19
Irgendwann in der Nacht hatte er sie zu seinem Bett getragen, wobei sie nicht aufgewacht war. Nichts und niemand hatte sie bis zu diesem Moment geweckt. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie seit Jahren nicht mehr geschlafen und könnte jetzt endlich all den Schlaf nachholen.
Jenna öffneten die Augen. Sie sah den sanften Schimmer des Sonnenaufgangs, der hinter den Fenstern von Leanders Schlafzimmer den Himmel zu erhellen begann. Die Fenster waren riesig – wie so vieles in diesem Landsitz, der in Wirklichkeit eine Festung war –, in Blei eingefasste Glasscheiben, die von schweren Seidenvorhängen umrahmt waren und auf den smaragdgrünen Wald blickten, der jetzt in Nebel gehüllt war.
Auch sein Bett war riesig, so weich wie Eiderdaunen und wunderbar gemütlich. Sie fühlte sich warm, zufrieden und entspannt, einer Puppe mit losen Gliedern gleich. Neugierig musterte sie Leander, der noch neben ihr schlief. Dass er so greifbar, so körperlich präsent neben ihr lag, ließ sie bei seinem Anblick wohlig erschaudern.
Er war so schön wie kein anderer Mann, dem sie jemals begegnet war – mit seiner messingfarbenen Haut, seinen ausgeprägten Muskeln und der animalischen Männlichkeit, die von eleganten Manieren verdeckt war. Er fühlte sich sichtbar wohl in seinem Körper. Selbstbewusst. Selbst im Schlaf sah er selbstbewusst aus. Ein kleines, zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen.
Das diffuse Morgenlicht stand ihm gut, auch wenn er eine derartige Dämmerung gar nicht brauchte. Er war viel zu perfekt, um sich verstecken zu müssen. Mit einem Finger zog Jenna die Linien seiner dunklen Augenbrauen nach. Ihre Fingerspitze schwebte wenige Millimeter über den geschwungenen Konturen, so nahe, dass sie seine warme Haut spüren konnte.
Auch das Echo seiner Träume schien über ihren Finger in sie einzudringen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Herzschlag.
In den vier Tagen, die sie und Morgan zusammen in Jennas Räumen verbracht hatte – eingesperrt in ihren Räumen, wie sie sich empört erinnerte –, hatte Morgan ihr beigebracht, wie sie all das, was sie nicht sehen oder fühlen wollte, auszublenden vermochte. Sie hatte ihr gezeigt, wie sie den Ansturm von Empfindungen in den Griff bekam, der mit jeder Berührung eines anderen in ihr ausgelöst wurde.
Welch ein Glück, dass sie das jetzt konnte. Falls sie diese Schwierigkeit noch nicht überwunden hätte, wäre die vergangene Nacht – mit Leanders Händen, Mund und Körper auf und in dem ihren – etwas ganz anderes geworden.
Ihr Blick wanderte zu seinen Lippen, und ihr Finger folgte von seinen Brauen bis zu der geschwungenen Kurve seiner Oberlippe, ein Amor-Bogen mit perfekten Ausmaßen.
Sie wollte ihn küssen. Sie wollte erneut seinen Körper spüren und viele Stunden damit verbringen, ihn zu erkunden. Sie wollte ihm all ihre Geheimnisse und Ängste erzählen und wieder spüren, wie er sie ausfüllte, wie er sie von innen entzündete, bis sie sich in ihm verlor, in ihm und der Magie, die sie gemeinsam entfachten.
Sie war sich nicht sicher, was sie von all dem halten sollte – was auch immer all das sein mochte. Stirnrunzelnd dachte sie, dass es ihr im Grunde am liebsten wäre, wenn sie jegliche weitere Überlegung in dieser Hinsicht für so lange wie möglich aufschieben konnte. Am liebsten für immer.
Letzte Nacht verändert gar nichts, dachte sie entschlossen und ließ die Hand sinken, um nicht weiter sein Gesicht zu erkunden. Überhaupt gar nichts.
Der einsame Schrei eines Falken, der durch den morgendlichen Himmel glitt, zog ihre Aufmerksamkeit wieder zu den Fenstern.
Ein seltsames Verlangen breitete sich in ihr aus, als sie den Wald betrachtete. Es war ein tief reichendes, urtümliches Verlangen, wie eine Bassnote, die einmal angeschlagen wurde. Der Ton wurde nicht schwächer. Er nahm vielmehr an Intensität zu und vibrierte in ihrem Bauch, während sie auf die zahlreichen Bäume blickte, die bis weit in die Ferne über die Hügel reichten. Das plötzliche Bedürfnis, den erdigen Waldboden unter ihren Füßen zu spüren, war nicht zu leugnen, sondern reizte sie vielmehr unwiderstehlich.
»Er ruft nach dir«, murmelte Leander. Er drehte sich ein wenig zur Seite, wodurch ihr der warme Duft seiner Haut in die Nase stieg. Sie fühlte sich wunderbar von ihm umhüllt. Die Hitze seiner Hand brannte auf ihrer Hüfte. »Das tut er doch, nicht wahr?«
Er schlug die Augen auf und blickte sie voll wissender Leidenschaft an.
Jennas Wangen wurden tief rot. Sie wünschte sich, dass ihre Reaktionen nicht derart sichtbar für ihn wären. Die Erinnerung an die Lust, die er ihr mit seinem Körper, seinen Händen, seinen Lippen und seiner Zunge bereitet hatte, besaß eine wunderbare Süße, die sie förmlich zu schmecken glaubte. »Der Wald? Ja, das tut er wohl. Ich fühle mich … sicher hier. Zu Hause.«
»Das liegt daran, dass es dein Zuhause ist.« Er reckte sich wie eine Katze im Sonnenlicht, verschlafen und lasziv, zugleich jedoch in der Lage, von einer Sekunde zur anderen hellwach zu sein und eine Maus zu verschlingen.
Oder sie.
Er machte es sich auf der Matratze bequem und schob seine Hand über ihre Hüfte, um einer unsichtbaren Spur auf ihrem Rücken zu folgen, indem er sie mit seinem Daumen in kleinen Kreisen streichelte. Ihr ganzer Körper schien unter Strom zu stehen.
»Was meinst du damit?«, fragte sie leichthin und versuchte, das Gefühl der Lust zu ignorieren, das seine Hände in ihr auslösten. Es reichte offenbar bereits die zarteste Liebkosung. Im klaren Morgenlicht schien dennoch die Erinnerung an ihre völlige Hingabe in der Nacht zuvor seltsam weit weg zu sein. Am besten dachte sie nicht mehr daran.
Leander stützte sich auf einem Ellenbogen ab und betrachtete Jenna aus halb geschlossenen Augen und mit einem mysteriösen Lächeln. Selbst hinter dem Vorhang aus glänzend schwarzen Haaren verborgen, leuchteten seine Augen noch immer wie Edelsteine, in denen sich das Licht brach.
»Du bist hier zur Welt gekommen.«
Abrupt setzte sie sich auf. Das weiße Betttuch aus Satin glitt bis zu ihrer Taille herab. Ihre Haut zog sich zusammen, als sie die kühle Luft spürte. Sie starrte Leander mit großen Augen an.
»Was?«
Sein Blick wanderte zu ihren nackten Brüsten, ehe er erneut in ihr Gesicht sah. Sein Lächeln wurde breiter. Er strich ihr mit einer Hand über die Wange und ließ dann die Finger über ihren Kieferknochen zu ihrem Hals herunterwandern. Ein Finger folgte schließlich der zarten Linie ihres Schlüsselbeins.
»Wie hinreißend du bist«, murmelte er und strich ihr über die Haut zwischen der Schwellung ihrer Brüste. »Es ist noch nicht einmal fünf Uhr morgens, und du brüllst mich bereits an.«
Sie zog das Kissen unter seinem Kopf hervor und schlug damit auf ihn ein.
Leander ließ sich mit einem Lachen zurückfallen. Er tastete mit den Händen nach ihr, fand ihre Taille und zog sie mit einer eleganten Bewegung zu sich herab. Sie sah ihn finster an, als er ihr die Haare aus dem Gesicht strich und dann ihren Kopf mit beiden Händen umfasste. Aufmerksam sah er sie an.
»Wirst du irgendwann mit diesen dramatischen Erklärungen aufhören?«, wollte sie wissen.
Etwas in seinem Gesicht wurde weicher. Er strich mit einem Daumen über den äußeren Rand ihrer Wimpern und zog dann ihr Gesicht zu sich heran, um sie zu küssen. Einen Moment lang glaubte sie, vor Verlangen kaum atmen zu können. Eine große Leidenschaft erfasste sie, als sie erneut seinen warmen Körper unter dem ihren spürte und sich seine Lippen auf die ihren pressten.
Als er mit einer Hand über ihren Rücken strich und einen Finger in die Spalte zwischen ihren Pobacken wandern ließ, befand sie das Atmen auf einmal gar nicht mehr für nötig.
»Ein oder zwei dramatische Erklärungen kann ich sicher noch aus dem Ärmel schütteln«, flüsterte er. Seine Augen, die jetzt blass grün wirkten, sahen Jenna an. »Vielleicht etwas, das mit einem Kniefall zu tun hat?«
Sie brauchte einen Moment, ehe sie wieder zu sprechen vermochte, so groß war ihre Verblüffung.
»Ich weiß nicht, ob ich noch viele Überraschungen ertrage«, erwiderte sie irritiert. Sie legte den Kopf auf seine Brust, um seinem Blick auszuweichen, und lauschte dem steten Rhythmus seines Herzens. Das Heben und Senken seiner Brust beruhigte sie allmählich.
»Und außerdem«, fügte sie pikiert hinzu, ehe sie sich zurückzuhalten vermochte, »geht es bei Männern und Kniefällen weniger um Erklärungen als um Fragen. Und um große Klunker. Meistens Diamanten.«
Sie schluckte und biss sich auf die Unterlippe. Wieder spürte sie, wie sie rot anlief.
»Also gut«, sagte er belustigt und ohne einen Anflug von Reue. Er strich ihr über den Kopf und wickelte dann eine dicke, goldene Locke ihres Haars um seinen Finger. »Dann werde ich also lieber etwas ganz Neutrales sagen. Wie wäre es zum Beispiel mit ›Guten Morgen‹?«
Jenna atmete mehrmals ein und aus. Sie war völlig durcheinander und im Begriff, hysterisch zu werden. »Du hast genau zehn Sekunden, ehe dein Kopf von deinem Körper getrennt wird«, erklärte sie betont langsam, während sie sich auf den beruhigend realen Anblick einer Frisierkommode konzentrierte, die am anderen Ende des Zimmers stand.
Ein elegantes Möbelstück aus Walnussholz, mit einer Platte aus Carrara-Marmor, und einem ovalen Spiegel.
»Ich bin hier geboren worden?«
Leander drückte seine Lippen auf ihre Haare, und sie spürte, wie das Lachen seinen Körper erbeben ließ. »Feindselig und fordernd. Die perfekte Mischung. Unwiderstehlich. Du bist eindeutig meine Traumfrau.«
Sie schwang sich mit einem frustrierten Schnauben von ihm herunter. Doch er erwischte sie, ehe sie aufstehen und das Bett verlassen konnte. Wieder wurde sie auf die weiche Matratze zurückgezogen. Er schlang ein Bein um sie, hielt sie am Handgelenk fest und drückte es auf das Kissen über ihren Kopf.
»Du bist so entzückend direkt«, sagte er leise. Licht fiel durch sein tintenschwarzes Haar und färbte die Linien seines Gesichts schokoladen- und espressobraun. Sie genoss es, die Wärme und das Gewicht seines Beins auf ihrem Körper zu spüren, ebenso wie die festen Muskeln seines Schenkels, seines Bauchs und seiner Arme. Seine Härchen kitzelten auf ihrer Haut.
Sie blickte in seine Augen, die von einer großen Wärme und Zärtlichkeit erfüllt waren. Das kalte, undurchdringliche Ding, das seit ihrer Kindheit in ihrer Brust gewesen war, begann sich aufzulösen – wie ein Klumpen Stahl, der in einen Schmelztiegel getaucht wurde.
Sie sah ihn blinzelnd an, benommen von diesem neuen Gefühl, von etwas, das sie seit Jahren nicht gespürt hatte. Es ließ ihren Körper so leicht werden, als ob sie mit Helium gefüllt wäre und in Gefahr stünde, vom Bett zu schweben und unter der Decke hängen zu bleiben.
In ihr machte sich allmählich der Verdacht breit, dass dieses neue Gefühl vielleicht Glück sein könnte.
Nein, dachte sie. O Gott, nein.
»Direkt?«, wiederholte sie schwach. Ihr Puls dröhnte auf einmal wie ein donnernder Sturm in ihren Ohren.
Du darfst dich nicht in ihn verlieben. Das darfst du nicht.
Er strich mit der Hand über ihren Arm, streichelte ihr Handgelenk und die weiche Stelle ihrer Ellenbogenbeuge, ehe er ihre Schulter und ihren Nacken liebkoste. Dann hielt er ihr Gesicht in seiner Hand und senkte den Kopf. Mit der Nasenspitze berührte er sanft die ihre.
»Der New Forest hat den Ikati von Sommerley seit beinahe zwanzig Generationen in schwierigen Situationen Beistand geleistet. Er kennt all unsere Geheimnisse und ermöglicht es uns, seit Hunderten von Jahren zu gedeihen und unerkannt unter den Menschen zu leben. Er ist in unserem Blut. Er ist in deinem Blut. Du magst zwar nicht körperlich hier geboren sein, aber deine Seele und dein Geist sind es. Es ist dein Zuhause, Jenna«, erklärte er. »Du bist endlich zu Hause.«
»Oh.« Sie lachte schrill und atemlos, ehe sie das Gesicht zur Seite drehte, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Das heißt das also.«
Sie wusste nicht, wo genau sie zur Welt gekommen war. Diese Frage war ein weiteres Geheimnis ihrer Kindheit. Eine unwichtige Tatsache, die in dem Durcheinander der vielen Umzüge, der Verstecke und ihrer Aufgabe, so zu tun, als wäre sie eine andere, untergegangen war. »In der Nähe des Wassers«, hatte die Standardantwort ihrer Mutter gelautet. Jenna erfuhr nie, ob sie sich tatsächlich nicht mehr erinnern konnte oder es nur nicht verraten wollte. So wurde auch diese Frage zusammen mit all den anderen unbeantworteten Fragen in jene bittere Kälte geschoben, die sich vor so langer Zeit um ihr Herz gelegt hatte. Eine Kälte, die wie Feuer brannte.
Deshalb bist du hier. Vergiss das nicht, tadelte sie sich innerlich. Um Antworten zu bekommen. Aus keinem anderen Grund.
Leander senkte den Kopf, um ihr näher zu sein. Sie atmete aus, und in diesem Moment küsste er sie, sodass sich ihr Atem mit dem seinen vermengte. Sie seufzte. Er legte seinen Mund mit einer wunderbar zärtlichen Geste auf den ihren, Haut auf Haut – eine Geste, die sie erschaudern ließ.
»Meine Schöne«, murmelte er und küsste ihren Mundwinkel. Er spreizte die Finger um ihren Nacken und vergrub sie warm und kraftvoll in ihren Haaren. Besitzergreifend. »Meine Liebste.« Sie spürte, wie seine Erektion heiß gegen ihre Hüfte drängte. Er senkte den Kopf und knabberte an der zarten Haut ihres Halses. Auf jene Stelle, die noch von der Nacht zuvor so mitgenommen war, presste er sanft seine Lippen. »Sag mir, dass du die Meine bist. Sag es mir. Du bist die Meine.«
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein … NEIN!
Sie wand sich unter ihm und versuchte, zu entkommen. Doch er lachte nur heiser und zog sie noch näher zu sich.
»So züchtig«, spöttelte er mit dieser rauchigen Piratenstimme, die sie ganz schwach werden ließ. Er glitt mit der Hand über ihren Oberkörper und umfasste eine ihre Brüste. Seine Stimme wurde um eine Oktave tiefer. »Letzte Nacht warst du nicht ganz so züchtig.«
Er nahm eine Brustwarze zwischen seine Finger, und sie unterdrückte ein Stöhnen.
Jetzt schaffte sie es doch, seiner Umarmung zu entkommen. Sie sprang vom Bett und stand zitternd und mit großen Augen vor ihm. »Zeig es mir!«, rief sie, verzweifelt nach jeglicher Form der Ablenkung suchend. Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Das durfte nicht geschehen.
Er musterte sie voller Bewunderung – ihre Brüste, Hüften und Schenkel. Alles war so wunderbar rund und weich, so sinnlich. So weiblich.
»Wie Sie wünschen, meine Dame«, erwiderte er. Er zog die Decke mit einer ausladenden Bewegung von seinem Körper. Der Stoff raschelte, als er seinen nackten Leib, die flachen, festen Muskeln seines Bauchs und die Erektion enthüllte, die nicht zu übersehen war.
Jenna wurde weiß. Sie riss die Decke entschlossen vom Bett und wickelte sich darin ein. Jetzt sah man nur noch einen Unterarm, ihre Stirn und ihre Augen, die ihn verwirrt wie ein Vögelchen ansahen.
»Nicht das!«, rief sie hysterisch. Sie stand jetzt wirklich in Gefahr, die Nerven zu verlieren.
Leander legte sich zurück, die Hände verschränkt unter seinem Kopf. Ein hinreißendes Lächeln zeigte sich auf seinem schönen Gesicht. Das Morgenlicht fiel in weichen Strahlen auf seine Brust. Er legte die Beine übereinander und warf Jenna einen gespielt gequälten Blick zu. »Es trifft mich tief, dass dich der Anblick meines nackten Körpers so entsetzt, meine Liebe. Ich glaube, ich muss weinen.«
»Ich habe den Wald gemeint! Ich wollte wissen, wie man sich in einen Panther verwandelt.«
Jetzt wurde sein Körper auf einmal völlig regungslos. Seine Augen wirkten ernst und dunkel, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er setzte sich kerzengerade hin, schwang die Beine vom Bett und hielt sich am Rand der Matratze fest. Seine Beine waren leicht gespreizt, sodass sie sein steifes Glied sehen konnte, das sich vor seinen Bauchmuskeln abhob.
Sie wandte den Blick ab. Sein fehlendes Schambewusstsein und die völlige Selbstverständlichkeit, mit der er mit seiner Nacktheit umging, kamen ihr noch verführerischer und anziehender als alles andere vor, was sie bisher bei ihm erlebt hatte. Er strahlte eine unglaubliche Hitze und Ungezähmtheit aus. Er war geschmeidig, wunderschön und geheimnisvoll. Ohne auch nur die geringste Mühe war er absolut bezaubernd und charismatisch.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sich hinter dieser Schönheit, Eleganz und der Poesie seiner Worte ein Raubtier verbarg, jeden Moment zum Sprung bereit. Ein Wesen, das am Tod ihres Vaters beteiligt gewesen war.
Sie durfte sich nicht auf seine Welt einlassen, ganz gleich, wie einlullend er mit ihr sprach. Worte wie »Meine Schöne« oder »Zuhause« oder »Sag mir, dass du die Meine bist« mochten verführerisch klingen, durften sie aber nicht täuschen.
Er schien eine ganze Zeit lang zu brauchen, ehe er antworten konnte. Im Zimmer herrschte eine kühle Stille.
»Was du da gestern Abend gesagt hast«, begann er in einem dunklen, beherrscht klingenden Tonfall, »vor dem versammelten Rat. Dass du dich mit zehn Jahren das erste Mal verwandelt hast.«
Ihr Blick wanderte zu seinem faszinierend schönen Gesicht zurück. Ihr lief erneut ein Schauder über den Rücken. »Ja?«
»Das war doch die Wahrheit, oder?«
»Natürlich war das die Wahrheit«, gab sie pikiert zurück. Es war ihr nicht möglich, ihre Verärgerung zu unterdrücken. Die Decke rutschte von ihrem Nacken, und sie hielt sie mit steifen Fingern fest, um sie noch enger um sich zu ziehen.
Leander starrte sie an. Mit seinen langen Fingern, die sie noch vor wenigen Minuten gestreichelt hatten, hielt er sich jetzt an der Matratze fest und sah sie aus schmalen Augen an.
»Und was noch?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie und presste die Lippen trotzig aufeinander. Sie hob das Kinn.
»Ich meine«, erwiderte er und musterte sie erneut aus schmalen Augen, »dass du, wenn du dich seit dem Alter von zehn verwandeln kannst und es geschafft hast, diese Tatsache vor allen um dich herum, einschließlich unserer Späher, zu verbergen, höchstwahrscheinlich auch zu ganz anderen Tricks in der Lage sein müsstest. Ich würde gerne wissen, was du sonst noch Interessantes kannst.«
Sie biss die Zähne aufeinander. Geh ihm nicht in die Falle! Er darf nicht gewinnen!
»Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte sie und wickelte die Decke noch fester um ihren Körper. »Aber wenn es dir lieber ist, mich nicht in den Wald zu begleiten, wo ich versuchen will, mich in etwas Festeres als in einen Lufthauch zu verwandeln, dann ist mir das auch recht.«
Sie begann zum Fenster zu gehen, den Kopf hoch erhoben, die Decke hinter sich herziehend wie die Schleppe eines Hochzeitskleids. Rasch stand er vom Bett auf, eilte zu ihr und packte sie am Arm.
Sie drehte sich verblüfft um. Sogleich wurde sie von der Hitze seiner Augen in Bann gezogen. Das Licht, das durch die Fenster hereinfiel, ließ sie jadegrün erscheinen.
»Du kannst mir vertrauen, Jenna«, sagte er. Seine Stimme klang überraschend weich, obwohl sein Gesicht ernst und streng wirkte. »Ganz gleich, was du denken magst: Mir geht es hier um dich. Wenn es etwas gibt, was du noch nicht erzählt hast, wenn du etwas vor mir verbirgst – oder auch vor dem Rat –, dann muss ich das wissen. Momentan stellt der Rat keine Gefahr mehr dar. Aber dein Platz in der Kolonie wird so lange nicht sicher sein, bis wir genau wissen, wozu du fähig …«
Jenna zog ihren Arm mit so viel Würde aus Leanders Griff, wie ihr in diesem Moment und in der lächerlichen Decke, die sie trug, möglich war. Vor Zorn bebte sie am ganzen Körper und betrachtete den nackten, wunderschönen Mann neben sich.
»Man kann meinen Platz nicht sichern, Leander. Weder hier noch irgendwo sonst. Ich habe es dir gestern bereits gesagt. Ich lasse mich nicht einsperren. Ich lasse mich nicht zu deiner Gefangenen machen.«
Sie sahen sich mit ernsten, beinahe finsteren Mienen an.
»Ja«, entgegnete er. »Ich erinnere mich. Aber du hast offenbar vergessen, was ich dir gestern gesagt habe.«
Sie hatte es nicht vergessen. Sie war sich durchaus seines Versprechens bewusst, dass er sie gehen lassen würde, denn dieses Versprechen hatte dazu geführt, dass ihre Angst und ihr Zögern verschwunden waren. Sein Versprechen war der Grund, warum sie es sich gestattet hatte, sich dem Augenblick hinzugeben, dem Verlangen, das durch ihre Venen rauschte, ihren Atem stocken ließ und sich wie Gift in ihr ausbreitete. Doch im kalten Licht des Tages kam ihr das Gefühl der Sicherheit vom Abend zuvor töricht vor. Es war ein Wunsch gewesen, sonst nichts – ein Wunsch, der jetzt durch Zweifel ersetzt wurde.
»Du würdest das wirklich tun?« Die Erinnerung an ihr Zusammentreffen mit den Männern des Rats und den Alpha ließ erneut den metallischen Geschmack des Zorns in ihrer Kehle aufsteigen. »Trotz all eure Regeln und Einschränkungen und Geheimnisse würdest du es mir wirklich erlauben, in meine Welt zurückzukehren, in mein altes Leben? Obwohl niemand Sommerley ohne deine Erlaubnis verlassen darf? Obwohl selbst Morgan als Ratsmitglied ihr Leben nicht so führen kann, wie sie das gerne möchte, weil sie eine Frau ist?«
Leanders Gesicht zeigte keinerlei Regung. Kein einziger Muskel seines Körpers bewegte sich. Aber seine Augen brannten mit einem solchen Feuer der Wut und der Empörung, dass Jenna beinahe einen Schritt zurückwich.
»Ja«, erwiderte er mit gefährlich leiser Stimme. »Das würde ich.«
Erneut hob sie ihr Kinn, unwillig, sich von ihm einschüchtern zu lassen. »Ich glaube nicht, dass die anderen so etwas zulassen würden.«
Er musterte sie mit einem undurchdringlichen und schrecklich schönen Blick – so eindrucksvoll und ungezähmt wie der riesige, dunkle Wald, der sich hinter den Fenstern erstreckte.
»Ich bin der Alpha dieser Kolonie, Jenna. Die anderen haben mir gar nichts zu sagen. Ich tue das, was ich für richtig halte.«
»Und wenn es bedeutet, dass du dafür einen Preis zahlen musst?«, fragte sie, wohlwissend, dass es so einen Preis geben würde. Nicht einmal Leander würde dem Gesetz entkommen. Ihr Vater hatte es schließlich auch nicht getan.
Er senkte die Stimme. »Dann werde ich ihn bezahlen.«
Sie kaute auf ihrer Lippe, da sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Der Himmel vor den Fenstern verwandelte sich von einem hellen Grau in eine dunklere Schattierung. Das silberne Morgenlicht wurde schwarz. Regenschwere Wolken versammelten sich am Horizont und schienen nur darauf zu warten, ihr Wasser auf die Bäume, Hügel und Ebenen unter ihnen zu entleeren. Draußen sah es kühl, feucht und einladend aus, während ihr in diesem Zimmer alles plötzlich so eng, heiß und nur von Leander erfüllt vorkam.
»Ich bin hierhergekommen, um Antworten zu erhalten«, brachte sie schließlich nach einem endlosen Augenblick des Schweigens hervor. »Ich wollte nie etwas anderes.« Sie räusperte sich, weil sie plötzlich einen Frosch im Hals hatte. »Das ist für mich das Wichtigste. Ich will herausfinden, wer ich bin … Ich will diese Lücken in meiner Vergangenheit endlich schließen.«
Leanders Augen wurden weicher. Er streckte die Hand nach ihren Haaren aus und spielte mit einer Strähne. »Und ich will dir dabei helfen, Jenna. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht alles erzählst.«
Er hob die Haarlocke und strich damit über ihre Wange bis zur Linie ihres Nackens. Sie erbebte, als er fortfuhr, mit den Haaren auch über ihr Dekolleté zu fahren und dabei der Spur der Locke aufmerksam mit den Augen folgte.
»Außerdem werde ich die Vermutung nicht los«, sagte er in einem heiseren Flüstern, »dass das nicht der einzige Grund war, warum du hierhergekommen bist.« Er sah ihr erneut in die Augen, ließ die Haarlocke los und strich ihr stattdessen mit den Fingerknöcheln über die Wange.
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als er sie so wissend und offen betrachtete.
»Du solltest nicht so selbstzufrieden sein«, entgegnete sie frostig. Seine arrogante Vermutung ärgerte sie. Allmählich reichte es ihr mit diesen ganzen Vermutungen. Sie hatte genug.
»Natürlich ist das der einzige Grund, warum ich hierhergekommen bin.« Sie wandte sich ab und klammerte sich dabei so fest an die Decke, dass ihre Fingernägel durch den Stoff fast in ihre Handflächen schnitten. »Das hier«, sagte sie und wies mit der Hand auf Leander, das Zimmer hinter ihm und das zerwühlte Bett, »war nur ein unglücklicher Unfall.«
Er ließ die Hand sinken. Wahrscheinlich bildete es sie sich nur ein, aber auf einmal schien das Zimmer um mehrere Grad kälter geworden zu sein. Verstohlen warf sie einen Blick in seine Richtung. Jetzt musterte er sie wieder aus schmalen, strengen Augen.
»Verstehe.«
Er wandte den Kopf ab und blickte auf die Landschaft vor den Fenstern. Wieder fielen ihr seine markanten Gesichtszüge auf – die vollen, ernsten Lippen und der Schwung seiner langen Wimpern, die so vollkommen im Licht des Morgens schimmerten.
Er sah genauso nach dem aus, was er war, wie ihr auf einmal mit einem kalten Schauder bewusst wurde.
Nach dunkler Magie.
Anziehend, betörend, gefährlich. Zu allem bereit.
»Also gut«, sagte er durch zusammengepresste Lippen. »Wenn du nur an Antworten interessiert bist …«
Er trat ein paar Schritte zur Seite, hielt einen Moment inne und ging dann zu dem großen Marmorkamin, der sich am anderen Ende des Zimmers befand. Am Abend zuvor hatte darin kein Feuer gebrannt. Die Asche war kalt. Jenna folgte Leander mit den Augen und beobachtete, wie er sich mit einer Hand auf dem Kaminsims abstützte.
Dann drehte er sich zu ihr um. Seine Miene war für sie nicht zu lesen.
»Dann wirst du deine Antworten erhalten. Wenn du mir bitte folgen würdest.«
Er verwandelte sich in Nebel und verschwand in der schwarzen Öffnung des Kamins. Ein Hauch grauen Rauchs blieb noch in der Luft hängen, als er nach oben schwebte und sich in dem morgendlichen Himmel auflöste.
Sie brauchte nur einen Moment, um ihre Überraschung abzuschütteln und sich ebenfalls zu verwandeln. Die Decke, die sie soeben noch umhüllt hatte, glitt zu Boden, und Jenna schoss durch den verrußten Kamin, um oben aus einem bronzenen Kaminaufsatz in den Himmel zu schweben. Leander war bereits kaum mehr zu sehen. Die Wolken begannen sich immer stärker zusammenzuziehen und jegliches Sonnenlicht zu verschlucken.
Er war eine blasse Erscheinung aus fließender Bewegung, wie er so hoch oben im Himmel über den grünen, gepflegten Gärten von Sommerley dahinflog. Fast hatte er bereits die Baumgrenze erreicht.
Er war schnell.
Sie schoss ihm hinterher, fort von dem Dach, hinein in die Luft, silbergraue Wolken durchbrechend. Ein kühler Wind umfing sie, die feuchtschwere Luft bremste sie. Doch Jenna war entschlossen, Leander nicht aus den Augen zu verlieren.
Wohin wollte er?
Der Boden unter ihr verwandelte sich in ein buntes Muster aus Farben. Aus den Gärten von Sommerley wurden zuerst Felder und dann Hügel, die voller Heidekraut und Torf waren. Schließlich kam der Wald. Die dunklen Bäume standen so dicht nebeneinander, dass es so aussah, als wäre er aus Wasser. Ein riesiger, uralter See – ruhig auf der Oberfläche, doch voller Gefahr und Geheimnisse in seinen Tiefen.
In der Ferne begann es zu donnern.
Die ersten Regentropfen fielen, als Jenna Leander aus den Augen verloren hatte. Er war hinter einem Hügel verschwunden. Der leichte Nebel, der sich gebildet hatte, verwandelte sich in einen Schild aus Wassertropfen, die zuerst weich und dann immer härter und prickelnder wie Millionen winziger Nadeln durch sie hindurchfielen. Sie erhob sich höher in den Himmel, überwand den Hügel und hielt dann inne. Suchend sah sie sich im bleischweren Himmel und dem dunklen, stillen Wald unter ihr um.
Leander war nirgendwo zu sehen.
Sie nahm seinen Geruch in südlicher Richtung wahr, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Es war nur ein schwacher Duft aus Gewürzen und Rauch, der durch den eisigen Wind zu ihr durchdrang. Nur wenige Atome seiner Gegenwart hingen noch in der Luft. Doch sie reichten. Jenna schoss los und folgte den Atomen wie kleinen Hinweisen in einem Versteckspiel. Schließlich wurde der Geruch wieder stark genug, dass sie am Rand einer Wiese innehalten und die Gegend genauer durchforsten konnte.
Es war keine natürliche Lichtung, wie sie bemerkte, als sie darüberschwebte. Sie war künstlich angelegt worden und hatte Blumenbeete und eine kleine Steinmauer, die sie umzäunte.
Wo war Leander? Der Regen durchschnitt sie jetzt so heftig, dass sie sich darauf konzentrieren musste, sich nicht wieder zurückzuverwandeln. Es war unangenehm. Sie zog sich zusammen und kämpfte gegen den Sturm an. Viel länger konnte sie in dieser Gestalt sicher nicht verweilen.
In diesem Moment sah sie auf der anderen Seite der Lichtung direkt neben einer großen, tropfnassen Konifere das Schimmern von Wasser, das über nackte Haut lief.
Er hockte auf dem Boden, mit einer Hand auf der rauen Rinde des riesigen Baums, mit der anderen in der Erde. Ohne zu lächeln sah er zu ihr hoch.
Sie umkurvte die Grenzen der Lichtung, während sie die Schönheit des angelegten Gartens, der Gräser und der seltsam flachen, moosbewachsenen Steine betrachtete. Dann verwandelte sie sich hinter Leander wieder in ihre Menschengestalt zurück. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie die Luft in ihre Lungen sog und ihre Glieder streckte. Der Geruch nach nasser Erde und Regenwasser sowie Leanders Duft stiegen ihr in die Nase, rasch gefolgt von der beißend kalten Luft auf ihrer nackten Haut.
Sie wurden von der Brise des kalten Sturms durch das Dach aus Ästen über ihnen geschützt. Doch der Regen drang trotzdem bis zu ihnen vor. Innerhalb weniger Sekunden war auch Jenna klatschnass. Sie bahnte sich einen Weg über den weichen Boden aus Laub und Moos, um sich neben Leander niederzulassen. Mit den Knien in der feuchten Erde zitterte sie vor Kälte. Sie sahen einander nicht an.
»Wo sind wir?«
Seine Stimme erinnerte an die kalte Luft um sie herum. »An der letzten Ruhestätte der Ikati.«
Jenna sprang sogleich auf. Sie vergaß, dass sie nackt war, sie vergaß die Kälte, die Nässe und den Sturm über ihr. Leander erhob sich schweigend und wandte ihr das Gesicht zu.
»Du hast mich zu einem Friedhof gebracht?« Sie sah zu, wie ein Regentropfen auf seine Wange fiel und einer Träne gleich an ihr hinunterlief. Er blinzelte nicht einmal. »Warum?«
»Ich wollte dir etwas zeigen«, sagte er ruhig, die Augen dunkel und undurchdringlich.
»Was?«
In seinen Augen schimmerte einen Moment etwas auf, das jedoch sofort wieder verschwand.
»Das Grab deines Vaters.«
Er wandte sich ab und trat auf die Lichtung hinaus. Der Sturm wütete. Sein nackter Körper war sogleich triefend nass, seine schwarzen Haare klebten ihm auf den Schultern und wurden ihm aus dem Gesicht geblasen.
Jenna starrte ihn an. Sie war wie versteinert.