren nackten Fußsohlen.

»Ich möchte mit ihr sprechen.«

Alejandros süßliche Stimme schwebte vom anderen Ende des Zimmers zu ihr hinüber. Sie kam ihr ganz unwirklich vor. »Meu caro, mischen Sie sich bitte nicht ein. Wir haben keine Zeit für ein Kaffeekränzchen, sie muss jetzt auf der Stelle befragt werden …«

»Ich werde nur Jenna antworten!«, schluchzte Morgan und lehnte sich an die Arme, die sie festhielten. »Keiner von euch Mistkerlen wird mich zum Reden bringen!«

»Was zum Teufel ist hier los?« Leanders Stimme hinter Jenna klang schneidend und hart. »Warum will sie nur mit dir sprechen?«

Jenna trat noch einen Schritt auf Morgan zu, ohne auf Leander zu achten.

»Wo hat man sie hingebracht?«, fragte Jenna sanft, während sie langsam durch den Raum schritt. Sie spürte die Blicke der anderen auf sich, als ob ihr Male in die Haut gebrannt werden würden.

Jetzt meldete sich Durga zu Wort. Er grollte wie ein Donner, der im ganzen Raum widerhallte.

»Sie haben nicht die Befugnis, diese Verräterin zu befragen, Lady Jenna – ebenso wenig wie Sie befugt sind, an diesem Treffen teilzunehmen.« Er drängte sich durch die Menge und baute sich vor Jenna auf. Sein dunkler, schwerer Körper blockierte ihr den Weg. Finster und unheilvoll funkelte er sie an. »Sie haben überhaupt keine Befugnis«, fauchte er. Er schürzte die Lippen und entblößte eine Reihe überraschend gleichmäßiger, weißer Zähne. Aufgebracht verschränkte er seine dicken Arme vor der Brust. »Ich bestehe also darauf, dass Sie jetzt gehen.«

Jenna spürte, wie Leander hinter ihr einen Schritt auf sie zu tat. Sie spürte, als er mit der Hand nach ihrer Schulter griff, dass er Durga die Kehle zudrücken wollte. Diese Empfindung war so stark, dass sie alles bis in kleinste Detail vor ihrem inneren Auge sehen konnte: wie Durga mit dem Tod rang und schließlich leblos auf dem Teppich zu ihren Füßen lag, wie sein Blut auf dem kalten Holzboden zu roten Lachen gerann, und wie seine Finger in die Luft ragten, reglos und starr.

»Ich bin der Alpha dieser Kolonie, Durga«, fauchte Leander knapp hinter Jenna. »Ich gebe hier die Befehle. Diese Frau steht unter meinem Schutz. Überlegen Sie sich das nächste Mal also genau, was Sie sagen!«

Ehe Durga antworten konnte, meldete sich Morgan mit einer hohen, klaren Stimme hinter ihm zu Wort.

»Die Königin der Ikati hat jegliche Befugnis zu tun, was ihr beliebt. So will es das Gesetz.«

In diesem Moment schien sich die Luft im Zimmer vollends in Eis zu verwandeln.

Leanders Finger zuckten, als er sie in Jennas Schulter bohrte. Keiner bewegte sich, keiner sprach ein Wort. Jenna vermutete, dass sogar keiner mehr atmete. Irgendwo in der Ferne begann ein Hund zu bellen.

Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob sie sich selbst von oben sehen würde – als ob sie als feiner Nebelschleier frei und körperlos über der versammelten Menge an der Decke schweben würde. Ein seltsames Gefühl der Entrückung erfüllte sie und verursachte ihr einen leichten Schwindel. Ihr Blut schien aufgehört zu haben, durch ihren Körper zu zirkulieren und sich stattdessen in einer schweren Masse in ihren Füßen angesammelt zu haben. Sie glaubte, sie wäre vermutlich in Ohnmacht gefallen, wenn sie nicht den Druck von Leanders Hand auf ihrer Schulter gespürt hätte, wie er seine Nägel immer tiefer in ihrer Haut vergrub.

In die erstarrte, verblüffte Stille hinein sagte Christian mit einer Stimme, die wie eine Glocke klang: »Ich wusste es!«

Durga sah Jenna entsetzt an. »Nein. Unmöglich! Sie ist ein Halbblut …«

Viscount Weymouth unterbrach ihn sofort. Seine Stimme klang unsicher. »Tochter des mächtigsten Alpha unserer Geschichte, eines Leibwandlers …«

»Ein Verräter!«, rief Durga. »Der einen Menschen geheiratet hat! Ihr Mischlingsblut ist unrein. Sie kann nicht einmal ein Zehntel seiner Gaben haben. Sie kann nicht Königin sein!«

»Leibwandler?«, murmelte Jenna, ohne jemanden direkt anzusprechen. Sie schwebte noch immer über der Szene. Die Rufe der Männer hallten an den Wänden wider und drangen nicht bis zu ihr durch. Sie stand eindeutig unter Schock.

Alpha.

Halbblut.

Königin.

»So etwas ist früher schon einmal geschehen, Durga.« Weymouths blaue Augen, die blass und rheumatisch wirkten, richteten sich auf Jenna. Sein Gesicht war aschfahl. »Kleopatra, die letzte Pharaonin von Ägypten, war eine Halbblut-Königin. Sie werden sich an sie erinnern, nehme ich an.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Der Spruch ist so alt wie unsere Spezies: Blut folgt Blut. Wenn das Blut stark ist, dann sind auch die Gaben stark.«

Er hob die Hand und zeigte mit einem zitternden Finger auf Jenna. »Und ihr Blut ist das stärkste von allen.«

Leibwandler.

Jennas Schockstarre hörte schlagartig auf, und sie kehrte mit einem inneren, dumpfen Schlag in die Gegenwart zurück.

Das Blut begann wieder aus ihren Beinen zu fließen und unter ihrer Haut wie ein Feuer zu brennen. Die Männer starrten sie alle an – ein Raum voll fassungsloser Blicke. Nur einer hinter ihr tobte innerlich vor Zorn. Seine Wut nahm immer mehr zu, pulsierend und pochend. Sein Blick bohrte sich in ihren Rücken wie Messer.

Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wie glühend Leander sie musterte.

»DAS IST BLANKER UNSINN!«, brüllte Durga. Er wandte sich mit glühendem Blick an Leander. »Reine Fantasie! Woher wollen Sie wissen, dass diese Frau nicht mit den Verbrechern unter einer Decke steckt, die Ihre Schwester entführt haben? Sie hat sich tagelang mit dieser da in ihr Zimmer eingesperrt …« Er wies mit dem Daumen auf Morgan, die inzwischen auf dem Boden kniete, während die Männer um sie herum Jenna schockiert ansahen. Ihr Zorn war vergessen. »Mit einer Frau, die gerade zugegeben hat, Hochverrat begangen zu haben. Mit einer Frau, die Sie in Ihren Rat gewählt haben, mit einer Frau, die alles über uns weiß – unsere Verteidigungsstrategien, unsere logistischen Stärken und Schwächen. Alles!«

Er bedachte Jenna mit einem Blick solch unverstellten Hasses, dass sie beinahe einen Schritt zurückwich. »Sie kann nicht die Königin sein! Man kann ihr nicht einmal über den Weg trauen! Die beiden haben das wahrscheinlich die ganze Zeit über geplant!«

»Nein«, meldete sich Christian tonlos zu Wort. »Sie weiß nichts davon.«

Durga gab einen leisen, feindseligen Ton von sich, der wie Donnergrollen durch den Raum rollte. »Das wissen wir nicht! Man sollte sie beide festnehmen und befragen. Dann können wir entscheiden, was wir mit …«

»Jenna.« Leanders Stimme hinter ihr klang angespannt und hart. »Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?«

Sie wandte ihm den Kopf zu, um ihn anzusehen. Wie ein hässlicher Fleck verunstaltete er sein feines Gesicht.

Der Zweifel.

Er zweifelte an ihr. Und sie hatte gerade erst begriffen, was er ihr bedeutete. Sie hatte gerade erst begonnen, sich selbst einzugestehen, wie sehr sie ihn brauchte, wollte und welche Rolle er für sie spielte. Und jetzt … Und jetzt zweifelte er an ihr.

»Jenna«, wiederholte er. Es klang wie ein Befehl.

Ein schwacher Sonnenstrahl fiel durch die hohen Fenster und breitete sich hell auf dem schimmernden Holzboden aus. Leanders Gesichtszüge wurden von dem warmen Licht erhellt. Doch in seinen Augen zeigte sich keine Wärme. Sie glitzerten diamanthart und kalt.

Er wartete schweigend. Selbst wenn sie alle Reichtümer dieser Welt bekommen hätte, wäre es ihr in diesem Moment nicht möglich gewesen, zu sprechen.

»Sag es ihnen, Jenna!«, schluchzte Morgan. »Zeig ihnen, wozu du in der Lage bist!«

Leanders Hand glitt von ihrer Schulter, und er trat einen Schritt zur Seite. Die ganze Zeit über hämmerte nur ein Wort in ihrem Kopf und löschte alles andere mit seiner grausamen Ironie aus, die sie vielleicht zum Lächeln gebracht hätte, wenn sie nicht am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.

Partner.

»Du kannst nicht ernsthaft annehmen, dass ich etwas mit Darias Verschwinden zu tun habe, Leander«, sagte sie so ruhig, wie es ihr in diesem Moment möglich war. Innerlich fühlte sie sich nur noch schwach und vor Entsetzen taumelnd. All die neue Freude, die sie im Wald gefunden hatte, wurde ihr Zentimeter um Zentimeter wieder entrissen – wie von einem schwarzen Loch des Schmerzes, das alles in sich aufsog. »Das kannst du nicht ernsthaft glauben.«

Er starrte sie weiterhin regungslos an. Seine Augen musterten sie mit einer kühlen Berechnung, während sein Gesicht so wild, so animalisch wirkte, dass ihn nichts mehr zähmen konnte. »Du wolltest nichts als die Wahrheit von mir wissen, erinnerst du dich noch?«, murmelte er. »Das hast du von mir verlangt. Und jetzt …« Seine Stimme klang weich, dunkel und beherrscht. Sie verriet nichts von seinen Gefühlen. »Jetzt muss ich es von dir verlangen, meine Liebe.«

In der Bibliothek herrschte Totenstille. Kein Muskel regte sich, niemand wagte zu atmen, als sich der mächtigste Alpha der Ikati ihr ganz zuwandte und sie mit seinem grünen Blick, klar und kalt wie der eines Drachen, durchbohrte.

»Gibt es etwas, was du mir sagen möchtest?«

Sie verspürte einen seltsamen Schmerz, während sie beobachtete, wie sich der Zweifel auf seinem Gesicht ausbreitete und in etwas anderes, Dunkleres verwandelte. Atemlos schwieg sie, während die Sekunden dahintickten. Der seltsame Schmerz brannte in ihr, und doch konnte sie nichts sagen. Sie konnte nicht sprechen.

Leander wandte sich schließlich ab. Jenna merkte, wie etwas in ihrer Brust zu Boden fiel und zerbrach – wie das Glas, das sie in Händen gehalten hatte. Sie verlor sich, verlor das Gefühl der Erfüllung und der Befriedigung, das sie erst vor Kurzem kennengelernt hatte – in seinen Armen, von seinem Körper erfüllt, als ihrer beider Wesen so perfekt ineinander gefunden hatten, als ob sie für einander gemacht worden wären.

Sie verlor den einzigen Moment des flüchtigen Glücks, den sie jemals gehabt hatte.

Bebend holte sie Luft. Es gelang ihr, das Zittern ihrer Beine zu beherrschen und sogar die Galle hinunterzuschlucken, die in ihr aufstieg, als sie sich Morgan zuwandte. Diese kniete noch immer erbärmlich auf dem Boden, umringt von fassungslosen Männern.

»Sag ihnen, was du weißt. Sag ihnen, wo man sie hingebracht hat.«

»Ich weiß es nicht!«, heulte sie auf. »Man hat mir nichts gesagt. Ich wurde nur einmal kontaktiert. Sie haben mir versprochen, dass sie nur den Hüter der Geschlechter wollten – nur ihn und sonst niemanden!«

Viscount Weymouth richtete sich auf. Dann eilte er mit zwei schnellen Schritten zu Morgan und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.

Durch den Schlag wurde ihr Kopf nach hinten geworfen, doch sie fing sich sogleich wieder und starrte ihn finster an. Ihr Gesicht war von Tränen und Wimperntusche verschmiert, doch ihr Stolz schien nicht gebrochen zu sein.

»Wie hat man dich überredet?«, wollte er wissen. Er bebte vor Zorn. »Warum wolltest du uns hintergehen?«

Morgan lachte freudlos. Ihr hübsches Gesicht wurde zu einer Grimasse des Hasses. »Warum ich euch betrügen wollte?« Sie lachte kalt auf. »Weil jede Entscheidung, die mich betrifft, nicht von mir selbst gefällt wird! Weil sogar der Hüter der Geschlechter bestimmt, wen ich heiraten soll, so, wie er das für alle anderen Frauen unserer Spezies bestimmt, damit die Blutlinien rein gehalten werden! Für euch sind wir doch nichts anderes als Zuchttiere!«

Viscount Weymouth schlug ihr erneut ins Gesicht. Diesmal tat er es so heftig, dass sie zu Boden stürzte, wo sie sich gerade noch mit den Ellenbogen abfangen konnte. Auf ihrer Unterlippe zeigte sich ein Tropfen Blut. Sie leckte ihn weg und fuhr sich dann mit dem Handrücken über den Mund. Das Blut wurde über ihr Kinn verschmiert.

»Hast du irgendeine Vorstellung, was du getan hast?«, rief Weymouth.

Die anderen Männer rückten näher. Sie starrten Morgan mit geballten Fäusten und Mienen an, die schwarz vor Zorn waren.

»Sie werden uns alle töten!«

»Dann lasst uns sterben!«, gab sie zurück. Ein Dutzend Hände fassten nach ihr und packten sie hart an ihren Handgelenken, Armen und der Taille. Sie wurde auf die Füße gezogen. »Wir leben sowieso bereits in Ketten, gefesselt, von eurem wunderbaren, verdammten GESETZ

Weymouth holte aus, um sie erneut zu schlagen, doch diesmal wurde er am Arm festgehalten.

»Nicht«, sagte Leander sehr leise. Seine Finger umschlossen das Handgelenk des anderen Mannes. »Nicht noch einmal.«

Der Viscount entwand sich seinem Griff und trat einen Schritt zurück. Keuchend und mit großen Augen massierte er die Stelle, wo Leanders Finger so fest zugepackt hatten.

»Bringt Morgan in eine Zelle, um sie zu befragen«, fuhr Leander fort. Seine Stimme war noch immer leise und zutiefst düster. Er wies mit dem Kopf auf Morgan, ohne jedoch den Viscount aus dem Blick zu lassen. »Und du wirst dort auf mich warten. Fang nicht ohne mich an. Ohne meine explizite Erlaubnis fasst man sie nicht mehr an. Ist das klar?«

Der Viscount nickte und wich noch weiter zurück.

»Und was ist mit ihr?«, wollte Durga wissen und zeigte zornerfüllt auf Jenna.

Leander drehte den Kopf, um Jenna erneut zu mustern. Es war eine einzige elegante Bewegung, die er mit seinem Hals ausführte, und für einen kurzen, schrecklichen Moment war sie sich sicher, ebenso wie Morgan ins Gefängnis geworfen zu werden. Sie presste ihre Fersen auf den Boden und blieb so aufrecht und ausdruckslos wie möglich stehen. Doch der Blick, mit dem er sie bedachte, und das schmallippige Lächeln, das sich auf seinem Mund zeigte, bohrten sich wie ein tödlicher Pfeil in ihr Herz.

All die Wärme und Weichheit, die im Wald zwischen ihnen bestanden hatte, wurde jetzt durch etwas Fremdes, Kaltes ersetzt. Es durchschnitt die Luft zwischen ihnen, glatt wie ein Stahlmesser, gefährlich, tödlich.

»Christian, Andrew.« Leanders Blick wanderte zu seinem Bruder und einem weiteren, viel größeren Mann. Dann kehrte er zu Jenna zurück. »Bringt Jenna in ihre Gemächer. Es darf niemand mit ihr sprechen. Wartet dort auf mich, bis ich komme.« Er wich noch einen Schritt von ihr zurück.

»Ihr werdet Daria ohne sie niemals finden!«, schrie Morgan und versuchte sich von den Händen zu befreien, die sie festhielten. Jemand riss ihr den Arm hinter den Rücken, sodass sie vor Schmerz zusammenzuckte. »Ohne Jenna ist sie so gut wie tot!«, fuhr sie fort.

Doch niemand achtete auf sie. Beinahe alle hatten ihren Blick stattdessen auf Jenna gerichtet.

Diese gab kein Wort des Protests von sich, als Christian zu ihr trat und sie sanft am Arm nahm. Sie sagte nichts, während er und Andrew sie aus der Bibliothek führten. Mit ausdrucksloser Miene schritt sie erhobenen Hauptes dahin. Auf keinen Fall wollte sie, dass man ihr ihre Angst ansah.

Aber als sie durch die Tür auf den Gang hinaustrat, konnte sie nicht anders: Sie musste einen letzten Blick auf Leander werfen.

Also drehte sie den Kopf und sah über ihre Schulter hinweg zu ihm hin. Er stand alleine in der Mitte des Raums, regungslos, angespannt und ihr direkt in die Augen schauend.

Er erwiderte ihren Blick aus tödlich kalten Augen.