15
Morgan sah mit zunehmender Verblüffung zu, wie Leander zum fünften Mal in vier Minuten die ganze Länge der Ostbibliothek entlangtigerte, auf dem Absatz kehrtmachte und wieder zurückging. Endlich blieb er neben einem stark gepolsterten Sessel stehen und ließ sich darauffallen. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub die Finger in seinen Haaren.
Heilige Mutter Gottes, dachte sie fassungslos. Er dreht durch.
Nach allem, was er bereits hinter sich hatte – die schrecklichen Kraft- und Geschicklichkeitstests, mit denen seine Gaben und seine Würdigkeit für den Titel des Alpha festgestellt wurden, die Qualen, die es bedeutete, ein Rudel widerspenstiger und wilder Tiere anzuführen sowie den schockierenden Tod seiner Eltern –, hatte er niemals die Fassung verloren oder sich auch nur andeutungsweise das Ruder aus der Hand nehmen lassen. Selbst denjenigen, die ihm am nächsten standen, zeigte er nie die leiseste Andeutung von Kontrollverlust.
Und jetzt diese … Auflösung. Es war so undenkbar wie die Vorstellung, dass sich die Erde nicht mehr drehen würde.
»Sie wird nicht lange weg sein, Leander. Sie hat ja gar nichts zu essen«, erklärte sie von ihrem Platz am Tisch aus. Sie lehnte sich zurück. Die geschnitzte Rückenlehne bohrte sich in ihre Haut, und sie fühlte sich nervös und angespannt. »Und keine Kleidung. Wie weit soll sie da schon kommen?«
»Und außerdem ist ihr eine Armee der besten Jäger dieser Welt bereits auf den Fersen«, fügte Viscount Weymouth hinzu, der Morgan gegenübersaß. Die beiden tauschten einen Blick miteinander aus, als Leander sich nicht regte. Er starrte auf den Boden und ließ dann ein leises Stöhnen vernehmen – einen Laut, der Morgan einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
Er drehte wirklich durch.
In den drei Tagen seit Jennas Flucht hatte sich die Nachricht ihres Verschwindens – bereits einen Tag nach ihrer lang erwarteten Ankunft – wie ein Lauffeuer in der ganzen Kolonie verbreitet. Die Tochter des begabtesten Alpha und berüchtigtsten Verbrechers ihrer Spezies hatte sich wie ein Geist in Luft aufgelöst.
Ein Geist, der offensichtlich nicht beabsichtigte, jemals wiedergefunden zu werden.
Gemeinsam mit einem Stab seiner begabtesten Wächter hatte Leander jede Ecke und jede Nische von Sommerley durchsucht. Sie waren überall gewesen: in jedem bekannten und weniger bekannte Versteck, in jedem Tal, auf jedem Hügel, auf allen Feldern, entlang des sich windenden Flusses, in allen Teilen des Waldes. Doch nirgendwo hatten sie auch nur den leisesten Anflug ihres Geruchs gefunden, der sie hätte zu ihr leiten können.
Leander war auf Jenna eingestimmt. Er kannte ihren Geruch besser als alle anderen, aber auch er fand nichts von ihr – im Wald und auch nicht in der Nähe der Straße. Keine Spur von Jenna war zurückgeblieben, um ihm die Hoffnung zu lassen, dass sie noch in der Nähe war, dass man sie irgendwie noch dazu überreden könnte, zu bleiben.
»Und was ist, wenn es noch jemanden dort draußen gibt, der nach ihr sucht?« Leander hob den Kopf und starrte durch die Bibliothek. Seine Augen funkelten wild. Um seinen Mund zeigten sich feine Linien, die am Tag zuvor noch nicht da gewesen waren – ein Ausdruck seiner nackten Angst, die er nicht mehr zu verbergen vermochte.
»Sie ist allein, ohne Kleidung, ohne Waffen und ohne Essen. Verletzlicher geht es gar nicht mehr.«
»Wir wissen nicht, ob die Grenzen von Sommerley bereits von den Expurgari durchbrochen wurden, Leander«, beruhigte ihn Viscount Weymouth. Er warf Morgan einen Blick zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nahm die Tasse mit dampfendem, schwarzem Kaffee, die vor ihm stand. »Wir haben noch keinen Beweis dafür. Falls sie in der Gegend sind, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie sich bereits innerhalb der Grenzen befinden. Wir haben so viele Wachen aufgestellt und ein Sicherheitssystem errichtet, das sich nicht leicht überwinden lässt.« Er führte die Tasse an seine Lippen, ohne den Blick von Leander zu lassen. »Ein Eindringling müsste geradezu eingeladen werden, um unsere Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden. Ich bin mir sicher, dass ihr von dieser Seite aus keine Gefahr droht.«
»Zumindest für den Moment«, sagte Christian, der angespannt und finster am anderen Ende des Tisches saß.
Alle Augen richteten sich auf ihn.
Auch er machte einen sehr mitgenommenen Eindruck. Seit drei Tagen trug er das gleiche Hemd und hatte sich während der letzten zwei nicht mehr die Mühe gemacht zu duschen oder sich zu rasieren. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und ließ ein nervöses Seufzen hören.
»Sie kennt diese Wälder noch nicht. Sie kennt Sommerley noch nicht … Sie hat keine Ahnung, wo unsere Grenzen sind. Und wenn sie sich wirklich in Nebel verwandeln kann, wie Leander behauptet …« Er ignorierte Leanders eisigen Blick und fuhr ungerührt fort. »… kann sie einfach davonfliegen, um nie mehr wiederzukommen.«
»Danke, Christian«, sagte Leander. »Das war wirklich hilfreich. Und jetzt halt den Mund.«
»Ich will damit nur sagen«, fuhr Christian fort und wandte sich wieder an den Viscount und Morgan, »dass Jenna nicht nur keinen Grund hat, sich hier niederlassen zu wollen, sondern dass sie vielmehr gute Gründe hat, uns alle zu hassen.« Er warf Leander einen Blick zu, während er sich an die Armlehnen seines Sessels klammerte. »An ihrer Stelle hätte ich das Gleiche getan.«
»Willst du damit andeuten«, fragte Leander mit tödlichem Ernst, »dass es falsch von mir war, ihr die Wahrheit zu sagen?«
Der Viscount räusperte sich und stellte seine Tasse vorsichtig wieder ab. Er beugte sich vor und rückte seine Brille zurecht. »Vielleicht ist es etwas viel gewesen … Und schnell …«
Als Leander die Augen von Christian weg direkt auf ihn richtete, räusperte sich der Viscount erneut. »Sie ist nicht so aufgewachsen wie wir. Es muss ein großer Schock für sie gewesen sein«, fügte er hinzu, wobei in seiner Stimme der Anflug von Ärger mitschwang.
Im Raum breitete sich bleierne Stille aus. Der Warnruf einer Spottdrossel vor den Fenstern stieg laut und durchdringend in die Luft und drang wie eine scharfe Messerklinge zu ihnen in die sonnendurchflutete Bibliothek.
»Wobei ich mir natürlich sicher bin, dass du deine Gründe hattest«, beendete der Viscount dürftig seine Anklage. Auf einmal schien der Kaffee in seiner Tasse von größtem Interesse für ihn zu sein.
»Wir sind auch nicht so wie die anderen«, entgegnete Leander harsch. Seine Augen funkelten, als er sie alle nacheinander musterte. »Wir sind nicht wie die Expurgari oder die Menschen oder die anderen Tiere, die auf dieser Erde wandeln. Wir sind stärker als die anderen, wir stellen uns der Wahrheit. Wir sprechen sie aus. Wir haben Jahrtausende der Verfolgung überlebt. Sie haben uns darum beneidet, stärker als alle anderen zu sein, und ich weiß, dass auch Jenna zu denjenigen gehört, die wissen, wie man überlebt. Ich werde mich nicht auf deren Ebene herablassen und lügen. Wir sind Ikati. Wir stehen über allen anderen, über diesen kleinlichen Streitereien, dieser Habsucht, diesen Lügen.«
»Wohl wahr«, sagte Morgan und musterte ihre perfekt manikürten Nägel. »Du hast völlig recht.« Sie blickte Leander ins Gesicht, und plötzlich ließ Wut ihre Stimme schärfer klingen. »Aber es steht uns nicht zu, jemanden mit guten Absichten und einem unschuldigen Herzen zu unserer Gefangenen zu machen. Auch wenn dieser Jemand das noch nicht ganz verstanden hat. Es steht uns auch nicht zu, Jenna unseren Gesetzen unterwerfen zu wollen. Gesetze, die fremd für sie sind, Gesetze, die ihren Vater das Leben gekostet haben.«
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug ein langes Bein über das andere. »Gesetze, die sie zu einem bloßen Objekt degradieren, wenn sich herausstellt, dass sie zur Fortpflanzung fähig ist. Nein«, sagte sie leise, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Das steht uns wahrhaftig nicht zu.«
»Wir haben das schon oft genug diskutiert, Morgan«, meldete sich der Viscount zu Wort, ehe jemand anderer sprechen konnte. »Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Male, würde ich behaupten.« Er lehnte sich vor. Es war offensichtlich, wie erleichtert er war, dass Leander seine Aufmerksamkeit nicht mehr allein ihm zuwandte. Er begann mit dem Zeigefinger auf dem Tisch zu trommeln – ein Stakkato, mit dem er seine Worte unterstrich.
»Das Gesetz ist nötig, um uns vor der Vernichtung zu retten. Es ist der Anker, der uns im reißenden Fluss der Versuchung Halt gibt, in dem wir sonst untergehen würden. Wenn es nicht die Regeln und Gesetze gäbe, nach denen wir leben, würde man uns viel leichter finden, als man es jetzt schon tut. Wir hätten nicht einmal das erste Jahrtausend überlebt …«
»Das Gesetz bedeutet nichts anderes als Kontrolle und Unterdrückung – vor allem für Frauen. Wenn Jenna auch nur annähernd so klug ist, wie sie zu sein scheint, wird sie alles daransetzen, aus diesem goldenen Käfig zu fliehen …«
»Ob sie es will oder nicht – das hier ist ihr Zuhause, hierher gehört sie …«
Die riesige Holztür am anderen Ende der Bibliothek wurde mit einem solchen Schwung aufgestoßen, dass sie gegen die Wand knallte. Zwei von Leanders Wachen traten mit einem Küchenmädchen, das sie festhielten, ein.
»Vergebt uns, Mylords.« Einer der Männer verbeugte sich, ehe er sich hastig wieder aufrichtete und auf das Mädchen neben ihm wies. Der andere Wächter hielt sie an ihrem Arm fest und schien nicht vorzuhaben, sie loszulassen.
»Wir hielten es für das Beste, wenn Sie gleich davon erfahren.«
»Was ist los?« Leander sprang auf und eilte auf die drei zu. Den Rücken hielt er wie immer kerzengerade. »Hast du etwas gesehen? Hast du etwas gefunden? Jetzt sag schon, Mädchen!«
Der Wächter gab dem Küchenmädchen einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen und wies mit dem Kopf in Leanders Richtung.
Das Mädchen machte einen Knicks und kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
»Ich war in der Küche, Mylord«, begann sie so ängstlich wie eine Maus. Strähnen ihres braunen Haares fielen ihr in die Augen. Sie hatte den Blick zu Boden gerichtet. Ihre kleinen Hände strichen nervös über ihre gestreifte Schürze, ehe sie zitternd die Finger faltete. Sie räusperte sich.
»Ich habe wie jeden Dienstag das Silber geputzt.« Sie zerknüllte die Schürze in ihrer Faust und vermochte vor Nervosität kaum aufrecht stehen zu bleiben. »Es ist ein wunderschönes Silberservice, Mylord. Dazwischen befinden sich winzige Rosen und Rebenranken und kleine Vögel. Ich liebe es, das Silber zu putzen. Es ist wirklich sehr …«
»Verstehe«, sagte Leander. Das Wort fiel wie ein Block aus Zement zu Boden.
Das Küchenmädchen riss vor Schreck der Mund auf. Sie sah ihn bleich und verängstigt an.
»Es ist tatsächlich ein sehr hübsches Service. Es freut mich zu hören, dass du gerne damit arbeitest.« Er blickte auf sie hinab, seine rechte Hand öffnete und schloss sich wie von selbst.
Das Küchenmädchen machte den Mund auf, doch es kam kein Wort heraus.
»Aber vielleicht könntest du uns – wenn möglich rasch – genau erzählen, was du gesehen hast.«
»Nur … Nur das Blut, Sir«, stotterte sie.
Christian sprang mit einer raschen, seltsam steif wirkenden Bewegung von seinem Stuhl auf. Er blieb dabei völlig lautlos. Morgan warf ihm einen Blick zu und sah, dass er regungslos dastand und die Augen starr auf das Mädchen gerichtet hatte.
»Das Blut?«, wiederholte Leander entsetzt. »Wovon um Himmels willen sprichst du? Welches Blut?«
»Kleine Spritzer auf dem Steinboden, Mylord. Ich habe mich hinuntergebeugt, um einen neuen Polierlappen aus einem kleinen Eimer zu holen, den wir in den Schränken neben der Wäsche aufbewahren. Dort ist es sehr ordentlich und sehr sauber, Sir. Die Köchin achtet darauf, dass die Küche und die Wäsche immer perfekt sind. Dort ist es so organisiert wie bei der Armee, Sir. Alles steht immer auf seinem Platz. Man findet immer, wonach man sucht, ob das jetzt Polierlappen oder Handtücher oder Töpfe sind, mit denen das Essen gekocht wird …
»Das BLUT!«, brüllte Christian, der rot angelaufen war. »Was ist mit dem BLUT?«
Der Wächter hielt das Küchenmädchen noch immer am Arm fest, was ihr Glück war, denn sie erschrak so sehr, dass ihr rundes Gesicht kreidebleich wurde und sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
»Christian!«, schnappte Leander. »Es reicht!«
Christian stieß mit dem Absatz seines Stiefels den Stuhl weg, drängte sich an dem Mädchen und den Wachen vorbei und stürmte laut fluchend in den Gang hinaus.
»Was zum Teufel ist in ihn gefahren?«, fragte der Viscount Morgan leise. Seine Finger hatten die zarte Kaffeetasse so fest umfasst, dass Morgan befürchtete, der Henkel würde jeden Moment abbrechen.
»Genau das Gleiche, was in Leander gefahren ist«, erwiderte sie ebenso leise. Sie senkte den Blick, als Leander ihr blitzschnell den Kopf zuwandte. Er starrte sie über die Schulter hinweg mit Augen an, die vor Zorn beinahe schwarz waren.
Einen langen Moment spürte Morgan das Brennen seines Blicks auf ihrem Gesicht. Wenn er nicht so angespannt gewesen wäre, hätte sie diesen Blick direkt erwidert, aber er wirkte so, als ob er jeden Moment platzen würde. Und das machte ihn sehr gefährlich.
Er wandte sich wieder der Küchenmagd zu. »Erzähl weiter, und zwar sofort«, knurrte er.
»Es war Blut auf dem Boden, Sir, in der Wäschekammer«, flüsterte sie verängstigt. »Blut, das durch die Küche, die hintere Treppe hinauf zu den Räumlichkeiten der Dame führte …«
Ehe sie zu Ende sprechen konnte, drängte sich Leander an ihr vorbei zur Tür.
»Leander! Warte!«, rief Morgan. Sie sprang auf und eilte durchs Zimmer, wobei sie sich größte Mühe geben musste, ihn einzuholen. Er befand sich bereits im Gang. Als sie ihn erreichte, wurde er jedoch nicht langsamer, sondern eilte mit steifen Beinen und versteinertem Gesicht den langen Korridor entlang zu der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Morgan musste beinahe im Laufschritt folgen.
»Wenn Jenna zurück und verletzt ist, wird sie sicher nicht dich sehen wollen.« Sie stellte sich vor ihn, als er gerade den Fuß auf die erste Stufe der Treppe setzte.
»Verdammt noch mal, Morgan …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. Sie hielt ihn am Arm fest und funkelte ihn entschlossen an. »Nur dieses eine Mal musst du mir vertrauen. Ich gehe zuerst nach oben. Du kannst mir in ein paar Minuten folgen, wenn du willst. Aber glaub mir … dein Gesicht ist nicht das Erste, was sie hier sehen will. Nicht nach all dem, was bei deiner letzter Unterhaltung mit ihr gesagt wurde.«
»Aber wenn sie blutet, wenn sie verletzt ist …«
»Dann werde ich sofort kommen und dich holen.«
Morgan spürte durch den Stoff seines Hemds, wie er am ganzen Körper bebte. Die Anspannung ließ seine Muskeln hart werden, bereit, in Aktion zu treten. Er wirkte so nervös, dass sie befürchtete, er könnte sich unter ihrer Hand in einen Panther verwandeln und die Treppe hinaufjagen.
»Nur ein paar Minuten«, sagte Morgan sanfter. Ihr wurde klar, dass Leander fast jenseits aller Vernunft war. Seine Augen, die unwirklich grün funkelten, waren auf den oberen Treppenabsatz gerichtet, von wo aus man durch einen weiteren, langen Korridor zu Jennas Räumen gelangte. »Ich gehe zuerst hinein«, wiederholte sie. »Lass mich Jenna zuerst sehen. Du kannst direkt vor der Tür warten.«
Er zögerte. Sein Atem kam in kurzen Stößen, während er die Treppe hinaufsah. Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme so harsch, als ob sie durch stille Schreie heiser geworden war. »Du hast eine Minute, ehe ich die Tür einschlage.«
Er drehte sich zu Morgan, und sie konnte sehen, wie schwer ihm selbst dieses kleine Zugeständnis fiel. »Eine Minute. Ich bleibe direkt hinter dir. Los.«
Er gab ihr einen Schubs nach vorne.
Morgan musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er ihr folgte. Sie spürte ihn direkt hinter sich, mehr Tier als Mensch. Das Blut rauschte durch seine Adern, und sein Herz pochte wie wild.