11

Jenna entdeckte den Knopf an der Armlehne, mit dem man das schwarz getönte Fenster öffnen konnte. Der Geruch des nassen Grases und der vom Regen gereinigten, nächtlichen Luft drang in das warme, kaum beleuchtete Innere der Limousine. Sie starrte nach draußen. Voll Staunen sah sie die drei Meter hohen Steinmauern, die Sicherheitskameras und den Stacheldraht, der sich hinter den Toren zwischen sorgfältig beschnittenen Feigenbäumen verbarg.

»Es sieht wie eine Festung aus«, sagte sie verblüfft. Als sich das Haupttor öffnete, verschwanden die Steinmauern aus ihrem Blickfeld, und jetzt sah sie nur noch riesige Rasenflächen vor sich, die von Flutlichtern erhellt wurden. »Mit welchen Angriffen rechnet ihr hier? Wer sind eure Feinde?«

»Die Welt, ihre Geheimnisse und ihr Elend«, erwiderte Christian sanft. Seine Stimme klang lasziv zärtlich.

Er hatte es sich bequem gemacht, die langen Beine lässig vor sich ausgestreckt, Rücken an Rücken mit dem Fahrer. Jenna und Morgan befanden sich ihm gegenüber, auf der Rückbank im hinteren Teil des Wagens. Die getönte Fensterscheibe zwischen Gästen und Fahrer war geschlossen, und das Licht, das immer wieder durch die Scheiben eindrang, umgab Christians Kopf mit einem dunklen Strahlenkranz.

Sein Gesicht war in Schatten getaucht. Doch seine perfekten weißen Zähne schimmerten, wenn er lächelte. Trotz der Dunkelheit spürte sie seinen aufmerksamen Blick, was sie in leichte Panik versetzte. War sie wahnsinnig gewesen, freiwillig hierherzukommen? Hatten die Ikati vor, sie bei lebendigem Leib zu verspeisen? In diesem Moment wurde sie von Morgan aus ihren Gedanken gerissen, die neben ihr vor sich hin murmelte.

»Es geht eher darum, was wir versuchen, nicht rauszulassen.« Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig zur Seite und verschränkte ihre schlanken Arme über der Brust.

Jenna runzelte die Stirn. Je näher sie Sommerley kamen, desto trübsinniger wirkte Morgan. Sie warf ihr einen heimlichen Blick zu und stellte fest, dass die schöne Frau starr und blass aus dem Fenster blickte, die Lippen geschürzt.

»Was soll das heißen?«, fragte sie.

»Das wirst du schon noch merken«, erwiderte Morgan düster, ohne sie anzusehen.

Ein statisches Knistern ließ sie zusammenzucken. Der Fahrer sagte etwas in eine Sprechanlage, die an einer schmalen Säule neben der Einfahrt zu Sommerley angebracht war. Das Knistern verwandelte sich in eine blechern klingende Stimme, und dann öffneten sich mit einem Klicken die schweren Eisentore.

Langsam gingen sie auf, um die Limousine einzulassen. Fast lautlos rollten sie am Pförtnerhaus vorbei, dessen dunkle Fenster Jenna wie leere Augen ansahen.

Das Herrenhaus von Sommerley war so, wie Jenna das in Leanders Gedanken gesehen hatte. Als sie jedoch auf dem weißen Kies der Einfahrt vor dem Gebäude stand, erschien es ihr wesentlich riesiger und einschüchternder als in seinen Erinnerungen. Sie bemerkte kaum den Lakai in Livrée, der wie der Fahrer offenbar ein Ikati war und leicht nach vorne gebeugt dastand, während er die Tür hinter ihr offen hielt.

Das Haus war Furcht einflößend, aber auch atemberaubend schön.

Im Garten befanden sich perfekt zugeschnittene Hecken und Begrenzungen aus unterschiedlichen duftenden Kräutern, auf denen Regentropfen wie kleine Juwelen lagen. In der Ferne sah sie sprudelnde Alabasterbrunnen und Statuen, während eine riesige, runde Halle mit zahlreichen Marmorsäulen in dunkles Umbrabraun getaucht war, das von Scheinwerfern, die zwischen den Hecken verborgen waren, angestrahlt wurde. Hinter dem großen Haupthaus erstreckten sich tiefe Täler, die von einem graublauen Nebel verhüllt waren, der sich in dicken Schwaden bis zum dunklen Horizont hinzog – bis zum Wald.

Der Mond war eine weiße Perle am Himmel und tauchte alles in sein bleiches Licht.

Das Zirpen von Grillen und Zikaden, das Quaken von Fröschen und das Knirschen von Kies unter ihren Schuhen begleitete die drei ins Innere des Hauses. Der Bedienstete, der weiße Handschuhe trug, führte sie durch mit Eisen beschlagene Türen, doppelt so hoch wie ein Mensch, ins Foyer. Jenna vermochte kaum an sich zu halten, als sie sah, was sie dort erwartete.

Vom ersten Moment, als sie das Haus betrat, wurde sie von der Schönheit, den Stimmen und dem Widerhall der Schritte fast überwältigt. Christian und Morgan liefen vor ihr, der Lakai folgte. Eine verwirrende Mischung aus Dutzenden verschiedener exotischen Parfüms stieg ihr in die Nase, während die seidenbespannten Wände und die barocken Kuppeln mit ihren eisig glitzernden Kronleuchtern ihr fast den Atem raubten.

Auf den schimmernden Parkettböden lagen schwere persische Teppiche. In jedem Raum, an dem sie vorbeikamen, knisterte in einem großen Marmorkamin ein Feuer, überall standen chinesische Porzellanvasen und Kristallschalen mit duftenden Pfingstrosen sowie Unmengen von Orchideen. Die Tische wiesen Intarsienarbeiten auf, und in einem riesigen Salon schien alles in Gold getaucht zu sein. Uhren tickten, Stoffe raschelten und das Murmeln von Stimmen im Labyrinth des Herrenhauses drang an Jennas Ohr. Überall wurde man an die Wesen erinnert, die durch die Hallen dieses magischen Ortes liefen.

Es gab zahlreiche Statuen von Panthern in verschiedenen Positionen – schleichend und jagend, zum Sprung ansetzend, laufend. Sie waren aus Onyx, Marmor oder Bronze und wahrlich nicht zu übersehen.

»Wenn ich Sie zu Ihren Räumen begleiten darf, Lady Jenna.« Ein anderer Diener in Livrée sprach sie an. Er verbeugte sich tief, wobei er den Blick nach unten gerichtet hielt und zu der breiten, geschwungenen Treppe wies, die in den ersten Stock führte. Auch er strahlte die still vibrierende Kraft der Ikati aus, wie vermutlich alle in Sommerley, selbst die Bediensteten. So wie Morgan von den Menschen sprach, nahm Jenna nicht an, dass sie irgendwelche Angehörige dieser Spezies hier finden würde.

»Oh, bitte«, sagte sie zu dem Mann, der sich immer noch verbeugte. »Nennen Sie mich bitte doch einfach Jenna.«

Das schien ihn zu verblüffen, auch wenn er sich rasch fing und nur noch blinzelte, um ihr so zu bedeuten, dass diese Bitte höchst ungewöhnlich war. »Ja, Madam, wenn es Ihnen Freude bereitet«, murmelte er und glitt dann mehr, als er lief, Richtung Treppe.

Jenna sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Lady Jenna?

»Man hat dich erwartet«, erklärte Morgan und nahm sich eine Feige aus einer Waterford-Kristallschale, die auf einer kleinen Anrichte aus Kirschholz stand. Sie drehte die Frucht in ihren Fingern, roch einen Moment daran und legte sie dann wieder in die Schale zurück. »Ich bin am Verhungern. Das bisschen Kaviar, das ich während des Flugs gegessen habe, hat mich nicht einmal annähernd befriedigt.«

Sie strich sich einen unsichtbaren Fussel vom Ärmel ihrer schwarzen Taftbluse und seufzte. Dann warf sie einen Blick in den goldumrahmten Spiegel, der über der Anrichte hing. Die Wand dahinter war cremefarben, und hoch über ihren Köpfen wölbte sich eine Kuppel. Morgans Miene wirkte säuerlich. »Wer erwartet mich?«, fragte Jenna.

»Na ja, alle«, antwortete Morgan. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und Christian, der mit verschränkten Armen breitbeinig neben ihr stand, schnaubte leise.

»Wir müssen jetzt zu einer Versammlung, Jenna. Wenn du uns also für eine Weile entschuldigen würdest«, sagte er und warf Morgan einen Blick zu. Sie nickte. »Aber wir werden danach noch zu Abend essen, falls du dann noch Hunger hast. Oder du rufst einfach in der Küche an und lässt etwas aufs Zimmer bringen.«

Morgan rief Jenna über die Schulter hinweg zu. »Ich muss mich noch frisch machen. Bis später, Jenna.« Der Diener, der Morgans Gepäck trug, richtete sich kerzengerade auf, als sie an ihm vorbeieilte, um dann zwei Schritte hinter ihr zu folgen.

Wie zuvor bewunderte Jenna die gefährliche Kreatur in ihren schwarzen, hohen Pumps, ihrer Taftbluse und dem Kaschmir, wie sie den breiten Flur entlanglief, von dem zahlreiche schwere Holztüren mit Perlmutt-Intarsien abgingen.

»Mach keinen Unsinn«, fügte Morgan noch mit einem leisen Lachen hinzu, ehe sie hinter einer dieser Türen verschwand.

Jenna sah Christian an.

Sein Körper strahlte eine knisternde, elektrische Spannung aus, die die Luft um sie herum zu erhitzen schien. Er lächelte sie mit einer Intensität an, die seine Augen ungewöhnlich hell leuchten und Jennas Herz einen Moment lang aussetzen ließ.

»Ich bin mir sicher, dass ich hier keinen Unsinn machen kann«, sagte Jenna ein wenig beschämt, obwohl sie nicht wusste, warum.

»Wirklich?« Sein Blick war ruhig. »Bisher hast du doch einiges Talent dafür gezeigt.«

Sie gab ein verärgertes Schnauben von sich. »Versuchst du etwa, mir ein besseres Gefühl zu geben? Da kann ich dir gleich sagen, dass das nicht funktioniert.«

Es folgte eine längere Pause, ehe Christian näher trat. Seine Augen schienen noch immer zu glühen, als er nur wenige Zentimeter vor ihr innehielt. Er war beinahe genauso groß wie Leander und ebenso muskulös und kompakt. Sie musste zu ihm aufblicken.

»Das ist meine Art, dir zu verstehen zu geben, dass du vorsichtig sein musst, Jenna«, sagte er. »Alpha sind daran gewöhnt, das zu bekommen, was sie wollen. Ganz gleich, wie.«

Die Schamesröte stieg ihr in die Wangen. »Zur Kenntnis genommen. Und auch, wenn es dich nichts angeht, da ist nichts zwischen Leander und mir, und ich habe auch nicht vor, dass sich das ändert.«

Christian starrte sie mehrere Sekunden lang an, den Kopf zur Seite geneigt, als ob er sich überlegte, wie wahr ihre Aussage wohl war. Zögernd streckte er auf einmal die Hand aus und strich ihr mit einem Finger über die heiße Wange. Er schien selbst nicht ganz zu wissen, was er da tat. Sie erstarrte. Als er ihre Reaktion bemerkte, verzog er gequält das Gesicht. Er ließ die Hand sinken, und seine Augen bekamen einen schrecklich traurigen Ausdruck.

»Er braucht dazu nicht deine Erlaubnis«, murmelte er. »Du befindest dich jetzt in seiner Welt. Es gibt niemanden, der ihn daran hindern wird, das zu tun, was er tun will.« Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und ihren Hals bis zum offenen Kragen ihrer weißen Seidenbluse. Jetzt röteten sich seine Wangen. »Alles, was er will.«

Sie widerstand dem Drang zurückzuweichen und richtete sich stattdessen auf. »Ich kann mich schon um mich selbst kümmern.«

Er richtete einen Moment lang die Augen auf ihr Gesicht und nickte. Sein Mund verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Das weiß ich.« Das Lächeln verschwand, und er runzelte die Stirn. Seine nächsten Worte kamen ihm nur stockend und stammelnd über die Lippen. »Aber … Wenn du irgendetwas brauchst … irgendetwas … ich bin für dich da. Ich würde dir gerne … du kannst immer … Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich … ich möchte …«

Er hielt inne, und sie sah ihn ernst und abwartend an. Das ließ ihn noch röter werden. Er schaute weg und atmete tief durch. Dann murmelte er etwas vor sich hin und verbarg das Gesicht hinter einer Hand, als ob er sich schämen würde. In diesem Moment begriff sie, was da vor sich ging. Ihr wurde klar, dass Christian ihr mehr anbot als nur seine Hilfe.

Ihr Puls begann schneller zu schlagen. Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen Mitgefühl – sie wusste, was es hieß, einsam und voller Sehnsucht zu sein –, größter Peinlichkeit und dem starken Wunsch, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen und in die mondbeschienene Nacht hinauszulaufen, um all das hier hinter sich zu lassen.

Antworten, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich bin hierhergekommen, um Antworten auf meine Fragen zu erhalten, und ich gehe nicht eher, bis ich sie habe. Ganz gleich, wie seltsam das alles hier wird.

Hinter diesem Entschluss verbarg sie sich wie hinter einem Schild. Sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn es besonders schwierig wurde. »Bleib ruhig und mach einfach weiter.«

Jenna suchte nach den richtigen Worten, und erst als sie diese aussprach, wusste sie, dass sie ernst gemeint waren.

»Danke«, sagte sie.

Christian riss den Kopf hoch und starrte sie erwartungsvoll an.

»Ich meine …« Einen Moment lang wurde sie durch seine leidenschaftliche Aura, die so gefährlich zwischen ihnen loderte, abgelenkt. Sie versuchte, sich zu sammeln und etwas zu sagen, was die Situation nicht noch verschlimmerte. »Ich meine, ich hoffe, dass wir Freunde werden können, denn ich werde Freunde brauchen, und du scheinst mir jemand zu sein, dem ich vertrauen kann.«

Es tat ihr sogleich leid, diese Worte gewählt zu haben.

Er schloss die Augen einen Moment lang, länger als für ein Blinzeln. Der gequälte Ausdruck huschte erneut über sein Gesicht, war jedoch sogleich wieder verschwunden. Er öffnete die Augen und sah sie mit einer derart offensichtlichen Gier an, dass sie glaubte, seine Hand auf ihrer Haut spüren zu können.

»Du solltest mir nicht vertrauen«, sagte er mit rauer Stimme. »Wenn ich der Alpha wäre, hätte ich dich bereits zu der Meinen gemacht – ganz gleich, was du willst. Mein Bruder zeigt zumindest eine gewisse Zurückhaltung.« Er hielt inne, und sie bemerkte, wie atemlos er klang. »Das würde ich nicht.«

Jetzt wich sie tatsächlich zurück, und zwar nicht nur einen, sondern zwei Schritte. Sie war auf einmal dankbar, dass der Diener noch immer neben der Treppe stand, wo er betont desinteressiert auf seine Schuhe starrte.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete sie verwirrt. »Du bist ein Gentleman.«

Er gab ein kurzes, hartes Lachen von sich und folgte ihr mit einem langen Schritt. Wieder stand er direkt vor ihr und blickte auf sie herab – groß, männlich, bedrohlich. »Bin ich das?« Er nahm ihre Hand, riss sein Hemd auf, sodass einige Knöpfe absprangen, und drückte ihre Finger auf seine nackte, muskulöse Brust. Dort hielt er sie fest, während Jenna entsetzt versuchte, sich loszureißen. »Du kannst Gedanken lesen, Jenna. Sag mir, was du siehst«, forderte er sie mit loderndem Blick auf. »Sag mir, ob ich ein Gentleman bin.«

Es gelang ihr, sich von ihm zu befreien. Einige Schritte rückwärtsstolpernd, presste sie vor Schrecken und Wut zugleich die Hand auf den Mund. Die Bilder, die den Bruchteil einer Sekunde lang vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt waren, hatten sich ihr eingebrannt. Es war eine Mischung aus Fleischeslust, Zärtlichkeit und intensiven Farben, die ineinander übergingen. Bilder von Jenna und Christian, einander leidenschaftlich küssend und noch leidenschaftlicher liebend, Bilder von Kindern, die ihnen beiden ähnlich sahen. Und einige seltsame, verschwommene Szenen einer großen Menschenmenge, die sich vor ihr verbeugte – gefolgt von einer überwältigenden Flut von Bildern ihrer Lippen, die immer wieder Ja sagten, während sie auf ihm ritt oder sich ekstatisch über ihn beugte.

Christian sah einen Moment lang den Schock in ihrer Miene, ehe sie es schaffte, wieder freundlich zu wirken. Seine Lippen zuckten freudlos. »Wir sind keine Menschen, Jenna. Vergiss das nicht. Die Ikati sind Tiere. Und wie alle Tiere sind wir nur an drei Dingen interessiert: Hierarchie, Territorium und Fortpflanzung.« Seine glühenden Augen wanderten über ihren Körper, wo sie einen Moment lang verweilten, ehe sie wieder in die ihren blickten. Vor Angst war ihr Mund ganz trocken geworden. »Aber jedes Mal«, fügte er hinzu, »wenn ich dir nahe bin, kann ich nur an eines der drei denken.«

Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon. Jenna blieb sprachlos und zitternd in der kalten Halle zurück.

»Man hat einen weiteren Toten gefunden«, erklärte Viscount Weymouth mit angespannter Stimme, als Leander die Ostbibliothek betrat. Ein Feuer knisterte im Kamin. Er blieb in der Tür stehen und musterte die Ratsmitglieder. Jedes Gesicht wirkte aschfahl vor Angst, und man sah ihnen an, dass sie aus dem Schlaf geholt worden waren. Die Augen waren übernächtigt, die Haare zerzaust, die Gesichter unrasiert.

Die Männer hatten alle Frauen und Kinder, die sie nicht gefährdet sehen wollten. Sie alle besaßen etwas, das sie zu schützen suchten.

Leander hatte sich nicht die Mühe gemacht, auszupacken, zu essen oder sich auch nur umzuziehen. Er war direkt von der Limousine hierhergekommen. Er wusste, dass man auf ihn wartete – vermutlich schon seit Stunden, und es war seine Pflicht, Entscheidungen zu treffen. Und zwar schnell.

Mit einer fließenden Bewegung der Schultern streifte er seinen schweren Wollmantel ab. Er warf ihn über einen Stuhl und eilte zu seinem Platz am Kopfende des langen Mahagonitischs. Dort setzte er sich jedoch nicht, sondern hielt sich an der geschnitzten Rückenlehne seines Sessels fest, um die schweigende Versammlung noch einmal zu betrachten. Das trockene Holz knisterte im Kamin, und den Männern schlug hörbar das Herz bis zum Hals.

Leander nickte Morgan zu, als sie durch die Tür trat und sich auf ihren angestammten Platz setzte. Dann musterte er stirnrunzelnd Christian, der mit grimmiger Miene und einem halb offen stehenden Hemd wenige Minuten später ebenfalls hereinkam. Er würdigte Leander keines Blickes, sondern stellte sich mit verschränkten Armen vor das Feuer und starrte in die Flammen.

Leander wandte sich jetzt Viscount Weymouth zu. »Was ist passiert?«, wollte er wissen.

»Diesmal geschah es außerhalb der Quebec-Kolonie. Die Leiche wurde steif gefroren in einem See gefunden, der gerade aufzutauen begann. Man nimmt an, dass sie dort den ganzen Winter über gelegen haben muss.« Der Viscount schob ihm eine französische Zeitung über den Tisch hinweg zu. Auf einem verschwommenen Foto war der nackte Körper eines Mannes zu sehen, der gerade von einigen Polizisten aus einem See gezogen wurde.

Wie auch der erste Leichnam, der im März außerhalb der Dhaktapur-Kolonie in Nepal gefunden worden war, hatte auch dieser keinen Kopf mehr. Allerdings vermochte man auf dem Bild nicht zu erkennen, ob man ihn ebenfalls verbrannt hatte.

Leander überlegte. Zwei Leichen innerhalb weniger Monate, vielleicht lagen die Morde sogar nur einige Wochen auseinander, je nachdem, welchen Todeszeitpunkt man bei diesem Toten ermittelte. Beide waren in der Nähe einer Ikati-Kolonie gefunden worden, beide ohne Kopf.

Es war ein eindeutiger Hinweis auf ihren alten Feind, die Expurgari. Für sie war es typisch, das Opfer zu foltern, es bei lebendigem Leib zu verbrennen und ihm dann den Kopf abzuschlagen. Was mit den Köpfen geschah, wussten die Ikati nicht.

Aber falls es sich um die Expurgari handelte, warum gab es dann nicht mehr Opfer? Warum griffen sie nicht direkt an?

»Hat man den Toten schon identifiziert?«, wollte Leander wissen. Er zog die Zeitung zu sich heran, wobei er sich beinahe fürchtete, sie zu berühren. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er erneut das Foto und las dann die Bildunterschrift: Der Leichnam des verschwundenen Aktivisten wurde in einem zugefrorenen See in der Nähe des Tremblant gefunden.

»Ja«, erwiderte Viscount Weymouth, und seine Stimme zitterte. »Es ist Simon Bennett.«

Leander merkte, wie er erbleichte.

Bennett war ein lautstarker Umweltaktivist, der für schärfere Gesetze gegen Umweltverschmutzung, für sauberere Energie und einen allgemein nachhaltigen Lebensstil gekämpft hatte. Es war ihm darum gegangen, Mensch, Tier und Planeten miteinander in Einklang zu bringen. Er hatte sich dafür eingesetzt, die Übervölkerung, die Verschwendung natürlicher Ressourcen und die Zerstörung von Mutter Erde einzudämmen.

Ausgesprochen lautstark und stets im Zentrum der Aufmerksamkeit hatte er dafür gearbeitet, dass die natürlichen Lebensbereiche von Pumas, Luchsen, Jaguaren und Panthern nicht weiter eingeschränkt wurden.

Beide Männer, die man getötet hatte, waren wie Viscount Weymouth Hüter der Geschlechter gewesen.

Leander musterte die Gesichter, die ihm alle zugewandt waren. Er kannte sie alle bereits sein ganzes Leben lang. Es waren Männer, mit denen er entweder aufgewachsen war, oder die er als Junge, als Sohn des Alpha, bewundert hatte. Männer, die er zu schützen geschworen hatte, sobald er selbst Alpha war.

Falls die Expurgari irgendwelche Informationen von ihren Opfern erhalten hatten, ehe sie diese getötet hatten, wenn sie sie folterten, um ihnen die Geheimnisse ihrer Kolonie zu entreißen, dann war jedes Mitglied, jeder Wohnort ihrer Spezies auf der ganzen Welt gefährdet …

Er spürte, wie dieselbe Angst in ihm aufstieg, die er in den Gesichtern dieser Männer sah. Er spürte, wie sie sich einer düsteren, gefährlichen Schlingpflanze gleich in ihm ausbreitete.

»Bewacht die Kolonie. Trefft eure Vorkehrungen. Keiner darf rein, keiner darf raus. Weymouth«, sagte er und wandte sich dem bleichen Viscount Weymouth zu. »Ruf den Alpha-Rat zusammen. Er soll sich so schnell wie möglich hier auf Sommerley einfinden.« Er holte tief Luft und spürte, wie sie sich säuregleich in seinen Lungen ausbreitete. Dann sprach er die Worte aus, die alle in ihrer Angst bestätigen und ihr Leben von diesem Moment an unweigerlich verändern würden.

»Sie haben uns wiedergefunden. Bereitet alles für einen Krieg vor.«