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»… und der Beluga«, sagte Morgan, ehe sie sich einen weiteren Löffel schimmernd weißen Kaviars in den Mund schob, »ist sagenhaft. Du solltest ihn probieren.«

Jenna rümpfte die Nase, während sie die Fischrogen betrachtete, die vor Morgan standen. Dann blickte sie wieder durch die regennasse Scheibe. Sie waren im Landeanflug. Riesige, smaragdgrüne Wälder, darin eingebettet Felder auf grünen Hügeln und niedrigen Steinmäuerchen, lagen unter ihnen. Regenschwere Gewitterwolken ballten sich im düsteren Himmel über ihnen zusammen, und in der Ferne erhellte ein einzelner Blitz die Luft.

»Ich dachte, Kaviar wäre schwarz«, sagte Jenna zu dem Fenster und fragte sich, ob das Gewitter ein schlechtes Omen war. »Oder rot.«

»Nur der billige«, erwiderte Morgan mit einem Achselzucken, das den schwarzen Taft ihrer Bluse zum Rascheln brachte. Die Bluse war tief ausgeschnitten, eng anliegend und wies vorne eine Reihe feiner Perlenknöpfe auf. Sie entblößte mehr als nur die Andeutung eines Dekolletés, während ihr winziger Rock gebräunte, nackte Beine zeigte, die gefühlte zehn Kilometer lang waren. Mit ihren hohen Wangenknochen, den glänzenden, zobelschwarzen Haaren über einer Schulter und ihrem kirschroten Schmollmund war sie einschüchternd schön.

»Je älter der Stör, desto heller ist der Kaviar, und desto exquisiter ist sein Geschmack. Das hier ist Almas vom Caviar House & Prunier in London. Das ist der beste, den man kriegen kann.« Sie schluckte ein weiteres Stückchen gebutterten Toast mit dem Kaviar herunter und seufzte zufrieden. »Es ist einfach himmlisch. Probier ihn mal.«

Sie schob den winzigen Perlmuttlöffel in die Kristallschale, die vor ihr auf dem Esstisch stand. Die Luft roch jetzt schwach nach Salzwasser und Haselnüssen.

Aber Jenna hatte keine Lust, etwas zu sich zu nehmen.

Es war nicht der elfstündige Flug von Los Angeles in Leanders Privatjet, der sie störte. Sie hatte eine Art von Luxus kennengelernt, wie er ihr nie zuvor begegnet war: Esstische und Schreibtische aus Walnussholz, Ledersessel in Schokoladenbraun und Beige, die so weich wie die Ohren eines Lammes waren, der riesige Flachbildschirm an der Wand über dem Sofa. Selbst der Teppichboden unter ihren Füßen war wunderschön – weich und dick und in der Farbe von Wüstensand.

Das offene und elegant möblierte Innere der Kabine ahmte den Salon eines luxuriösen Landsitzes nach. Es gab sogar einen Butler.

Nein, all das störte sie nicht. Was ihr Sorgen machte, war die einstündige Fahrt vom Flughafen Heathrow nach Hampshire.

Leander hatte kein Wort mit ihr gewechselt, seitdem sie an Bord gegangen waren. Nur einmal hatte er erklärt, dass der Butler ihr alles bringen würde, was sie wollte. Dann hatte er sich in die hinterste Ecke der Kabine zurückgezogen und den gesamten Flug über gelesen. Sein Gesicht war stets versteinert, wenn sie es wagte, einen heimlichen Blick in seine Richtung zu werfen.

Es hätte ihr nichts ausmachen sollen. Es machte ihr nichts aus. Doch jetzt, da sie zu viert weiter nach Sommerley fahren würden, alle im gleichen Auto, würde sie gezwungen sein, mit ihm zu reden. Möglicherweise müsste sie sogar neben ihm sitzen.

Sie würde eine Gefangene seines Dufts sein. Seiner Nähe. Ihres unterdrückten, quälenden Verlangens.

Sie streckte sich auf ihrem Sitz und wandte den Blick zum Fenster ab, als sich der Pilot über Lautsprecher meldete. Er erklärte, dass sie jeden Moment in London landen würden und sich deshalb anschnallen und bis zum endgültigen Halt der Maschine auf ihren Plätzen verweilen sollten.

Verdammt. Sie hatte gerade aufspringen und ein paar Schritte gehen wollen. Wieder einmal.

Morgan musterte sie von unten herauf und legte den Löffel voll Kaviar in die Kristallschale zurück. »Entspann dich«, murmelte sie so leise, dass man sie kaum verstand. »Wenn wir erst in Sommerley sind, wirst du ihm nicht mehr so nahe sein müssen. Du wirst deine eigenen Räumlichkeiten haben. Das Haus ist wirklich riesig. Vermutlich wirst du ihn tagelang gar nicht zu Gesicht bekommen.«

Sie warf ihr ein wissendes Lächeln zu und zwinkerte.

Jenna spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Morgan schob das Tablett von sich, auf dem die Schale mit Kaviar, der gebutterte Toast und ein geeistes Glas Wodka standen, und begann, ihre Sachen von dem Sitz neben ihr zusammenzusuchen: Ein schwarzer Kaschmirmantel, eine Kelly-Lackledertasche sowie ein Stapel Hochglanzmagazine.

»Ich meine damit, dass er uns gesagt hat, warum du einverstanden warst, mit uns zu kommen. Und was du von ihm verlangt hast.«

Jenna fiel nichts Geistreiches ein, was sie darauf hätte antworten können. »Oh.«

»Genau: Oh«, machte sich Morgan freundlich über sie lustig. Ein warmes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Und ich verstehe das ganz und gar. Er kann wirklich wahnsinnig unerträglich …«

Sie brach ab und warf einen Blick in Leanders Richtung. Gemächlich schlug er eine Seite seines Buchs um und ignorierte die beiden. Morgans Stimme wurde noch leiser. »Obwohl ich sagen muss, dass sich Christian dadurch überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ.«

Jetzt sah sie in Christians Richtung, der mit verschränkten Armen auf dem Ledersofa am anderen Ende der Kabine lag. Er starrte, ohne zu blinzeln, an die Decke, sein großer Körper so starr wie ein Holzblock. Immer wieder zuckte einer seiner Kiefermuskeln, doch sonst rührte er sich nicht. Morgans Lächeln wurde schwächer, als sie ihn betrachtete.

Jenna warf einen raschen Blick zu Leander. Seine Hand hielt noch immer die Seite fest.

»Nun, das freut mich«, murmelte Jenna, den Blick auf Leanders Gesicht gerichtet. »Ich meine, zu hören, wie groß Sommerley ist. Ich bin mir sicher, dass es so für alle einfacher sein wird.«

Leander ließ sich nicht anmerken, ob er sie gehört hätte, sondern starrte nur weiterhin auf das Buch in seinem Schoß. Dann begann er mit einem Finger auf den Buchrücken zu klopfen.

Jenna wurde bewusst, dass sie kleine Notizen schreiben musste, wenn sie etwas vor ihm geheim halten wollte.

»Also – wie läuft das eigentlich?« Jenna wandte den Kopf weg und blickte wieder auf die dunkle Welt draußen, die nun fast auf Augenhöhe war. Sie überflogen einen Vorort mit erleuchteten Häusern und winzigen Autos auf regennassen Straßen. »Alle Ikati leben also in diesem riesigen Haus zusammen? Wie in einer Art Kommune?«

Morgans spöttisches Lachen ließ Jenna aufblicken.

»Also, bitte.« Morgan schnitt eine Grimasse und schürzte dabei ihre Lippen. Sie warf einen Blick in Leanders Richtung und bemühte sich dann um einen leichten Ton. »Sommerley ist im Grunde wie eine kleine Stadt. Nur dass sie etwas … versteckter liegt als andere Städte. Ich bilde mir gerne ein, dass es sich um einen exklusiven Ferienort handelt, wie eine Luxusinsel, die nur einige wenige Privilegierte besuchen können.« Sie lächelte melancholisch. »Was es im Grunde ja eigentlich auch ist. Es gibt einen kleinen Hauptplatz und Schulen und Läden und alles, was man in einem anderen Städtchen auch finden würde. Außerdem sind da riesige Wälder und grüne Hügel und ein gewaltiger Himmel.«

Sie strich eine Strähne ihres dunklen Haares über ihre Schulter nach hinten und blickte aus dem Fenster. »Angeblich soll es einer der schönsten Orte der Welt sein, aber …« Sie zuckte mit den Achseln, und das traurige Lächeln verschwand. Jetzt wirkte ihr Gesicht blass und ernst. »Das weiß ich natürlich nicht. Ich habe wenig Vergleichsmöglichkeiten.«

Ein Seufzen kam ihr über die Lippen. »Jedenfalls leben alle in ihren eigenen Häusern, genau wie die Menschen. Allerdings gibt es dort viel mehr Platz. Wir sind nicht gerade Rudeltiere, wir brauchen unser eigenes Territorium. Der Alpha lebt im Haupthaus, zusammen mit Christian und seiner Schwester Daria …«

»Der Alpha«, unterbrach Jenna mit hochgezogenen Augenbrauen. »So nennt man Leander?«

Morgan bedachte sie mit kühler, grünäugiger Belustigung. »Das ist er, Jenna.«

Ja, es war schwierig sich vorzustellen, dass unter diesem eleganten, zivilisierten Äußeren das Herz einer Bestie schlug, dass sich darunter ein Wesen aus Nebel und Reißzähnen und eiskalter Magie befand. Sie warf ihm erneut einen Blick zu. Einen Moment lang vergaß sie ihre Gleichgültigkeit und konnte nicht anders, als ihn zu bewundern.

»Er ist also … Er ist also der Anführer. Er hat die Zügel in der Hand?«

Morgan warf Jenna einen überraschten Blick zu. »Natürlich. Hat er dir das nicht gesagt?«

»Und wie viele von euch … von uns … Wie viele gibt es? Warum England? Ich meine, stammen Panther nicht eigentlich aus tropischen Wäldern?«

»Ursprünglich schon, das stimmt. Der Legende nach aus Afrika, wobei Panther in jeder bewaldeten Gegend mit genügend Beutetieren überleben können. Ich kenne die genauen Details nicht, weil ich eine …« Sie unterbrach sich und zuckte dann ein wenig hilflos mit den Schultern. »Ich habe nie besonders auf die Stammesältesten und ihre Schöpfungsgeschichten geachtet.«

Jenna nahm ihr das nicht ganz ab. »Aber warum sind die Ikati dann nicht überall? Warum seid ihr drei die Einzigen, die mir jemals begegnet sind? Außer meinem Vater natürlich.«

Ein Schatten huschte über Morgans hübsches Gesicht. »Weil viele der Ikati, im Gegensatz zu den Menschen, die sich wie die Karnickel vermehren, unfruchtbar sind. Sogar die meisten von ihnen. Mit jeder Generation wird es schlimmer. Inzwischen gibt es weniger als ein halbes Dutzend Kolonien auf der ganzen Welt. In Nepal, Kanada, Brasilien und Sommerley.«

»Und Leander ist der Alpha von allen?«

Morgan lächelte amüsiert. »Ich bin mir sicher, dass er das gerne wäre. Aber nein – jede Kolonie hat ihren eigenen Alpha und ihren eigenen Rat, der aus den mächtigsten Stammesmitgliedern besteht.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Es sind natürlich alles Männer, soweit ich weiß. Ich bin meines Wissens nach jedenfalls die einzige Frau, die jemals in einen Rat gewählt wurde.«

»Und niemand weiß von all dem?«, wunderte sich Jenna. »Ihr lebt im Grunde ganz offen, und doch hat kein Mensch bemerkt, dass ihr anders seid?«

Morgans Lächeln verschwand. »Nicht ganz offen. Wir leben nie offen. Das können wir nicht.«

»Warum nicht? Wäre das nicht einfacher? Einfach damit rauszurücken, wie es so schön heißt?«

Morgan neigte den Kopf zur Seite und sah Jenna an. Ihre Augen funkelten im gedämpften Licht der Kabine. »Es muss schön sein zu glauben, dass die menschliche Natur noch andere Seiten hat, als grausam zu sein, wenn es um etwas geht, was so anders wie sie selbst ist.«

Jenna fühlte sich leicht angegriffen. »Man kann nie wissen. Vielleicht wärst du überrascht, wie groß… wie nett die Menschen sein können. Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, aber alles in allem …«

»Ich befürchte, dass du trotz deiner Klugheit in dieser Hinsicht ziemlich naiv bist«, unterbrach Morgan ruhig. »Es gibt nichts, was der Mensch mehr verachtet als Vielfalt – ganz gleich, was man dir beigebracht hat. Entweder gehört man dazu oder man ist anders«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Und anders sein bedeutet, der Feind zu sein.«

Jenna dachte an all die netten Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte, wenn auch zugegebenermaßen meist nicht für lange. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Morgan warf ihr einen sanft tadelnden und traurigen Blick zu. »Du solltest mir glauben. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Es gab eine Erschütterung, als die Räder des Flugzeugs den Boden berührten. Morgans Hand presste sich panisch auf ihren Hals.

Jenna sah sie fragend an. »Was ist los?«

Morgan schüttelte den Kopf und schluckte. Dann winkte sie ab. »Ich hasse Fliegen. Ich fühle mich so hilflos, so ausgeliefert. Man kann nichts sehen.«

»Wirklich? Ich liebe Fliegen«, entgegnete Jenna. »Als ich ein Kind war, sind wir so oft umgezogen, dass ich schon glaubte, wir würden unser eigenes Flugzeug haben. Ich wollte immer am Fenster sitzen, um auf die Wolken hinauszusehen und so tun zu können, als wäre ich allein. Als würde ich draußen im Wind mitfliegen. Mein Vater meinte immer, ich hätte die Seele eines Vogels.«

Sie hielt inne, denn die Erinnerung an ihren Vater hinterließ einen bitteren Geschmack. Den Geschmack von Tränen. »Ich wollte immer ein Falke sein«, fuhr sie fort. »Dann hätte ich einfach wegfliegen und die ganze Welt mit ihren Geheimnissen und ihrem Leid hinter mir lassen können.«

Aus dem Augenwinkel sah Jenna, wie Leander den Kopf hob und in ihre Richtung blickte.

»Na ja, es ist auch erst das zweite Mal für mich, dass ich fliege«, erklärte Morgan und beugte sich zu einer kleinen Handtasche hinunter, die neben ihrem Sitz stand. »Ich bin froh, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.« Sie richtete sich wieder auf, ohne Jenna anzusehen. Diese vermutete, dass sie das bewusst tat.

»Lass mich raten: Das erste Mal war dein Flug nach Los Angeles.«

Morgan verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln. »Ich komme nicht sehr viel in der Weltgeschichte herum«, erklärte sie mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme.

Das Flugzeug blieb mit einem Ruck stehen. In einer fließenden Bewegung löste Leander seinen Sicherheitsgurt und erhob sich. Dann schritt er still durch die Kabine zum vorderen Teil des Flugzeugs, wo er hinter der Trennwand verschwand.

»Du kannst aufhören, Löcher in die Decke zu starren, Christian.« Morgan blickte in Christians Richtung. Er lag noch immer auf dem Sofa. Sie stand auf und nahm ihre Tasche und ihren Mantel. »Wir sind da.«

Er drehte den Kopf und sah Jenna einen Moment lang forschend an, ehe er aufstand. Es war der gleiche Blick, den sie auch von Leander kannte und der ihr ebenso wie bei ihm die Röte in die Wangen trieb. Hastig schaute sie weg und konzentrierte sich darauf, ihren Sicherheitsgurt zu lösen und ihre Dinge zusammenzusammeln.

Sie hätte sich keine Sorgen wegen der gemeinsamen Autofahrt machen müssen. Als sie, Morgan und Christian die lange Treppe vom Jet heruntergestiegen waren und das nasse Rollfeld betreten hatten, um sogleich von dem Butler und einem Crewmitglied mit schwarzen Regenschirmen in Empfang genommen zu werden, wurde Leander bereits in einer der schwarzen Limousinen weggebracht, die auf die Ankömmlinge warteten.

»Verdammt«, murmelte Morgan, während sie beobachtete, wie die roten Rücklichter seines Autos in der Nacht verschwanden. Die Reifen ließen den Regen aufspritzen, der sich im Licht der Scheinwerfer in einen Schauer aus regenbogenfarbenen Tropfen verwandelte.

Jenna versuchte, den Druck in ihrer Brust zu ignorieren, als sie zusah, wie der Wagen davonbrauste. Sie holte tief Luft und nahm den dunklen, unvertrauten Geruch von nassem Torf, Heidekraut und Moos, der sich auf ihrer Haut festsetzte, in sich auf. Es war eine Atmosphäre, die zugleich einladend und kühl, vertraut und doch fremd war.

»Nun gut«, sagte Christian. Er stand direkt hinter ihr. »So haben wir zumindest mehr Platz.«

Er schnippte mit den Fingern und warf Jenna ein schnelles, zögerliches Lächeln zu, ehe ein uniformierter Fahrer aus der Limousine sprang. Er eilte um das Auto herum und öffnete eine schwere, schwarze Tür, um dann mit stoischer Miene abzuwarten, bis alle eingestiegen waren.

Christian wies auf die offene Tür. Seine Augen nahmen einen durchdringenden Ausdruck an. »Verehrte Dame«, sagte er. »Bitte nach dir.«

Leander hatte vor der Landung in Sommerley angerufen, um sicherzustellen, dass er einen eigenen Wagen zur Verfügung haben würde, der ihn zurückbrachte. Er nahm an, dass er nach elf Stunden in einem so kleinen Raum – so luxuriös das Flugzeug auf sein mochte – dringend Zeit für sich brauchte. Schließlich war er ständig von Jennas Duft und ihrer ruhigen, angenehmen Stimme umgeben gewesen.

Er hatte recht gehabt.

Müde rieb er sich das Gesicht und ließ dann den Kopf auf das Polster der Limousine sinken. Gott, seine Schläfen pochten vor Schmerz. Die ganze Zeit über seinen Platz nicht zu verlassen und alle Instinkte zu ignorieren, die sich in ihm aufbäumten, hatte ihm derart unangenehme Kopfschmerzen bereitet, dass er befürchtete, sie könnten in eine Migräne übergehen.

Er war es nicht gewöhnt, still zu sitzen. Er war es nicht gewöhnt, nicht das zu bekommen, was er wollte.

Er sah, wie draußen die Nacht in ihren gedämpften Farben vorbeiflog, verschwommen hinter der verregneten Scheibe. Der Fahrer raste mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit über die schmalen Straßen Englands dahin, während Leander überlegte, was ihn an Jenna so faszinierte, so in Bann zog.

Natürlich hatte es andere Frauen gegeben. Viele andere Frauen, wenn er ehrlich war. Seine Jugend hatte er mit dem Studium, Sport und der Traditionslehre seines Stammes verbracht, doch es war stets genug Zeit gewesen, um sich mit einem hübschen, jungen Ding in den Wald zu verziehen und dort anderes zu erkunden.

Und das hatte er auch getan.

Für den Sohn des Alpha, der eines Tages selbst Alpha sein würde, war es nicht schwer gewesen, willige Partnerinnen zu finden. Schöne Frauen mit bräunlichem Teint und lodernden Augen, die ihn schamlos mit stummen Blicken einluden, ihm ihren Körper und manchmal auch ihre Seele darboten. Er kannte die besten Ecken des Waldes und die dunkelsten Verstecke, wo das Gras besonders weich war.

Doch trotz ihrer Leidenschaft und ihrer Schönheit hatte ihn keines dieser sinnlichen Panther-Mädchen seiner Jugend jemals tief berührt. Bisher war er noch nie verliebt gewesen.

Er hatte seine Eltern beobachtet, um herauszufinden, was Liebe bedeutete. Sie waren glücklich miteinander gewesen. Nach fünfunddreißig Jahren Ehe hielten sie noch immer Händchen, küssten sich und sahen sich voller Wärme und Sehnsucht an.

So etwas war typisch für ihre Spezies. Die Ikati waren monogam. Sie verbanden sich für ein Leben. Sobald einmal das Ehegelöbnis in der winzigen Kapelle aus roten Ziegelsteinen in Sommerley gegeben worden war, gab es nichts, was Frau und Mann voneinander trennen konnte. Die Ikati quälten keine Affären, keine Scheidung, keine Midlifecrisis. Nur der Tod trennte sie.

In dieser Hinsicht hatten seine Eltern Glück gehabt. So schrecklich der Unfall auch gewesen war, so hatte er es ihnen doch ermöglicht, gemeinsam dieses Leben zu verlassen. Leander vermutete, dass sein Vater schrecklich gelitten hätte, wenn er den Unfall überlebt hätte und seine Frau nicht. Er stellte sich vor, wie der Alpha durch die leeren Räume in Sommerley gewandert wäre, verloren wie ein Kind, schluchzend und allein.

Im Leben waren sie unzertrennlich gewesen. So schien es zu passen, dass sie auch im Tod unzertrennlich blieben.

Er fasste sich an seinen schmerzhaft pochenden Kopf und drängte den Chauffeur, noch schneller zu fahren. Leander wollte endlich wieder in seinem eigenen Bett liegen. Er musste schlafen, dringend schlafen. Die ständige Sehnsucht, die Jenna in ihm weckte, war zu einer Qual geworden, die ihn messerscharf zu durchtrennen schien, wenn sie in seiner Nähe war. War sie es nicht, wurde die Qual zu einem dumpfen Gefühl der Unzufriedenheit.

Sie war geschmeidig, kühn und stark, unbeschreiblich schön, abenteuerlustig und draufgängerisch – und doch von einer Verletzlichkeit, die ihn zutiefst bewegte. Sie war störrisch und klug, sie war Feuer und Eis, sie war voll weiblicher Geheimnisse. Sie schmeckte nach wilden Rosen und Regen, aber sie gehörte nicht ihm.

Und sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das auch niemals tun würde.

Wieder sackte sein Kopf gegen die Polster. Er presste die Knöchel kurz in die Augenhöhlen und atmete tief durch.

Als sie schließlich vor den riesigen Eisentoren am unteren Ende der langen Einfahrt nach Sommerley anhielten, musste Leander seine Hoffnung aufgeben, schon bald ins Bett zu kommen.

Ein rechteckiges Stück Stoff flatterte oberhalb der linken Steinsäule im Wind. Es war eine rote Flagge – das Zeichen des Rats, dass Gefahr im Verzug war.