12
Jenna kam langsam zu sich. Sie wurde von einem Sonnenstrahl gewärmt, der wie Honig durch die Dachfenster ihres Zimmers im ersten Stock fiel. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete die kühle Morgenluft ein, die sich mit dem Duft frisch gewaschener Baumwolle vermischte. Sie räkelte sich wohlig und streckte die Arme und Beine unter der weichen Decke.
Das Bett war unglaublich bequem, riesig und wunderbar warm. Sie hatte so viele Daunenkissen um sich herum, dass sie das Gefühl hatte, auf einer Wolke geschlafen zu haben.
Im Viertel war es heute überraschend ruhig. Keine Geräusche von der Straße, keine Müllwägen, die in den frühen Morgenstunden ihre Arbeit verrichteten, keine gedämpften Unterhaltungen durch die dünnen Wände ihres Apartments. Die einzigen Geräusche waren die der Bettdecke, die über ihre nackte Haut glitt, als sie sich auf den Rücken rollte. Sonst hörte sie lediglich einen einsamen Vogel zwitschern, ein hoher, reiner Ton, der in der taufeuchten Luft des roséfarbenen Sonnenaufgangs widerhallte.
Die Stille war vollkommen, idyllisch. Und sehr ungewöhnlich … Jenna runzelte die Stirn. War heute ein Feiertag? Ein Sonntag? Warum war alles so ruhig?
Sie riss die Augen auf. Über ihr war ein schimmernder Stoff gespannt, dessen safrangelbes und aprikosenfarbenes Organza-Gewebe golddurchwirkt war und zwischen vier Mahagonipfosten zu schweben schien.
Jenna setzte sich ruckartig auf und blickte sich verwirrt um. Sie wusste im ersten Moment nicht, wo sie war.
Die Wände waren korallenrot und vanillefarben gestrichen. Darauf befand sich die detailreiche Illusionsmalerei eines Gartens voller Efeuranken, Jasminblüten, Lavendelsträuchern und dunkelgrünem Laub. Das Zimmer musste sich in einem Palast befinden. Es gab einen französischen Sekretär, ein zierliches Sofa, das mit Rohseide bezogen war, Wandteppiche, Stühle aus geschnitztem Holz und Samtkissen auf einem Divan. An der östlichen Wand waren riesige Fenster, durch die der frühe Sommermorgen drang und alles mit einem bernsteinfarbenen Glanz erfüllte.
Sie brauchte einige Sekunden, um die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Dann kehrte die Erinnerung zurück, und sie vermochte wieder ruhig zu atmen.
England. Sommerley. Ihr Zimmer. Ikati.
Leander.
Ihr fiel ein, dass sie von ihm geträumt hatte, hier in diesem goldenen Raum, als sich das Sonnenlicht am Horizont gezeigt und die Dunkelheit unter ihren geschlossenen Augenlidern in Gold- und Brauntöne getaucht hatte. Sie hatte von seinem Gesicht geträumt, von seinen Augen und dem samtig weichen Timbre seiner Stimme, wenn er ihren Namen aussprach.
Sie hatte von ihm und dem dunklen Wald vor ihren Fenstern geträumt – ein Wald, der etwas tief in ihr Schlummerndes, etwas Dunkles erweckte. Ein Wald, den sie gemeinsam mit ihm erkundet hatte, als muskulöser, schwarzer Panther, der durch die Bäume und Lichtungen streifte, ohne einen Laut von sich zu geben. Nur der Wind war zu hören, wenn er über sein geschmeidiges Fell strich.
Wir sind keine Menschen, Jenna. Vergiß das nicht. Die Ikati sind Tiere …
Sie musste etwas unternehmen, sowohl hinsichtlich Christian als auch Leander. Aber sie hatte keinerlei Vorstellung davon, was sie tun sollte. Am Abend zuvor war sie nach dem Gespräch mit Christian in ihr ausgesprochen feminin ausgestattetes Zimmer geflohen und hatte sich seitdem nicht mehr herausgewagt – nicht einmal mehr, um etwas zu essen.
Feigling.
Verärgert schlug sie die schwere Decke beiseite und nahm den elfenbeinfarbenen Morgenmantel aus Seide, den ein Zimmermädchen neben ihr Bett gelegt hatte. Sie schlüpfte hinein und knotete den Gürtel um ihre Taille.
Zuerst spürte sie den dicken Teppich und dann den kühlen Marmor unter ihren Füßen, als sie durch den sonnenerfüllten Raum in das angrenzende Badezimmer lief. Sie wollte gerade den Wasserhahn aufdrehen, um ihr Gesicht zu waschen, als sie in der Bewegung innehielt. Sie hatte einen Kulturbeutel auf der Marmorablage entdeckt. Er stand neben einer Seifenschale, die aus reinem Gold zu sein schien.
Es war ihr Kulturbeutel. Sie richtete sich auf und sah ihn stirnrunzelnd an.
Leander hatte am Tag zuvor in einer Limousine vor ihrem Apartment gewartet, während sie packte. Er hatte ihr zwanzig Minuten gegeben. Sie hatte alles, von dem sie vermutete, dass sie es für eine kurze Reise brauchte, in einen Lederkoffer geworfen. Doch bis gerade eben war ihr nicht bewusst gewesen, dass sie dabei ihren Kulturbeutel vergessen hatte.
Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Schließlich war er jetzt hier. Sie nahm den Beutel und strich mit den Fingern über den vertrauten Stoff. Dann zog sie den Reißverschluss auf. Alles befand sich an seinem Platz, so als ob sie ihn selbst gepackt hätte. Jenna drehte sich um und betrachtete die Milchglasscheibe, die zu einem begehbaren Kleiderschrank führte. Sie stellte den Kulturbeutel auf das Waschbecken, zog den Gürtel enger, richtete sich auf und ging zu der Tür.
Vier Jeans, ein halbes Dutzend T-Shirts, Unterwäsche, Socken, zwei Paar Schuhe. Das war alles, was sie gestern eingepackt hatte. Mehr hatte nicht in ihren kleinen Koffer gepasst.
Doch was sie jetzt sah – in geriffelte Mahagonifächer gelegt, in ausziehbare Regale gestapelt, an Holzdübeln hängend, in offenen Schubladen gepackt –, war ihre gesamte Garderobe.
Jedes Kleidungsstück, das sie besaß, befand sich perfekt geordnet vor ihr. Nach Farben sortiert lagen die Blusen und Kleider, die Handtaschen und Schuhe allesamt hier in diesem begehbaren Kleiderschrank für sie bereit. Ihr Schmuck lag auf Samtablagen in vier Schubladen, die in der Mitte der Garderobe in einer Kommode zu finden waren. Ihre Unterhosen, wie Taschentücher gefaltet, waren den Farben nach in den Schubladen auf der anderen Seite der Kommode arrangiert. Selbst ihre Dessous hingen einem Regenbogen gleich in einer Ecke, von Hell nach Dunkel geordnet.
Doch hier waren nicht nur Dinge, die ihr gehörten. Es gab auch Kleidungsstücke, die sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Abendroben, Cocktail- und Ballkleider füllten eine ganze Wand, Mäntel und Jacken in jedem nur denkbaren Stil und allen Farben. In einer weiteren Ecke standen unglaublich viele Handtaschen und Schuhe, von denen sie wusste, dass es extrem teure Designerstücke waren.
Es überraschte Jenna nicht mehr, als sie einen Blick auf die Schildchen in diesen seltsamen, wunderschönen Stücken warf. Alles war in ihrer Größe.
Regungslos stand sie in der Mitte des großen Zimmers und überlegte, was sie tun sollte. Sie presste die Hände an ihre Schläfen und schloss die Augen, um erst einmal tief durchzuatmen.
In dieser Situation fand sie Leander vor.
»Lass mich wissen, ob das bei Kopfschmerzen hilft«, sagte er. »Ich habe nämlich noch kein Mittel gegen meine eigenen gefunden.«
Da sie seinen besonderen Duft nach Moschus und exotischen Gewürzen wahrgenommen hatte, lange bevor sie die leichte Erschütterung des Bodens unter seinen Schritten spürte, hatte sich ihr Magen verkrampft, und sie war noch regungsloser geworden. Als sie seine Stimme hörte, drehte sie sich nicht um. »Ich habe schon oft festgestellt«, sagte sie und blickte mit säuerlicher Miene auf das feuerwehrrote Valentino-Kleid mit einem Schlitz, der bis zu den Schenkeln hochreichte, »dass man Spannungskopfweh besonders gut loswird, wenn man etwas gegen die Wand wirft. Vor allem, wenn dieses Etwas dann so freundlich ist, in tausend Stücke zu zerspringen.«
Jetzt sah sie ihn über die Schulter hinweg an. »Also wirklich.« Er stand unter der Tür und lächelte schwach. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du zu Gewaltausbrüchen neigst. Wenn du möchtest, kann ich dir gerne eine Porzellanvase bringen lassen. Ich vermute, sie könnte helfen.«
Unter seinen Augen waren leichte Schatten zu sehen. Er trug dasselbe Seidenhemd und dieselbe schwarze Hose, die er auch schon auf dem Flug getragen hatte. Nur dass sie jetzt verknittert waren. Trotz seines goldenen Teints wirkte er blass.
»Vielleicht würde es auch helfen, wenn du mir erklären würdest, warum sich alle meine Kleider in diesem Schrank befinden.«
»Weil es dein Schrank ist. Wo sollten sie sonst sein?«
Das Zittern in ihrem Inneren verwandelte sich in ein Flackern.
»Bei mir zu Hause, wo sonst?«, gab sie zurück. Sie spürte, wie ihre Schläfen zu pochen begannen, und unterdrückte das Bedürfnis, ihre Finger erneut daraufzupressen.
»Genau dort befinden sie sich ja auch«, erwiderte er mit samtener Stimme.
Wutentbrannt starrte sie ihn an. »Keine Spielchen, Leander. Ich bitte dich. Wenn wir jetzt einmal von der Frage absehen, wie meine ganze Garderobe über Nacht hierhergekommen ist, möchte ich doch wissen, warum sie hier ist und wem die anderen Sachen gehören.«
Es kam ihr fast unheimlich vor, dass er sich weder bewegte noch auch nur einen Muskel zuckte, während er so lässig am Türrahmen lehnte. Trotz seiner Regungslosigkeit strahlte er noch immer die Aura eines gierigen Raubtiers aus, das alles um sich herum im Blick behielt und jederzeit zum Sprung bereit war.
Doch unter dieser mühelosen Eleganz zeigte sich diesmal eine düstere Anspannung, der Hinweis auf etwas, das sie bisher noch nicht bei ihm gesehen hatte. Waren es Sorgen?
»Ich dachte, du würdest etwas mehr Kleidung brauchen als die, die du mitgebracht hast.« Er zuckte mit den Schultern, noch immer der Inbegriff kühler Gelassenheit. »Ich bat Morgan, ein paar Dinge für dich auszusuchen. Sie liebt Mode, und sie liebt es zu shoppen, wie dir vielleicht schon aufgefallen ist.«
Jennas Hände wurden feucht, doch sie war entschlossen, Leander nicht zu zeigen, dass sie allmählich in Panik geriet. Sie mochte vielleicht feige sein, aber das war eine Charaktereigenschaft, von der er nichts wissen durfte. »Wie großzügig. Aber das war nicht nötig. Schließlich werde ich in einigen Tagen wieder abreisen. Um nach Hause zu fahren.«
Er zog langsam die Augenbrauen hoch.
»In mein richtiges Zuhause«, fügte sie hinzu und versuchte ruhig zu atmen, während das Blut durch ihre Venen rauschte. »In das Apartment, in dem ich lebe.«
In seinen Augen schimmerte einen Moment der Panther in ihm auf, doch dann verschwand er wieder, und Leanders Lächeln wurde breiter. Man konnte sogar Grübchen in seinen Wangen sehen. »Ich hoffe, dass dir alles passt. Wobei ich zugeben muss«, murmelte er und ließ seinen Blick über den Seidenstoff ihres Morgenmantels wandern, der sich an ihren Körper schmiegte, »dass mir dieses Ensemble besonders gut gefällt.«
Da war es wieder – dieses Etwas, das zwischen ihnen entstand. Diese Wärme, diese Anziehungskraft. Trotz ihrer Bemühungen, es nicht aufkommen zu lassen, konnte sie das Verlangen, das sich zwischen ihnen aufbaute, weder ignorieren noch verringern. Nachdem sie ihn geschmeckt, nachdem sie seinen festen, muskulösen Körper auf dem ihren gespürt hatte, musste sie nur seine sanft geschwungenen Lippen betrachten, um ein Lodern in ihrem Bauch zu fühlen.
Jetzt, da sie wusste, was er bei ihr auslösen konnte. Jetzt, hatte auch das Tier in ihr Blut geleckt.
Sie hielt einen Moment lang inne und konzentrierte sich auf die pulsierende Hitze, die im Raum lag. Verzweifelt versuchte sie, diese durch höchste Konzentration zu verscheuchen.
»Ich unterbreche dich nur ungern bei der Betrachtung meines Hemds«, sagte er belustigt. »Ich bin mir sicher, dass sich alle möglichen interessanten Flecken darauf befinden. Ich war nämlich die ganze Nacht über wach, um zu versuchen …«
»Du kannst mich hier nicht festhalten«, unterbrach ihn Jenna, wobei sie jedes Wort klar betonte und sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete. »Du kannst mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten.«
»Gegen deinen Willen? Bist du denn gegen deinen Willen hier?«, fragte er sanft. »Ich dachte, du hättest mich gebeten, dich hierherzubringen. Ja, du hast es sogar verlangt.«
Ihr schoss das Blut in die Wangen, doch sie versuchte, sonst keinerlei Reaktion zu zeigen. »Wie eine Katze, die mit ihrer Beute spielt«, erwiderte sie ruhig. »Die so lange mit einer halb toten Maus spielt, bis sie sich langweilt und diese Maus verschlingt.«
»Du hast eine ausgesprochen charmante Vorstellung von mir«, erklärte er ungerührt. »Ich kann dir allerdings versichern, dass ich nicht vorhabe, dich in nächster Zeit zu verschlingen. Außerdem bist du auch keine halb tote Maus.« Er schenkte ihr ein gefährliches, laszives Lächeln, während er ihre wütende Miene musterte. »Nein, du bist wesentlich heimtückischer als eine Maus«, murmelte er. »Du bist jemand, der es mit einem Augenaufschlag schafft, die Vögel von den Bäumen zu locken. Selbst wenn du so eisig dreinblickst wie jetzt.«
»Was auch immer ich sein mag – ich bin nicht so wie du«, gab sie zurück.
Sein Lächeln verschwand. »Doch, meine Liebe. Es tut mir leid, aber das bist du«, entgegnete er. »Du bist sogar genau so wie ich.«
Sie starrten einander an. Die Spannung zwischen ihnen nahm immer mehr zu, bis ein lautes Grollen die Stille durchbrach. Es war Jennas Bauch, der vor Hunger knurrte.
»Verzeih mir«, sagte Leander und stellte sich aufrecht hin. »Du hast noch nichts gegessen. Warum ziehst du dich nicht an und begleitest mich zum Frühstück?«
»Habe ich eine Wahl?«
Er drehte sich mit einem unterdrückten Lächeln um, um ihr Zimmer zu verlassen. »Ich warte draußen auf dich«, sagte er. »Lass dir Zeit.« Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss.
Der Raum, in dem sie aßen, war ebenso üppig ausgestattet wie alles in diesem Haus. Farbenfrohe Teppiche hingen an einer Wand, gegenüber befand sich eine Reihe goldgerahmter Porträts, die von oben beleuchtet wurden. Das Frühstück wurde auf Porzellan mit Goldrand gereicht. Frischer Orangensaft wurde in Kristallgläsern serviert, Körbe voller überzuckertem Gebäck und Himbeertörtchen, ein Teller mit blauen Trauben und hauchdünn geschnittenem Camembert, der auf ihren Lippen fast zerschmolz.
Es gab genug zu essen, um eine kleine Armee zu sättigen, und doch saßen sie nur zu dritt am Tisch. Die Frau, die sich Jenna gegenüber befand, blickte ernst auf ihre feine Porzellantasse. Ihre zarte Hand flatterte wie ein aufgeregter Schmetterling um ihren Hals, während sie zusah, wie der Dampf des heißen Tees winzigen Fingern gleich in die Luft stieg. Obwohl es noch früh am Morgen war, trug sie eine Perlenkette und ein Kleid aus elfenbeinfarbenem Satin, das mit feinen Goldfäden durchwirkt war, die im Sonnenlicht geheimnisvoll funkelten. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz, durchzogen von einigen silbernen Fäden, und ihr streng aus dem fein geschnittenen Gesicht frisiert. Einige lose Strähnen lockten sich um ihre Wangen, als ob sie sich weigerten, gezähmt zu werden. Sie wirkte wie eine seltene, wertvolle Perle, die man gerade erst aus einem Tresor geholt hatte.
»Leander hat mir erzählt, dass du eine wahre Connaisseuse guter Weine bist, Jenna«, sagte die Frau mit sanfter Stimme. Sie blickte auf und musterte Jenna über den Rand ihrer Teetasse hinweg. Dann trank sie einen kleinen Schluck, ehe sie die Tasse mit dem Blumenmuster wieder auf die Untertasse stellte. Einen Moment lang verweilten ihre sanften Augen auf Jenna. Sie waren von einem helleren, kühleren Grün als die ihrer Brüder.
Sie war Jenna als Leanders ältere Schwester Daria vorgestellt worden. Leander saß schweigend zu Darias Rechten und betrachtete seinen Teller, als ob dieser ihn beleidigt hätte.
»Das ist vielleicht etwas übertrieben«, meinte Jenna, während sie beobachtete, wie Leander ein Rosinenbrötchen mit den Fingern zerlegte. Er hatte bisher noch nichts gegessen. »Ich liebe Wein. Ich schätze alles, woraus er besteht, aus der Leidenschaft, der harten Arbeit, der Kunstfertigkeit. Aber ich habe kein Geld, um Wein zu sammeln. Aber zumindest habe ich eine Freundin, die das tut.« Jenna musste lächeln, als sie an Mrs. Colfax dachte. »Sie hat mir alles beigebracht, was ich über Wein weiß.«
Daria erwiderte ihr Lächeln. Diese Augen wurden wärmer. »Es ist gut, Freunde zu haben«, entgegnete sie. »Leute, die einem beistehen, wenn man es braucht.« Sie richtete den Blick wieder auf ihren Teller, nahm ihre Gabel und spießte ein Stück Melone auf die goldenen Zinken.
»Das stimmt«, murmelte Leander. Er gab dem Diener ein Zeichen. Dieser trat daraufhin mit einer silbernen Schüssel an den Tisch und servierte Jenna einige Scheiben Rindfleisch-Carpaccio, die man so dünn geschnitten hatte, dass sie fast durchsichtig wirkten, und mit Olivenöl beträufelt waren.
»Das ist sehr wahr«, meinte Jenna. »Manchmal frage ich mich allerdings, wie man Freunde von Feinden unterscheiden kann. Es passiert schnell, dass man von einem Wolf im Schafspelz verführt wird.«
Sie beobachtete, wie sich Leanders Mund zu einem hämischen Lächeln verzog. Das Rosinenbrötchen in seinen Fingern war inzwischen in kleine Stückchen zerbröselt, die auf seinem Teller lagen und fast an Staub erinnerten.
»Das stimmt«, erwiderte Daria. »Die Leute können ziemlich unzuverlässig sein, nicht wahr? Aber auf die Familie kann man sich immer verlassen.«
Wieder lächelte sie Jenna an. Ihre Miene wirkte offen und einladend. »Du wirst mehr von ihnen auf dem Fest kennenlernen«, fügte sie locker hinzu.
Jenna sah sie überrascht an. »Mehr von wem?«
»Von der Familie«, erwiderte Daria noch immer voll Leichtigkeit. Das Ganze kam Jenna recht rätselhaft vor.
»Morgan hat darauf bestanden, dass wir dir zu Ehren ein Fest geben, Jenna. Du erinnerst sich?«, mischte sich Leander ein. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Sie hat nicht oft Gelegenheit, so etwas zu organisieren. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, kann man sie kaum mehr davon abbringen.«
»Man braucht auch immer wieder Ablenkung von dieser Monotonie«, meinte Daria. Sie strich sich mit einer Hand über den Rock, als Leander ihr einen raschen Blick zuwarf.
»Ich hoffe, dass du etwas Passendes zum Anziehen findest«, fügte Daria hinzu und sah dabei Jenna an. Diesmal unterdrückte sie ein keckes Lächeln. Etwas an Daria erinnerte Jenna an ihre Mutter. Sie besaß die gleiche mühelose Eleganz und denselben Charme – eine Art, die einen sogleich entspannte, selbst wenn man sie noch nicht kannte. Zu ihrer großen Überraschung mochte sie Daria.
Jenna legte die Gabel beiseite und nahm das Kristallglas mit Orangensaft. Während sie einen Schluck der säuerlichen, kühlen Flüssigkeit zu sich nahm, sprach Leander weiter.
»Ich würde jedenfalls nicht das rote Valentino-Kleid tragen, wenn ich du wäre. Ich habe Morgan gebeten, es zurückzugeben. Ich glaube nicht, dass es zu deinem Teint passt.«
Daria sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Très gentile, mon frère«, murmelte sie. »Charmante comme toujours.«
Um die Wut, die in ihr aufstieg, als sie Leanders lässig dahingeworfene Bemerkung hörte, nicht zu zeigen, klammerte sich Jenna an ihr Glas. Sie warf einen Blick auf die Ölgemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es fiel ihr nicht schwer, die Namen der Maler und die Titel zu lesen, die auf kleinen, goldenen Schildern unter den Gemälden angebracht waren.
»Nur aus Neugier«, sagte sie und schluckte einen weiteren Bissen Carpaccio hinunter. »Warum hängt hier ein Porträt von Marie Antoinette?«
Daria und Leander tauschten einen Blick aus. Dann nickte Leander beinahe unmerklich.
»Die unglückliche Reine de France war eine unserer Vorfahrinnen, meine Liebe«, erwiderte Daria und tupfte sich mit ihrer roséfarbenen Serviette den Mundwinkel ab. »Die letzte Vollblut-Königin der Ikati.«
»Königin der Ikati. Verstehe.« Jenna versuchte eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. »Natürlich. Und das Portrait darunter? Das von Michelangelo?«
Diesmal war es Leander, der ihr antwortete. »Du hast wirklich geglaubt, dass das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle von jemand so Einfältigem wie einem Menschen geschaffen wurde?« Er wirkte ein wenig enttäuscht.
»Wie konnte ich nur«, murmelte Jenna, während sie die anderen Porträts musterte. Ihre Überraschung verwandelte sich in einen Schock, als sie alle Namen las.
Amenemhet I., Kleopatra, Michelangelo, Sir Charles Darwin, Sir Isaac Newton …
»Wir nennen das die Galerie der Alpha, Jenna … Die Porträts, die du hier siehst, zeigen unsere mächtigsten Anführer und reichen bis zu den Anfängen unserer Spezies zurück. Oder zumindest soweit wir das wissen.«
Daria nahm ihre Teetasse und trank einen kleinen Schluck. »Wir mussten uns nicht verstecken, bis diese schrecklichen Römer anfingen, sich für uns zu interessieren…« Sie zuckte mit den Schultern und machte ein unglückliches Gesicht. Dann stellte sie die Teetasse wieder ab. »Man begann uns zu verfolgen. Wir wurden gejagt, und die meisten unserer Spezies kamen ums Leben. Seitdem mussten wir stets auf der Hut sein.«
»Gejagt?«, fragte Jenna überrascht. »Ihr wurdet von den Römern gejagt?«
Daria hielt einen Moment lang inne, ehe sie antwortete. »Ja, unter anderem.«
»Man hat uns aus unserer Heimat vertrieben«, erklärte Leander und musterte dabei Jenna eindringlich. »Man ernannte uns zu Staatsfeinden und gab uns zum Abschuss frei. Also begannen wir uns zu verstecken.«
»Wir mussten lernen, nicht aufzufallen«, fügte Daria hinzu und strich mit einem Finger über den bemalten, zarten Schwung des Porzellans. »Natürlich kommen wir immer wieder in Kontakt mit den Menschen, wenn es nötig ist, zum Beispiel bei Geschäftsabschlüssen oder anderen Gelegenheiten, aber wir verraten nie, wer wir wirklich sind. Das ist viel zu gefährlich.«
»Aber das geschah doch schon vor vielen Hundert Jahren«, protestierte Jenna. »Vor Tausenden. Glaubt ihr denn nicht, dass sich das verändert haben könnte? Seitdem ist so viel geschehen. Vieles ist besser geworden …«
»Der Mensch hat sich seit Anbeginn der Zeit nicht verändert«, erklärte Daria schlicht, ohne den Blick von ihrer Tasse zu wenden. »Über die Jahrhunderte ist es für uns sogar noch schlimmer geworden. Im vierzehnten Jahrhundert kam das Gerücht auf, dass sich Hexen in Katzen verwandeln können, um ihren Beschäftigungen nachzugehen. Außerdem sollen Dämonen auf riesigen, schwarzen Panthern zu ihren nächtlichen Treffen reiten. Weil uns die Menschen nicht verstanden, verdammten sie uns als Hexen, als Gefährten des Teufels. Damals kamen zum ersten Mal die Expurgari auf …«
»Die Expurgari?«, unterbrach Jenna.
Daria sah Jenna aus blassgrünen Augen an. »Die Läuterer«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, als ob bereits das Wort Böses bewirken könnte.
»Sie sind ein kleiner Ableger der Kirche – ausgebildete Assassinen, die ausgesprochen brutal und militant ihren unerschütterlichen Glauben an das Dogma des Todes vertreten. In ganz Europa wurden Katzen verbrannt, ertränkt, von Kirchtürmen geworfen oder als Zielscheiben verwendet. Wieder zogen sich die Ikati in ihre geheimen Verstecke zurück, um zu überleben. Unsere Kraft und unsere List haben uns geholfen zu überleben, wir haben Reichtümer angesammelt, und unsere Anführer wurden zu Aristokraten in der Welt der Menschen. Dennoch sind wir nicht sicher. Und das werden wir nie sein … Auch wenn es unglaublich erscheint, dass Wesen wie wir, dazu gezwungen werden, sich seit Jahrhunderten zu verstecken, ist genau das der Fall.«
Jenna war von diesen neuen Informationen beinahe überwältigt. Sie musste an ihre Eltern denken und wie auch diese jahrein, jahraus geflohen waren, wie sie gelitten hatten. Ein stechender Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus.
»Sich zu verstecken ist nie die Lösung. Das kann ich dir aus persönlicher Erfahrung sagen.« Sie hob den Blick und sah Leander an, dessen schöne Augen zu schmalen Schlitzen geworden waren. »Irgendwann wird derjenige, vor dem man davonrennt, einen doch ausfindig machen. Ob einem das gefällt oder nicht.«
Er sog hörbar die Luft ein und starrte sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Ich kann nur hoffen, dass du falsch liegst«, entgegnete Daria leise. Sie war noch blasser geworden als zuvor. »Denn das würde für die Ikati eine Katastrophe bedeuten.« Sie schüttelte sich und gab dann dem Diener ein Zeichen, ihren Teller wegzuräumen.
Jenna betrachtete erneut die Porträts an der gegenüberliegenden Wand. Sie achtete nicht auf Leanders durchdringenden Blick, während sie die Reihen von Gesichtern musterte, die in üppigen Goldrahmen auf sie hinabsahen.
Das letzte Gemälde stellte Leander dar. Er war in Schwarz- und Brauntönen gemalt, und sein Gesicht wirkte streng und makellos schön. Nur der Schwung seiner vollen Lippen milderte seinen Ausdruck. Auf dem Schild unter dem Bild konnte man lesen: Leander McLoughlin, siebter Earl of Normanton. Neben ihm hing ein weiteres Gemälde: Charles McLoughlin, sechster Earl of Normanton.
Er war ein attraktiver Mann gewesen, nur etwas weniger auffallend und löwenhaft wie sein Sohn. Auch seine Augen hatten grün geleuchtet, und seine breite Stirn hatte ihm einen klugen Ausdruck verliehen. Sein Vater, dachte sie, und war in gewisser Weise überrascht, dass ein so magisches und unwirkliches Wesen Eltern gehabt haben konnte. Leander schien so eigenständig und so mühelos mächtig zu sein, dass sie ihn sich kaum als Kind vorstellen konnte, dem man irgendwann einmal beigebracht hatte, zu laufen, zu sprechen und zu lesen. Es kam ihr viel wahrscheinlicher vor, dass er irgendwo im Himmel unter den Sternen geformt worden war und sich selbst durch seinen Willen auf die Erde befördert hatte.
Ihr Blick wanderte zu Leander, der sie mit einem Ausdruck seltsamer Erwartung ansah. Sie bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln, was ihn zu einem amüsierten Lächeln veranlasste.
Mit einem leisen Schnauben sah sie wieder zu den Porträts hin. Ihr Blick fiel auf einen Namen, der schwungvoll in eine der Goldplaketten unter den Gemälden graviert war. Es war das Porträt neben Leanders Vater. Das dritte von hinten, und es hielt jenen Ausdruck stoischer Resignation perfekt fest, den sie so gut kannte.
Rylan Moore, dreizehnter Duke of Grafton.
Das Kristallglas glitt ihr aus den Fingern und zerschlug klirrend auf dem Parkettboden.