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Das Blut hatte sich auf den weißen Laken in großen, unregelmäßigen Kreisen ausgebreitet. Es changierte von hellrot über dunkelrot bis zu einer furchtbaren bräunlichen Farbe. Jenna hatte noch nie so viel Blut auf einmal gesehen.
Sie hegte wenig Hoffnung, dass die Frau, die das Blut verloren hatte, noch am Leben war. »Daria«, flüsterte sie und streckte einen Finger aus, um die kalte, blasse Wange zu berühren. »Daria?«
Daria lag nackt und mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bett. Ihre Hand- und Fußgelenke waren an den Eisenrahmen gekettet, während ihre Haare dunkel und zerzaust ihren Kopf umrahmten.
Ihr ganzer Körper war mit Wunden übersät.
Schreckliche violette und schwarze Flecken zeigten sich auf ihren Beinen und Armen. Tiefe Schnitte im Fleisch ihrer Schenkel und ihres Bauchs, schwarze kleine Brandmale auf der zarten Haut um ihre Brustwarzen.
Zorn stieg in Jenna auf und verkrampfte ihr den Magen, während sie auf das makabere Bild vor sich starrte. Darias lebloser Körper war zerschnitten und zerschlagen, ihr Gesicht, weiß wie der Tod, voller Blut und blauer Flecken. Dennoch strahlte es eine fast unheimliche Schönheit aus.
Darias Lider flatterten. Ein leises Stöhnen kam über ihre geschwollenen Lippen. Gott sei Dank, sie war am Leben. Jenna setzte sich vorsichtig an den Rand des Betts und hob Darias Arm. Er war eiskalt und der Puls sehr schwach.
»Geh«, flüsterte Daria, wobei sie ihren Kopf langsam und angestrengt bewegte und dabei eine gequälte Grimasse schnitt. Mit einer trockenen, bleichen Zunge fuhr sie sich über die aufgerissenen Lippen. Sie öffnete die Augen. Eine Pupille war größer als die andere. »Jenna, geh …«
»Rühr dich nicht. Sprich nicht«, flehte Jenna und strich ihr sanft eine blutverkrustete Haarlocke aus den Augen. »Ich werde dich hier rausholen. Es wird alles gut werden.«
Es war eine tollkühne Lüge. Jenna hatte noch nie jemanden gesehen, bei dem sie weniger das Gefühl hatte, dass alles gut werden würde.
»Ich habe ihnen nichts gesagt …« Darias Stimme klang gebrochen und war kaum hörbar. »Noch nicht …«
Ihr fiebriger Blick fiel auf etwas hinter Jennas Schulter. Obwohl es unmöglich schien, wurde ihr Gesicht noch weißer. Sie schloss wieder die Augenlider und ließ sich mit einem Schauder zurücksinken. Sie sagte nichts mehr.
Jenna sah sich hastig in dem Zimmer um. Eine weitere Videokamera stand auf einem Stativ in der Ecke. Drei Holzstühle befanden sich an einer Wand, und auf dem Nachttischchen neben dem Bett waren ein offener Aktenkoffer, eine Lampe und ein blutiges Werkzeugset auf einem schimmernden Edelstahltablett. Ein Lederriemen, eine Zange und Messer mit gezackten sowie glatten Klingen. Der Boden war aus Beton und hatte einen Abfluss in der Mitte. Es gab keine Fenster.
Jenna spürte, wie sich Angst in ihr ausbreitete und den Zorn verdrängte.
Die Angst wurde zu eiskalter Panik, als sie sich umdrehte und eine eineinhalb Meter lange geschwungene Säge mit Griffen an beiden Seiten entdeckte, die an der ungestrichenen Wand neben einem hohen Regal unbehandelter Holzpfosten lehnte. Das Regal bestand aus zwei Beinen und einem Querbalken am oberen Ende. Von dort hingen eiserne Fußfesseln herab.
Sie hatte diese Art von Folterapparat einmal in einem Programm des History-Channels gesehen, das sich mit den Foltermethoden der Inquisition beschäftigt hatte. Man nannte diesen Apparat ›Die Säge‹. Das Opfer wurde kopfüber aufgehängt und wurde dann langsam mittig durchgesägt, bis man die Informationen hatte, die man wollte. Oder bis das Opfer starb.
Normalerweise taten sie beides.
Mit pochendem Herzen sprang sie auf und eilte zu einem Tisch, wo sie nach dem Schlüssel für die Handschellen suchte. Der Gestank dieser Männer, der Geruch von Darias Blut und die unverständliche Brutalität, die alles in diesem Zimmer ausstrahlte, hingen fast greifbar in der Luft. Jenna wurde beinahe übel.
Was hatten die Ikati diesen Männern angetan, um eine solche Grausamkeit zu rechtfertigen? Welches Verbrechen konnte so etwas jemals entschuldigen?
Es gab keinen Schlüssel. Weder auf dem Schreibtisch noch in dem Aktenkoffer oder in den Schubladen, die sie herauszog und auf den Boden warf. Sie durchsuchte Papiere und kleine Notizbücher, ehe sie einen dicken Stapel von Polaroid-Bildern entdeckte, die mit einem Gummiband zusammengehalten waren. Beinahe würgte sie, als sie einen Blick auf das oberste warf.
Es war ein Foto von Daria, die nackt von vier Männern umringt war. Ihre Nase war blutig geschlagen, und sie starrte mit wilden Augen ins Leere. Voller Entsetzen hockte sie an der äußersten Wand dieses spartanischen, furchtbaren Zimmers.
Ein drahtiger Mann in Schwarz, der der Kamera den Rücken zugewandt hatte, hielt ein langes Messer in einer Hand. In der anderen hatte er eine angezündete Zigarette. Innen an seinem Handgelenk war eine Tätowierung zu sehen. Obwohl sie klein war, vermochte Jenna sie genau zu erkennen. Es war ein kopfloser, schwarzer Panther, der von einem Speer durchbohrt war.
Die anderen Fotos sah sie sich nicht an. Sie fielen ihr aus der Hand auf den Boden.
Mit drei langen Schritten war sie wieder am Bett. Sie riss mit beiden Hängen an dem Eisenrahmen und versuchte dann, das Kopfteil zu lösen, indem sie sich mit einem Fuß am Rahmen abstützte. Nichts rührte sich. Laut fluchend vergrub sie ihre Hände in den Haaren und biss sich auf die Zunge, um nicht in lautes Schreien auszubrechen.
Bitte hilf mir nur dieses eine Mal, betete sie und starrte an die Decke.
Panik, Verzweiflung und ein beinahe animalischer Horror drückte ihr auf die Lungen, sodass sie kaum zu atmen vermochte. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie befürchtete, sie könnte sie zu nichts mehr gebrauchen.
Daria lag stumm und gebrochen auf dem Bett. So wächsern und grau wie eine Tote.
Bitte hilf mir nur dieses eine Mal, und ich schwöre, dass ich nie mehr um etwas bitten werde.
Sie zwang sich dazu, ruhig zu atmen, um nicht ganz die Nerven zu verlieren. Sie musste nachdenken. Ihre Finger umfassten den kalten Eisenrahmen. Sie hob ihren nackten Fuß und stemmte ihn gegen den Bettrahmen, verlagerte ihr ganzes Gewicht auf ihr hinteres Bein und holte tief und langsam Luft.
Dann schloss sie die Augen und lauschte der Stimme ihres Vaters in ihrem Inneren.
Du bist eine Prinzessin … Eine Prinzessin, die eines Tages eine Königin sein wird.
»Ich brauche dich«, flüsterte sie panisch in den stillen Raum. »Ich brauche deine Hilfe. Bitte hilf mir!« Sie riss so stark sie konnte. Ein quietschendes Ächzen war zu hören, als sich das Metall ein wenig bog und das Bett bebte. Das Kopfteil gab um etwa einen Zentimeter nach. Darias Kopf rollte auf dem Kissen hin und her, und sie gab ein leises, würgendes Geräusch von sich.
Jenna riss erneut. Das Kopfteil löste sich mit einem lauten, metallischen Kratzen aus seinen Verankerungen, sodass sie rückwärtsstolperte. In der Faust hielt sie ein Stück Metall. Einer von Darias Armen glitt nun aus dem zerstörten Kopfteil und baumelte über dem Rand des Bettes. Die silbernen Handschellen, die noch immer um ihr Handgelenk befestigt waren, funkelten in dem dämmrigen Licht, das den Raum erhellte.
»Was haben wir denn da?«, sagte eine Stimme hinter Jenna. Sie klang lässig und belustigt.
Jenna wirbelte herum. Beinahe blieb ihr Herz stehen, als sie den Mann unter der offenen Tür entdeckte. Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und stand mit breiten Beinen und verschränkten, dünnen Armen über seiner schmalen Brust da. Selbstbewusst und hinterhältig lächelte er sie an. Dann trat er ein. Drei weitere Männer folgten ihm, die wesentlich größer und imposanter wirkten als der erste. Allesamt hatten sie fürchterliche, gierige Gesichter.
»Noch eine Streunerkatze, die uns Gesellschaft leisten will.« Der erste Mann breitete die Arme in einer unheimlichen Geste aus, die wohl einen Willkommensgruß signalisieren sollte. »Das freut mich.«
Mit wild pochendem Herzen bemerkte Jenna die kleine schwarze Tätowierung auf der Innenfläche seines Handgelenks. Mehrere Dinge auf einmal schossen ihr durch den Kopf.
Er war der rauchende Mann auf dem Foto. Der Anführer. Der Feind.
Auf einmal war sie sich ihrer Nacktheit schrecklich bewusst. Ihre Haare fielen ihr über die Schulter und die Brüste, und sie hielt noch immer das Stück Metall in ihrer Hand.
Das hinterhältige Lächeln des Mannes wurde breiter, als seine drei Kumpane wie tollwütige Hunde die Zähne fletschten und auf sie zukamen.