21

Leander hatte Jennas Reaktion auf das Grab ihres Vaters nicht vorhergesehen. Wie hätte er auch? Bisher war sie ihm als eine Frau erschienen, die so stark und trotzig sein konnte, dass man ihr nicht einmal sagen konnte, wie viel Uhr es war, ohne einen sofortigen Widerspruch von ihr zu erhalten.

Doch der Anblick des flachen Steins, in den der Name ihres Vaters gemeißelt war, ließ sie wie ein weggeworfenes Taschentuch zu Boden sinken und weinen. Sie schluchzte so heftig, dass ihr ganzer Körper zitterte. Nach einer Weile kniete sie sich hin, die Haare nass und schwer über ihren Schultern und ihrem Rücken, wie ein tropfender Trauerschleier. Ihre Knie und ihre Finger sanken tief in die feuchte Erde.

»Warum?«, sagte sie gequält und heiser zu dem Grabstein. Ihre Stimme ging im Donner des Unwetters beinahe unter. »Warum hast du mich verlassen?«

Leander kniete sich neben sie und legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter, die sie jedoch sofort wegschlug. Ein Fleck schmutziger Erde blieb auf seinem Handgelenk zurück. Sie drehte sich ihm mit weit aufgerissenen Augen voller Verzweiflung zu.

»Du hättest ihm helfen können!«, schrie sie, das Gesicht totenbleich. Auf ihren Fersen vor und zurück wippend, die Zähne entblößt, strömten ihr heiße Tränen und kalter Regen die Wangen hinunter und vermischten sich zu großen Tropfen. »Du hättest sie aufhalten können!«

Er spürte das Tier in ihr, das unter der menschlichen Oberfläche fauchte – eine dunkle, tödliche Kreatur, vor Zorn brüllend, bereit zum Sprung.

»Nein«, sagte er leise und vorsichtig.

Er bewegte sich nicht. Er wandte auch nicht den Blick ab, obwohl der eisige Regen und die kalte Luft so sehr in seine nackte Haut schnitten, dass es wehtat. Dennoch rührte er sich nicht von der Stelle, sondern kniete weiterhin regungslos im langen Gras auf dem nassen Erdboden. Er atmete so regelmäßig wie möglich und behielt eine neutrale Miene. Auf keinen Fall wollte er sie durch plötzliche Bewegungen über den Abgrund stoßen, vor dem sie sich befand.

Wenn sie sich jetzt in einen Panther verwandelte, würde sie ihn garantiert ohne zu zögern angreifen.

In Tiergestalt waren die Ikati gefährliche Urwesen, die plötzlich in Gewalt ausbrechen konnten. Ihr menschliches Bewusstsein und jeder Teil ihres menschlichen Herzens wurden in solchen Momenten von dieser Urgewalt erfasst. Sie vermochten zwar noch immer ihre Vernunft, ihre Erinnerung und den Kern ihrer Persönlichkeit zu bewahren, aber sie wurden auch höchst unberechenbar, oft sogar tödlich.

In Pantherform und mit dem Zorn, der sich im Moment in Jennas Augen widerspiegelte, wäre sie in der Lage gewesen, Leander problemlos zu töten. Sie wäre voll frischer, unverbrauchter Kraft, ihre Emotionen wären ungebremst und überwältigend, und ihrem Instinkt, die Quelle ihrer Qualen anzugreifen, wäre kein Einhalt zu gebieten.

Also blieb er so, wie er war, während er sich gleichzeitig innerlich auf die Gefahr einstellte, die ihm von ihr drohte. Sein Blut schoss schneller durch seine Venen, seine Muskeln, jede Faser seines Körpers zitterte, so sehr konzentrierten sie sich darauf, ihre menschliche Form zu erhalten.

»Ich war damals noch nicht Alpha, Jenna. Ich war kaum älter als ein Kind.«

Ein Blitz erhellte den Himmel über ihnen und tauchte einen Moment lang alles in ein grelles weißes Licht. Dem Blitz folgte weiterer Donner, und dann schien der Regen noch stärker zu werden. Sie waren beide klatschnass. Er wusste, dass ihr eiskalt sein musste, hatte sie doch nur ihre Haarmähne, um sich vor den Elementen zu schützen.

Doch Jenna machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Sie ignorierte den Regen und das Gewitter und starrte nur auf Leanders Gesicht – und zwar mit einem Ausdruck, der ihn so sehr schmerzte, als ob ihm ein Dolch mitten ins Herz gestoßen worden wäre.

Hass. Sie starrte ihm mit unverhülltem, gnadenlosem Hass entgegen.

»Ich glaube dir kein Wort.« Es war beinahe ein Knurren, das zornige Fauchen eines Tieres.

Kälte und Regen schnitten weiterhin in ihre Haut. Die Regentropfen fielen in das hohe Gras und fielen von Leanders Nasenspitze. Er spürte plötzlich, wie es glühend heiß zwischen ihnen knisterte, und konnte bereits den ihm so vertrauten Geruch von Rauch und Schießpulver wahrnehmen, der hinten in seinem Rachen aufstieg. Er wusste, was jetzt passieren würde.

»Ich würde dich niemals anlügen, Jenna«, sagte er heiser, wohlwissend, dass er sein eigenes Leben in Gefahr brachte, wenn er sich nicht sofort verwandelte, ehe sie es tat. »Ich schwöre es dir. Ich würde dich niemals anlügen.«

Er sah zu, wie sie, zitternd, zu keuchen und zu blinzeln begann. Ihr Blick ging einen Moment lang ins Leere, ehe sie wieder zu fokussieren vermochte. Ihre Augen wurden zu schmalen, leuchtend grünen Punkten, die sich in animalischem Zorn immer mehr zu verengen schienen.

Ihre Pupillen verwandelten sich zu schwarzen, vertikalen Schlitzen, und ihre Augen glühten nun in einem unwirklichen Malachitgrau. Das Zittern ihres Körpers wurde immer heftiger. Ihre Gliedmaßen zuckten, als ob unsichtbare Ameisen über jeden Millimeter ihrer Haut krochen. Doch noch bewegte sie sich nicht von der Stelle. Sie strahlte größte Feindseligkeit aus, zusammengerollt wie eine tödliche Kobra, die zum Angriff bereit war.

Leander spürte es. Er wusste, dass es kam.

Der eiskalte Wind raubte ihm fast den Atem.

Als ein weiterer Blitz den Himmel erhellte und den regendurchtränkten Friedhof, in dem sie knieten, in sein Licht tauchte, verwandelte sich Jenna in einen Panther.