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Das Haus war gesichtslos. Täuschend gesichtslos. Rote Ziegel und weiße Fensterläden mit einem winzigen, kleinen Rasenstück und einem Lattenzaun – genauso, wie bei den Nachbarn zur Rechten und zur Linken. Hinter den Gardinen rührte sich nichts. Man vernahm keine Stimmen, sondern hörte nur das Zwitschern von Vögeln, den abendlichen Verkehr und in der Ferne das schwache Motorengeräusch eines Flugzeugs, das einen perlengrauen Kondensstreifen im indigoblauen Himmel hinterließ. Im Haus brannte kein Licht, das darauf hingewiesen hätte, dass es bewohnt war.

Jenna hatte den ganzen Tag gebraucht, um diesen Ort zu finden.

Die Wohngegend war gut, aber nicht begehrt. Die älteren Fahrzeugtypen, die auf den Straßen geparkt waren, ließen vermuten, dass die Menschen, die hier lebten, zwar hart arbeiteten, aber nicht wohlhabend waren. Die Häuser hatten kleine, gepflegte Gärten und wirkten selbst bescheiden, ohne heruntergekommen zu sein. Es war ein ganz gewöhnlicher Vorort, wie es Tausende gab, auf jedem Kontinent dieser Erde.

Es war ein Ort, wo man unauffällig untertauchen konnte, wenn man das wollte.

Aber es war kein Ort, den Jenna freiwillig gewählt hätte, um sich zu verstecken. Es war ein Ort, den sie ausgesucht hatten.

Der Gestank der Expurgari war jetzt so durchdringend wie nirgendwo sonst.

Es war ein saurer, ekelhafter Geruch nach Gewalt, Neid und Gier mit einem unterschwelligen Blutdurst, der fast unerträglich war. Der Gestank lag auf dem Rasen des Rosengartens im Sommerley, wo man Daria entführt hatte, und er strömte aus dem unscheinbaren Haus, als ob es sich um einen bösen Nebel handeln würde. Das Ganze jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken.

Sie war noch nie zuvor in London gewesen. Sie hatte sich auch noch nie an die Fersen einer mörderischen Bande von Psychopathen geheftet. Doch dieser Tag – dachte sie bitter und starrte aus ihrem Versteck hinter einer stinkenden Mülltonne auf einem Weg auf der anderen Seite der Straße –, dieser Tag hatte in jeder Hinsicht Neues gebracht.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich in ein Raubtier verwandelt hatte.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich verliebt hatte.

Es war das erste Mal gewesen, dass ein Rudel tollwütiger Tiere, das vorgab, menschlich zu sein, sie des Hochverrats bezichtigt hatte.

Jenna hatte nichts mehr gewollt, als einfach davonzufliegen und ihn zu vergessen. Vor allem ihn und seinen hinterhältigen, arroganten Rat mit diesen uralten, lächerlichen Feudalgesetzen; Gesetzen, die sie wahrscheinlich ihren Kopf gekostet hätten, wenn nicht Christian sich so heldenhaft für sie eingesetzt hätte. Doch noch ehe sie fliehen konnte, hatte sie den Geruch von Teerosen und Blut wahrgenommen, als sie in der Luft über Sommerley schwebte. Sie hatte nicht anders gekonnt hatte kehrtgemacht und war diesem Geruch gefolgt. Er hatte sie von der perfekten Idylle Sommerleys in die schmutzige, laute Metropole mit ihren verstopften Straßen und dem Chaos aus Menschen, Gebäuden und Fahrzeugen geführt. Nach London.

Ihrem Vater hatte niemand geholfen. Er war als Verräter hingerichtet worden. Ohne Freunde, verloren und einsam. Aber sie war nicht so wie die Ikati, sie war ganz und gar nicht so. Sie hatte nicht vor, Daria sterben zu lassen – nicht, falls es irgendetwas gab, das sie dagegen tun konnte. Sie wollte ihnen beweisen, dass ihre Vorurteile den Menschen gegenüber genauso falsch waren wie die Vorurteile, die die Menschen den Ikati gegenüber hatten.

Erst dann würde sie sich endgültig verabschieden.

Sie hatte viele anstrengende Stunden damit verbracht, in Nebelgestalt durch regennasse Wolken und die verschmutzte Stadtluft zu fliegen, bis es ihr endlich gelungen war, dieses Haus ausfindig zu machen. Nur der Geruch war ihr Wegweiser gewesen.

Daria hatte sie überhaupt nicht gespürt. Sie konnte sie weder vor ihrem inneren Auge vor sich sehen, noch irgendwo in der Nähe ihren Herzschlag spüren. Es war so, als ob sie bis auf ihren Geruch vom Erdboden verschluckt worden wäre.

Jetzt hockte Jenna hungrig und nackt hinter einer stinkenden Tonne, aus der der Müll quoll, und sog den Gestank von Männern ein, der so widerwärtig war, wie sie das noch nie gerochen hatte. Sie verströmten einen übelriechenden Nebel, der nicht zu ignorieren war.

Die vergangene Stunde hatte sich Jenna großenteils über ihre eigene Dummheit geärgert. Dieser kleine Abstecher würde sie höchstwahrscheinlich das Leben kosten.

Es gab keine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Erst einmal drinnen, würde es keinen Ausweg mehr geben. In den Ziegeln fand sich kein Loch, in den Fenstern kein Riss, und auf dem Dach war keine der Platten lose. Diese Tatsache bestätigte ihr gemeinsam mit dem auffallenden Geruch nach Daria und dem Bösen, dass sie am richtigen Ort gelandet war.

Auf einmal wurde die Haustür geöffnet. Jenna sog durch zusammengebissene Zähne überrascht die Luft ein und machte sich hinter der Metalltonne noch kleiner als zuvor.

Ein Mann blickte auf die Straße hinaus. Er war groß, drahtig und hatte einen Buckel. Von Kopf bis Fuß war er in Schwarz gekleidet, wobei er in einer Hand einen schmalen Aktenkoffer aus Metall hielt. Aufmerksam sah er sich auf der stillen Straße um. Eine Weile regte er sich nicht. Erst als er offenbar sichergestellt hatte, dass keine Gefahr bestand, trat er hinaus und gab einem anderen hinter sich ein Zeichen, ihm zu folgen. Hastig ging er zu dem parkenden Auto, das in der Ausfahrt stand, stieg ein und ließ den Motor an.

Ein weiterer Mann folgte ihm. Er war ebenfalls in Schwarz gekleidet, hatte jedoch riesige Oberarmmuskeln und Schenkel, die sich unter seiner Hose gewaltig abzeichneten. Er trug eine Nylontasche mit Reißverschluss über der Schulter. Einen Moment lang blieb er an der Tür stehen, um einen letzten Blick in das Innere des Hauses zu werfen. Dann drehte er sich um und begann, die Tür hinter sich zuzuziehen.

Ehe diese ins Schloss fiel, schwebte ein fast durchsichtiger Nebel über den Kopf des Mannes und glitt durch den mit Metall verstärkten Türrahmen. Er verschwand wie ein Luftgeist in dem düsteren, unheimlichen Haus.