27

Vor langer Zeit, als er vierzehn Jahre alt gewesen war und gerade zu verstehen begonnen hatte, wie die Welt, in der er lebte, funktionierte und wie seine zukünftige Rolle darin aussehen sollte, war Leander von zu Hause weggelaufen.

Er hatte es nicht geplant. Er war mitten in der Nacht in einem besonders milden Frühling durch den Schimmer des Mondes aufgewacht, der so hell durch die Scheiben hereinfiel, dass sein ganzes Zimmer von einem magischen Glanz erfüllt war. Leander war aufgestanden und zum Fenster getreten, wo er auf die nebelverhangene, grüne Landschaft geblickt und auf einmal das überwältigende Bedürfnis verspürt hatte, das taufeuchte Gras unter seinen nackten Füßen zu spüren.

Er hatte immer dazu geneigt, Dinge heimlich zu tun. Das hatte sich noch verstärkt, als er sich drei Jahre zuvor das erste Mal verwandelt hatte. Es war so leicht gewesen, die Treppe hinabzuschleichen und durch die hintere Küchentür das Herrenhaus zu verlassen, das damals noch seinen Eltern gehört hatte. Die Angeln dort waren besonders gut geölt, sodass sie nicht den geringsten Laut von sich gaben.

Im Haus selbst hatte er sich nicht verwandeln können. Sein Vater hätte es sofort gespürt und ihn problemlos entdeckt.

Also wartete er, bis er sich tief in der brusthohen Rosmarinhecke befand, die würzig duftend den Marmorbrunnen mit der Triton-Statue umgab, und verwandelte sich dort.

Er erinnerte sich noch genau daran, wie frei er sich bei diesem Streifzug gefühlt hatte. Immer wieder war er zum Tier, zum Menschen und zum Nebel geworden, was ihm das Gefühl verlieh, der Herrscher dieses dunklen Waldes zu sein, Prinz des sternenklaren Himmels, König der schönen, magischen Welt.

Frei.

Dieser heimliche Moment der Freiheit hatte ihn zutiefst befriedigt. Er ließ das Blut in seinen Ohren rauschen, während er über die weiche Erde und das seidige Gras sprang und der Wind in den uralten Bäumen flüsterte. Das Mondlicht krönte ihn mit seinen milchigen perlweißen Strahlen.

Gewöhnlich war er nie allein. Er durfte nie spielen, erkunden und rennen, bis seine Lungen brannten und seine Beine schmerzten. Es war immer jemand in der Nähe, der ihn beobachtete und sicherstellte, dass er nicht hinfiel, dass er keinen Unsinn machte, dass er das tat, was er tun sollte, und dass er die Regeln achtete, wie es sich für einen Jungen seines Ranges gehörte.

Die Freiheit war etwas Neues und Fremdes für ihn.

Sie war herrlich berauschend.

Stunden später, am anderen Ende von Sommerley, hockte er nackt auf einer hohen Steinmauer, mit der die Grenze dieses Gebiets markiert war, und blickte in die riesige, unbekannte Welt auf der anderen Seite. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.

Was wäre, wenn ich einfach weiterlaufe?

Der Gedanke faszinierte ihn. Für einen langen Moment schwankte er zwischen dem quälenden und starken Bedürfnis, seiner Zukunft, seinem Volk, seinem Erbe und allem, was damit zusammenhing, zu entfliehen, und dem Joch der Pflicht, das seit seiner Geburt auf seinem Nacken lag und ihn fast erdrückte.

Er war der Erbe des Alpha. Er war die Zukunft der Kolonie. Mit all ihren Privilegien und der Macht, die zu seiner Position gehörten, war er auf eine Weise gebunden, ja gefesselt, wie das keiner der anderen ganz nachvollziehen konnte.

Er blickte in den warmen Himmel zu dem großen, vollkommenen Mond hinauf. Träumend malte er sich eine Zukunft aus, in der er frei sein konnte, die voller Romantik und wilder Abenteuer war … Und wie von selbst fiel die Entscheidung. Er lächelte den Mond an, stand auf und wollte sich gerade in Nebel verwandeln …

… als sein Vater die Hand ausstreckte und ihn entschlossen am Handgelenk festhielt.

»Ehe du gehst«, sagte er leichthin, »hätte ich noch gerne mit dir gesprochen.«

In einer Mischung aus Schock und Empörung wirbelte Leander herum und entwand sich dem Griff seines Vaters.

Unglücklicherweise und zu Leanders großem Verdruss war sein Vater einer der wenigen anderen in der Kolonie, die sich ebenfalls in Nebel verwandeln konnten. Seine Gaben waren unvergleichlich und seine Wahrnehmung so scharf wie die eines Falken. Leander war genau deshalb mehr als einmal bei einem jungenhaften Streich oder Ungehorsam erwischt worden.

»Ich wollte nirgendwo hingehen«, empörte er sich und senkte den Blick.

Die Miene seines Vaters war undurchdringlich, und sein Gesicht war durch den Baldachin aus Erlenästen verhüllt, der sich über ihnen erstreckte.

»Nein?«, fragte sein Vater, und seine Stimme klang warm und belustigt. »Da hatte ich aber einen anderen Eindruck.«

Leander antwortete nicht. Er drehte sich weg und starrte schmollend auf seine Füße, während er laut hörbar die Luft einsog. Er fühlte sich schrecklich gedemütigt und zugleich zornig.

»Wie auch immer. Du solltest jedenfalls ein paar Dinge wissen, ehe du deine Entscheidung fällst.«

»Als ob du mich gehen lassen würdest, wenn ich das wollte«, entgegnete Leander trübselig. »Ich darf doch nie irgendetwas tun, was ich tun will.«

Irgendwo in der Ferne fuhr ein Auto vorbei, das sie aber nicht sehen konnten. Die Landschaft vor ihnen wirkte schwarz und undurchdringlich. Allein das leise Drehen der Reifen auf dem Asphalt einer Straße, die er noch nie gesehen hatte, reichte, um ihn mit einer großen Sehnsucht nach all den Dingen zu erfüllen, die ihm nicht gestattet waren.

»Wir sind uns sehr ähnlich, du und ich«, sagte sein Vater leise, während er das Gesicht seines Sohnes betrachtete. »Es war schwer für mich, und es wird schwer für dich werden. Ich könnte mir vorstellen, dass es für dich sogar noch schwerer sein wird. Mord, Attentate, Lügen, Spionage … All diese Dinge wird man von dir verlangen. All das und noch mehr, wenn du unser Volk einmal führst. Aber du bist stark, und das ist etwas sehr Gutes. Denn als Anführer der Ikati hast du eine Pflicht, die einen Schwächeren zusammenbrechen ließe.«

Leander verschränkte die Arme über der Brust und funkelte seinen Vater trotzig und reuelos an. »Ich will kein Anführer sein. Ich will einfach nur, dass man mich in Ruhe lässt.«

Sein Vater warf ihm einen Seitenblick zu, und sein Lächeln war voller Mitgefühl.

»Die Dinge ändern sich, Leander. Tag für Tag kommt die Zukunft näher, und die Vergangenheit verschwindet immer mehr. Ob es uns gefällt oder nicht – Veränderungen passieren unweigerlich.« Der Blick seines Vaters wanderte zu der Stelle, wo sich das Licht aus dem Pförtnerhaus safrangelb und golden auf dem Kopfsteinpflaster der Straße sammelte, die von Sommerley wegführte. Er sah die Straße entlang bis zu jenem Punkt, wo sie sich im Dunkel der Nacht im Wald verlor.

»Deine Zeit kommt immer näher, mein Sohn. Ich weiß, dass du bereit sein wirst. Aber wenn du das Leben, das für dich bestimmt ist, nicht führen willst …« Sein Vater wies mit der Hand in die Nacht – eine schlichte Geste voller Anmut und Autorität zugleich – »… dann geh.«

Leander stand wie versteinert auf der Mauer. Der nächtliche Wind ließ das Laub der Bäume um sie herum rascheln. Der Duft von Holunder und nassem Gras stieg ihm kühl und klar in die Nase.

»Deserteure sind die schlimmste Bedrohung unseres Volkes«, sagte Leander langsam, während er überlegte. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. »Sie sind verzweifelt. Außer Kontrolle. Gefährlich. Beinahe so gefährlich wie …«

Er sprach das Wort nicht aus, sondern ließ es in der Luft zwischen ihnen ungesagt schweben.

»Ja«, erwiderte sein Vater.

Leander kaute auf seiner Unterlippe. »Der Rat würde mich jagen.«

Sein Vater lächelte gelassen. »Ja.«

»Ich müsste irgendwo einen Wald finden, wo ich leben und mich verwandeln kann, ohne dass es jemandem auffällt …«

»Ich kann mir vorstellen, dass du durchaus in der Lage wärst, allein zu überleben, wenn es nötig ist. Von meinen Kindern bist du das mutigste und das bei Weitem erfinderischste. Obwohl du jung bist, würdest du das bestimmt schaffen. Da bin ich mir sicher. Und es gibt viele Wälder auf der ganzen Welt. In der Hinsicht müsstest du dir keine Sorgen machen.«

Leander drehte sich um und warf einen Blick auf Sommerley. Das Haus lag verborgen in den wilden, schönen Wäldern. Sein Herz zog sich auf einmal zusammen. Ob es das aus Freude oder aus Reue tat, wusste er nicht. »Mutter würde dich umbringen.«

Sein Vater nickte kleinlaut. »Höchstwahrscheinlich.«

Leander wurde jetzt wütend. »Warum? Warum würdest du so etwas machen? Warum würdest du mich gehen lassen, wenn es gegen das Gesetz ist – wenn niemand gehen darf, nicht einmal der Alpha?«

Sein Vater sah plötzlich älter aus. In den attraktiven Gesichtszügen zeigte sich die Last eines Lebens der Pflichterfüllung. Das Dasein als Anführer spiegelte sich in den Linien um seinen Mund und in den Falten auf seiner Stirn wider.

»Weil du mein Sohn bist und ich dich liebe. Du hast eine Wahl, wie wir alle. Aber du musst bereit sein, auch die Konsequenzen zu tragen. Du musst bereit sein, alles hinter dir zu lassen, was du hast oder was du jemals hier in Sommerley haben wirst: deine Freunde, deine Familie, dein Zuhause. Du musst bereit sein, dein Erbe, deine Zukunft und jegliche Form von Sicherheit hinter dir zu lassen. Du musst bereit sein, gejagt und höchstwahrscheinlich auch gefangen zu werden, ehe dich der Rat aufs Schärfste bestraft. Du musst bereit sein, auch von unseren Feinden verfolgt zu werden, von einem Ort zum nächsten zu fliehen und dich überall auf dieser Welt als Außenseiter zu fühlen. Du musst dir sicher sein, dass das, was du tust, so richtig ist, dass es sich lohnt, all diese Dinge auf dich zu nehmen und deine Heimat zu verlassen.«

Sein Vater seufzte und musterte den Rand der Mauer, auf der sie standen. Er schaute auf die dunkle Wiese unter ihnen, auf der Blumen wuchsen und Mäuse schliefen. Der süße, reife Geruch des Sommers, der kurz bevorstand, stieg ihnen in die Nase. »Für mich gibt es nur eine Sache auf dieser Welt, die ein solches Opfer rechtfertigt. Nur eine einzige Sache auf der ganzen Welt.«

»Und was?«, flüsterte Leander, den auf einmal eine seltsame Ahnung erfüllte.

Das bernsteinfarbene Licht der Laternen um das Pförtnerhaus ließ das Profil seines Vaters warm schimmern, als dieser den Kopf ein wenig drehte und ihn anlächelte.

»Die Liebe.«

Leander blinzelte verwirrt. Das Lächeln seines Vaters wurde breiter. »Bist du verliebt, mein Sohn?«

Leander rümpfte die Nase und schnaubte empört. »Nein!«

»Aha. Nun, dann ist es vielleicht nicht wert, dieses Risiko auf dich zu nehmen. Aber ich überlasse es dir, eine Entscheidung zu fällen.«

Sein Vater begann sich von seinen Füßen aufwärts in Nebel zu verwandeln. Langsam wurde sein schimmernder Körper zu weißer Luft, die wie ein Dampf über einem See hing, bis nur noch seine Schultern und sein Kopf übrig blieben. Es war ein Trick, den Leander bereits kannte und den sein Vater gerne anwandte, wenn seine Mutter wütend auf ihn war und er sie spielerisch wieder für sich gewinnen wollte.

Leander verschränkte die Arme über der Brust und sah seinen Vater regungslos an.

»Wie auch immer deine Entscheidung ausfallen mag, mein Sohn – ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Schweigen.

Dann seufzte Leander genervt. »Was?«

»Wenn du heute Nacht mit mir zurückkommen solltest, bleibt diese Unterhaltung unser Geheimnis. Falls deine Mutter nämlich herausfindet, dass ich nicht versucht habe, dich aufzuhalten, wird sie mich umbringen.« Er lachte, während sich seine Brust und sein Nacken ebenfalls in Nebel auflösten und in feinen Streifen um seinen Kopf emporstiegen.

Dann zwinkerte er Leander zu und löste sich völlig auf. Leander blieb allein in der Nacht zurück.

Noch immer, viele Jahre später, erinnerte er sich genau an die Worte seines Vaters. Er musste auch jetzt daran denken, als er über die Menge blickte, die sich auf der Einfahrt vor dem Herrenhaus von Sommerley zusammengefunden hatte. Es waren seine Freunde, seine Verwandten und die Anführer seiner Spezies aus der ganzen Welt. Hinzu kamen die meisten Einwohner des Dorfes. Viele Hunderte Ikati standen schweigend und ernst auf dem weißen Kies vor ihm und wurden von dem Regen nass, der jetzt wieder eingesetzt hatte.

Nur Christian fehlte. Er war zusammen mit Morgan ins Gefängnis geworfen worden.

Sein Vater und seine Mutter waren tot. Sein Bruder hatte sich gegen ihn gewandt, und seine Schwester befand sich in den Fängen ihres größten Feindes. Vielleicht hatte man sie bereits gefoltert, vergewaltigt oder getötet. Sein Volk stand kurz davor, ins Chaos abzudriften, ihr Stamm war im Begriff, in den Krieg zu ziehen. Und er befand sich knapp vor einem Nervenzusammenbruch.

Für mich gibt es nur eine Sache auf dieser Welt, die ein solches Opfer rechtfertigt. Nur eine einzige Sache auf der ganzen Welt.

Sein Vater hatte gewusst, dass er nicht abhauen würde. Leander hatte das inzwischen begriffen. Vielleicht hatte er auch gewusst, dass Leander nur eine Wahl gebraucht hatte. Keiner konnte ein guter Anführer werden, wenn es ihm aufgezwungen wurde, wenn das Bedürfnis, zu schützen und zu dienen nicht ebenso sehr ein Teil seines Wesens war wie das Herz, das in seiner Brust schlug.

In jener Nacht, die schon so lange hinter ihm lag, hatte er sich entschlossen zu bleiben, weil Sommerley sein Königreich, sein Erbe, sein Leben bedeutete. Er liebte es. Ihm wurde klar, dass er niemals diejenigen im Stich lassen könnte, die auf ihn zählten.

Er hatte eine Aufgabe. Er war dazu erzogen worden, sie zu erfüllen. Er war für diesen Moment und diesen Kampf herangezogen worden. Er musste sein Volk beschützen und es in Sicherheit bringen, während er gleichzeitig die Gefahr, die ihr aller Leben bedrohte, beseitigte.

Doch trotz all der Dinge, die er verloren hatte, trotz all der Dinge, die er noch tun musste, trotz seines Zorns, seiner Rachegelüste und seines Hasses, der wie Feuer in seinen Venen loderte, trotz all der Angst, die er in den Augen seiner Leute sah, und der Bedrohung, die so plötzlich und heftig in ihrer Mitte ihr hässliches Haupt erhoben hatte, vermochte Leander in diesem Augenblick nur an eines zu denken.

An Jenna.

Sie war seine Leidenschaft. Sie war sein Feuer. Sie war sein Herz.

Er würde sie finden. Er würde sie finden, weil sie seine Partnerin, seine Königin, seine zukünftige Braut war. Selbst der Tod konnte ihn nicht mehr von ihr fernhalten.

»Unsere Verteidigungslinien wurden durchbrochen.« Von seiner erhöhten Position auf der obersten Stufe der Marmortreppe, die zu den riesigen Eisentüren des Herrenhauses führte, wurde seine Stimme leicht über die versammelte Menge hinweggetragen. »Unsere Geheimnisse wurden gelüftet. Der Feind liegt auf der Lauer. Wir alle wissen, was das bedeutet. Wir alle wissen, was auf dem Spiel steht.«

Der kalte Wind wurde stärker und blies das trockene Laub zwischen den Beinen der Versammelten hin und her. Er hob die Säume langer Röcke und Mäntel und ließ Leanders tropfnasse Haare gegen seine Wangen und sein Kinn klatschen. Über ihnen braute sich düster ein Sturm zusammen. Aus unheilvollen, schiefergrauen Wolken fiel der Regen auf den Wald. Die Bäume ragten wie dunkle Klauen in die nasse Luft und erinnerten an Raubtiere, die sich zur Verteidigung bereit machten.

Leanders Blick wanderte durch die Menge. »Sollen sie doch kommen. Wir sind Ikati. Wir haben seit Jahrtausenden überlebt. Wir werden auch diesen Angriff überleben.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem kalten, schönen Lächeln. »Wir werden sie alle vernichten.«

Nichts regte sich. Nichts gab einen Ton von sich, und soweit sie das beurteilen konnte, schien auch nichts zu atmen.

Sie war allein. Für wie lange sie das noch sein würde, wollte sie sich gar nicht erst ausmalen.

Als Nebel hing sie an der Decke in der kleinen Diele des Hauses. Einen Moment lang sah sie sich um. Die Möbel waren aus schwerem Holz, und auf dem Boden lagen blutrote, spanische Fliesen. Barockspiegel hingen in kleinen Gruppen an den Wänden. Ihre reflektierenden Oberflächen verstärkten das schwache Licht, das durch die Fensterläden hereinfiel. Jenna hatte fast das Gefühl, in tausend Spiegel und dunkle Räume zu blicken, als ob sie sich in irgendeinem schrecklichen Spukhaus befinden würde.

Wenn da nicht die Videokamera gewesen wäre, die auf einem Stativ in einer Ecke des Wohnzimmers stand. In einem Arbeitszimmer befanden sich zudem auf einem schweren Schreibtisch aus Eiche ein Computer und ein Drucker. Sonst strahlte das Haus eine unheimliche, beinahe mittelalterlich anmutende Atmosphäre aus. Neben einer Glasvitrine stand sogar eine alt aussehende Ritterrüstung, während in der Vitrine selbst eine erstaunlich vielfältige Sammlung antiker Waffen ausgestellt war.

Die Vitrine nahm eine ganze Wand des Wohnzimmers ein, und ihr Anblick machte Jenna Angst.

Sie kroch so langsam über die Decke, wie es nur irgendwie ging. All ihre Sinne waren weit geöffnet, um jede Bewegung wahrzunehmen. Nachdem sie durch eine Türöffnung geschwebt war, befand sie sich in einem langen Korridor, auf dessen beiden Seiten geschlossene Türen waren. Die Türen waren aus Eisen. Obwohl man sie weiß gestrichen hatte, um von ihrer wahren Funktion abzulenken, konnte Jenna ihre Kälte und Härte spüren, die wie schwarzes Eis glatt und heimtückisch von ihnen ausstrahlten. Die Decke war mit einer groben Raufasertapete beklebt. Sie spürte nichts hinter diesen undurchdringlichen Türen – keinen Herzschlag oder Wärme, keinen Hinweis auf Daria oder die Expurgari.

Langsam kroch sie weiter. Sie dehnte sich auf der unebenen Decke so weit wie möglich aus und versuchte dabei, all ihren Mut zusammenzunehmen.

Durch die Tür am Ende des Ganges drang ein ausgesprochen schwacher Geruch nach Kupfer und Salz. Blut.

Jenna glitt auf den Boden. Sie breitete sich zuerst über den einen und dann über den anderen Türpfosten aus, um so möglicherweise eine Lücke zu finden, durch die sie hindurchpasste. Die eiskalte Oberfläche ließ sie frieren. Aber es gab keine Lücke. Die Tür war ebenso wie die anderen aus Eisen und genauso perfekt versiegelt.

Sie betrachtete die Klinke. Natürlich war die Tür abgeschlossen. Die Männer würden auch sicherlich nicht so dumm sein, einen Schlüssel herumliegen zu lassen, auch wenn das jetzt für sie höchst praktisch gewesen wäre.

Einen Moment lang schwebte sie unentschlossen und zögernd in der Luft. Dann verwandelte sie sich wieder in eine Frau. Die spanischen Fliesen fühlten sich unter ihren nackten Füßen unangenehm glatt an. Sie kniete sich auf den Boden und schaute unter die Türklinke. Dann konnte sie nicht anders: Sie musste grinsen.

Offensichtlich brauchte sie gar keinen Schlüssel.

Jenna verwandelte sich wieder in Nebel und begann, langsam durch das Schlüsselloch zu dringen.

Leander suchte allein Jennas leere Räume auf. Er stand vor dem kaputten Fenster, durch das Kälte und Regen eindrangen. Unter seinen Stiefeln knirschten Glasscherben und Marmorstücke, als ob es sich um Knochen handeln würde.

Seine Männer hatten ihre Befehle erteilt bekommen. Die Kolonie bereitete sich auf den Krieg vor. Sie hatten sich seit Jahrtausenden versteckt, doch nie vergessen, wie sie kämpfen mussten. Sie waren Ikati. Sie waren Sieger. Der Kampf lag ihnen im Blut.

Und sie würden gewinnen. Selbst wenn er jeden einzelnen der Expurgari mit einen bloßen Händen töten musste. Er würde sicherstellen, dass sie gewannen.

Er richtete den Blick nach Osten, wo sich die kalte Sonne hinter einem Schleier aus Sturmwolken verbarg. Dort nahm er eine Spur von ihr im Wind wahr.

Jenna war noch immer hier. Wie ein Geist schwebte ihr kühler Duft nach Winterrosen und frischer Luft um ihn und ließ ihn an die Weichheit ihrer Haut, die Form ihrer Brüste und Hüften und die heftige Leidenschaft ihres Körpers denken, als sie sich ihm hingegeben hatte.

Ihr Duft schien ihn leise zu begrüßen – der Duft seines schönen Panther-Mädchens. So verletzlich, so tollkühn, so dreist.

Finde mich.

Er rief sie in Gedanken. Langsam schloss er die Augen und ließ Jenna unter seine Haut kriechen. Die warmen, weiblichen Spuren ihres Wesens setzten sich wie Puzzleteile vor seinem inneren Auge zusammen. Er öffnete seine Nase, seine Ohren und sein Herz und ließ das Tier in sich die Führung übernehmen – die große Katze, die des Nachts mit der Nase im Wind auf Jagd ging und mit ihren scharfen Klauen und Zähnen jenen einen raschen Tod brachte, die ihr zum Opfer fielen. Dieses Tier in ihm war stets bereit und wartete nur auf die Chance, ausbrechen zu können.

Er holte tief Luft und fand Jenna in seinem Inneren – die Frau, die er zu der Seinen gemacht hatte.

Ihr Duft war so stark wie beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte – jenen ersten, atemberaubenden Moment, als er sie durch die Glastüren des Supermarkts erblickt hatte. Die flirrende Hitze des Sommers wirkte im Vergleich zu dem Feuer, das sie in seinem Körper und Herzen entflammt hatte, geradezu lächerlich.

Damals war es faszinierend, aufregend, unwiderstehlich gewesen. Jetzt war dieser Ruf, den sie in ihm auslöste, unabdingbar für ihr Überleben.

Ihr Geruch, der beinahe wie eine Vibration, wie eine greifbare Gegenwart war, löste etwas in ihm aus, das er nicht benennen konnte. Es existierte in seinem tiefsten Inneren, in jenem Teil von ihm, der ganz Tier, ganz Jäger war.

Sie war die Seine. Sie gehörte zu ihm. Er musste sie finden. Für einen Moment atmete er ihren Geist ein. Ein großer, schmerzvoller Hunger fraß sich in seine Brust. Dann öffnete der Alpha die Augen, verwandelte sich in Nebel und drängte durch das Fenster in den düsteren Himmel hinauf.