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Jenna flog wie ein Geschoss in die kühle Geborgenheit des Waldes. Sie hatte sich noch nie zuvor auf diese Weise bewegt. Sie hatte es gar nicht für möglich gehalten. Nichts anderes als die animalische Kraft ihres Willens ließ sie durch das Dickicht der riesigen Bäume dahinschießen. Sonnenstrahlen fielen von oben herab. Sie flog wie ein Pfeil dahin – voller Zorn und mit einer solchen Verzweiflung, dass sie sich selbst kaum darin wiedererkannte.

Ihr Vater … Dieser Abschaum hatte ihn getötet.

Sie schoss, geleitet von einem Urinstinkt, dahin – durch nebelige Luft, durch warme Sonnenstrahlen, vorbei an taufrischen Ästen. Dabei scheuchte sie eine Gruppe Hirsche auf, die panisch flüchtete, und ließ so manches Eichhörnchen verblüfft zurück. Sie raste über umgefallene Baumstämme und moosbewachsenes Farngestrüpp, stürmte durch herabgefallenes Laub, das sie aufwirbelte und in alle Winde verstreute. Dann durchschnitt sie ein zartes, taufeuchtes Spinnennetz und spürte, wie die seidigen Fäden an ihr klebten, bis sie, einer nach dem anderen, wieder von ihr gerissen wurden.

Sie war froh, dass sie in diesem Moment nicht weinen konnte, sondern ganz und gar in Nebel eingehüllt war. Sie war auch froh, dass sie weder ihren Herzschlag noch ihr Inneres spüren konnte, das sich völlig verkrampft hatte.

»Wenn sie dich jemals finden, dann lauf weg«, hatte ihre Mutter immer wieder betont. Das erste Mal hatte sie Jenna diesen Rat gegeben, nachdem ihr Vater wenige Monate zuvor verschwunden war. Inzwischen war das viele Jahre her.

»Wer soll mich finden?«, hatte sie damals gefragt. Sie hatte aufgehorcht und das Programm, das sie sich gerade im Fernsehen in ihrem Wohnzimmer angesehen hatten, nicht mehr beachtet. Stattdessen hatte sie sich ihrer Mutter zugewandt, die aus dem Fenster starrte. Der Blick ihrer Mutter war panisch durch den Garten gewandert, als ob sie jeden Moment erwartete, dass jemand aus dem Gebüsch springen würde. Sie hielt ein großes Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand, und selbst von der Entfernung, in der sich Jenna zu ihrer Mutter befand – sie saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden –, konnte sie den Alkohol riechen.

»Es war zu spät für mich, als ich herausgefunden habe, was er ist«, antwortete sie rätselhaft, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Ich hatte mich bereits in ihn verliebt. Es war eine echte Romeo-und-Julia-Geschichte, unsere Liebe schlug ein wie ein Blitz. Alle waren gegen uns.« Sie nahm einen großen Schluck und presste dann das Glas mit den klirrenden Eisstücken an die Stirn. Langsam schloss sie die Augen. »Nicht, dass ich etwas daran ändern würde«, flüsterte sie. »Selbst wenn ich könnte – ich würde nichts anders machen.«

»Mom?«, fragte Jenna. Ihr machte das unverständliche Gemurmel ihrer Mutter und der düstere, verzweifelte Ton ihrer Stimme Angst. Ihre Mutter wandte sich vom Fenster ab. Jenna bemerkte zum ersten Mal die tiefen Linien um ihren Mund, die Falten zwischen ihren Augenbrauen, die Zeichen und Male, welche Furcht und Trauer in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Obwohl sie zerbrechlich und krank war, strahlte sie doch noch immer eine große Schönheit aus. Sie besaß eine statuenhafte Eleganz und eine lange Mähne blonder Haare, die sie von ihrer eigenen Mutter geerbt und an Jenna weitergegeben hatte.

»Und kein Sport mehr«, sagte sie abrupt. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr verzweifelt, sondern entschlossen. »Kein Turnen, kein Fußball, kein Laufen. Du darfst es nicht riskieren, aufzufallen. Du musst dich anpassen. Du musst so tun, als wärst du wie alle anderen …«

»Aber ich habe einen Preis beim Laufen gewonnen«, protestierte Jenna und sprang auf. »Und beim Turnen auch! Ich bin viel besser als die anderen Mädchen!«

»Ach, mein Schatz«, sagte Jennas Mutter, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Das liegt daran, weil du nicht wie die anderen Mädchen bist. Du wirst nie so sein wie sie.«

Ihre Worte hatten etwas Prophetisches und machten Jenna sprachlos. Sie stand da und sah ihre Mutter an – groß und blond und blass, genau wie sie. Doch auch eine gebrochene Frau. Sie merkte, dass es in ihrem Gespräch um Entscheidendes ging.

»Wie bin ich denn dann?«, fragte sie, auch wenn sie die Antwort bereits kannte.

Eine einsame Träne lief über die Wange ihrer Mutter. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sie wegzuwischen. »Du bist wie dein Vater«, sagte sie. Die Verzweiflung war in ihre Stimme zurückgekehrt. »Du siehst aus wie ich, aber du bist wie er – stark und schnell und … anders. Und wie ihn wird man auch dich verfolgen. Also musst du lernen, so zu tun, als wärst du eine andere. Du musst dich verstellen, denn ich werde nicht immer da sein, um dich zu beschützen.«

Es gab nichts, was Jenna, die noch so jung war, auf diese Warnung hätte vorbereiten können. Es war nicht nur der Gedanke, dass ihre Mutter sie eines Tages verlassen oder sich aus anderen Gründen nicht mehr um sie kümmern könnte, oder die Tatsache, dass sie ihrem Vater ähnelte, den sie abgöttisch verehrte, sondern auch die Warnung, dass man sie jagen würde.

Wie ihn.

Ihr Vater wurde gejagt. Ihr ganzer Körper erstarrte vor Entsetzen.

»Was ist mit ihm passiert?«, flüsterte sie. Sie hatte schreckliche Angst, dass ihr ihre Mutter diesmal die Wahrheit sagen würde, aber sie tat es nicht. Sie trank nur einen weiteren Schluck aus ihrem Glas und drehte sich dann wieder zum Fenster. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie antwortete.

»Er ist von uns gegangen, und er wird nicht zurückkommen«, sagte sie.

Jenna hatte noch nie eine derart gequälte Stimme gehört. Ihre Mutter trank den letzten Schluck und stellte das Glas auf das Fensterbrett. Sie starrte darauf, durch es hindurch, als ob sie gar nicht sehen würde, was vor ihr war.

Jenna sank auf die Knie. Sie zitterte so sehr, dass sie nicht mehr aufrecht zu stehen vermochte. Ihre Wangen waren heiß und feucht, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte. »Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?«

»Wenn du älter bist«, erwiderte ihre Mutter mit einer unheimlichen, wie tot klingenden Stimme. Sie starrte noch immer auf das Glas. »Ich werde es dir erzählen, wenn du älter bist.«

Dieses Versprechen wurde nie erfüllt. Und jetzt flog Jenna wie der Wind durch einen Wald, der einmal ihrem Vater gehört hatte. Sie floh vor der Antwort auf eine Frage, die fünfzehn Jahre lang wie ein Krebsgeschwür unkontrolliert an ihr genagt und sie gequält hatte.

Sie schoss viele Kilometer weit, hinweg über urtümliches Dickicht, bis sie schließlich müde war.

Erschöpft glitt sie auf der rauen Rinde eines Bäumchens entlang und sammelte sich dann als feuchter Dunst in einer Astgabel. Sie lauschte den Geräuschen des Waldes. Blätter raschelten, Äste knackten, Eichhörnchen piepsten, winzige Füße liefen kratzend über den Erdboden unter ihr. Ein Rotkehlchen ließ sich auf einem Ast über ihr nieder und begann zu zwitschern, wobei sich sein Federkleid während des Gesangs aufplusterte.

Jenna wusste nicht, was sie tun sollte. Sie vermochte kaum einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte sich so sehr nach Antworten gesehnt und stets das Gefühl gehabt, dass alles ins rechte Lot käme, wenn sie nur die genauen Details ihrer Vergangenheit kennen würde. Wenn sie nur das Warum, das Wie und das Wann kannte. Doch selbst diese eine Information, die sie jetzt von Leander bekommen hatte, hatte ihr nicht geholfen, ihre Welt in Ordnung zu bringen. Im Gegenteil, sie hatte sie noch mehr durcheinandergewirbelt.

Hingerichtet. Eine sehr kleine Kiste. Der Gedanke ließ das Rotkehlchen über ihr verschwimmen. Der Vogel war jetzt nur noch ein bunter Fleck in einem düsteren Nebel. Sie schoss zu dem Zweig hoch und hielt sich an der Rinde fest, als sie ihr Gleichgewicht verlor. Das Rotkehlchen flog entsetzt auf und verschwand im Wald.

Jenna stieg durch das Baumkronendach, um über die Bäume hinwegzublicken, die sich kilometerweit grün und dicht ausbreiteten. In der Ferne entdeckte sie eine Ruine, die neben einem Felsen stand, der von Flechten übersät war. Sie ließ sich ein wenig herab und machte sich in diese Richtung auf. Es handelte sich um eine alte Steinhütte, deren Fenster herausgeschlagen waren. Das Dach war zum Teil eingestürzt und stark überwuchert. Die Ruine, die von Efeu und blauer Klettertrompete umhüllt war, sah genauso verloren und einsam aus, wie Jenna sich fühlte. Sie wirbelte herab und verwandelte sich neben einer niedrigen, eingefallenen Wand wieder in eine Frau. Einen Moment zögerte sie. Alle Sinnesregungen kehrten zurück. Ihr Herz begann wieder zu schlagen, und der Duft nach wilder Minze und Zedernharz stieg ihr in die Nase. Ihre nackte Haut wurde kühl, als ein eisiger Windhauch sie erfasste.

Sie hielt sich mit einer Hand an der rauen Steinmauer fest, um nicht zu stürzen. Dann fiel sie auf die Knie und übergab sich.

Als sie schließlich nichts mehr im Magen hatte, wischte sie sich die feuchten Augen und die Nase mit dem Handrücken ab und spuckte aus. Eine Weile kniete sie so und starrte auf einen kleinen Haufen toten Laubs neben ihr. Sie spürte die feuchte Erde unter ihren Fingern und kalten Boden unter ihren nackten Knien.

Langsam füllte sie die Lunge mit frischer Luft. Sie zwang sich, das immer und immer wieder zu tun. Als sie schließlich glaubte, wieder gleichmäßig atmen zu können, richtete sie sich auf und ließ die Erde in ihrer Hand zu Boden rieseln.

Die Hütte war dunkel. Hier war es noch kühler als im Wald. Als sie eintrat, schlang sie die Arme um ihren nackten Körper, um sich zu wärmen. Ein Großteil des Steinbodens war von Gräsern und Efeu bewachsen, aber in einer Ecke, dem eingestürzten Dach gegenüber, war noch eine schwarze Feuerstelle zu sehen. Daneben befanden sich eine Laterne und eine grobe Wolldecke sowie ein Kissen. Jemand musste hier vor langer Zeit einmal Zuflucht gefunden haben. Alles war von einer feinen Schicht Staub überzogen.

Zitternd nahm Jenna die Decke, schüttelte sie aus und wickelte sie sich um den Körper. Sie fühlte sich rau und kratzig an und roch modrig. Doch sie war auch dick und warm und reichte bis zu ihren Knien. Jenna sank auf die kalte Feuerstelle. Sie hatte das Gefühl, eine verlorene Pilgerin aus einem alten Märchen zu sein. Die Welt um sie herum kam ihr freudlos, seelenlos und kalt vor. Sie war ausgestoßen. Alle hatten sie verlassen. Nachdenklich sah sie sich in ihrem traurigen Zufluchtsort um. Die eingefallenen Wände, die bemoosten Steine, die Schatten, die Einsamkeit.

So schäbig es hier auch war – es musste reichen. Sie plante, eine Weile hierzubleiben.