13

Jenna entschuldigte sich mehrmals für ihre Ungeschicklichkeit. Daria winkte mit einer eleganten Handbewegung ab und warf ihrem Bruder über Jennas gestammelte Erklärungen hinweg einen scharfen Blick zu. »Deine Überraschung ist völlig verständlich, Jenna. Ich wusste ja nicht, dass man dir noch nichts davon erzählt hat. Eigentlich nahm ich an, dass Leander dir alles dargelegt haben würde, ehe du hier eingetroffen bist.«

Sie sah zu, wie der Diener die letzten Splitter des Kristallglases auf eine Blechschaufel kehrte und dann hinter einer Tür verschwand. Nun richtete sie ihren Blick wieder auf Jenna. »Außerdem ist es nur ein Glas.« Sie lächelte und schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich muss leider gehen. Mein Mann Kenneth macht sich Sorgen, wenn ich zu lange verschwunden bin. Vor allem jetzt …«

Leander erhob sich ebenfalls und reichte seiner Schwester die Hand, als diese in einer elegant fließenden Bewegung ihrer schlanken Gliedmaßen mit raschelndem Rock aufstand.

»Tölpel«, murmelte sie leise, als sie seine Hand mit einem kühlen Lächeln nahm.

»Merci«, erwiderte Leander ebenso leise und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er wusste, dass keine der beiden Frauen erfreut sein würde, wenn er sich jetzt ein Lächeln gestattete.

Er jedoch war es. Erfreut.

Wenn auch auf eine armselige Art und Weise. Es befriedigte ihn immens, dass Jenna endlich irgendeine Reaktion gezeigt hatte. Zugleich quälte es ihn, als er das Leid in ihren Augen bemerkte, nachdem sie das Porträt ihres Vaters erkannt hatte. Er hatte nur vorgehabt, sie so weit aus der Reserve zu locken, dass er einen Blick unter die eisige Oberfläche werfen konnte, die sie ihm präsentierte. Deshalb hatte er diesen Raum ganz bewusst für ihr gemeinsames Frühstück gewählt.

Doch jetzt wirkte sie völlig desorientiert und erschüttert. Sie starrte wie ein entsetztes Kaninchen auf die Schlange. Wie ein Kaninchen, das jeden Augenblick im Schlund dieser Schlange verschwinden würde.

»Dann verlasse ich euch beide jetzt«, murmelte Daria und wandte sich zum Gehen, wobei sie ihn noch immer aus dem Augenwinkel beobachtete.

Seine ältere Schwester hatte stets den ausgeprägtesten Gerechtigkeitssinn der drei besessen. Sie hatte immer darauf bestanden, dass es in ihren Spielen fair zuging, dass sie sich gerecht verhielten, selbst wenn das bedeutete, einen Vorteil zu verlieren. Sie war liebenswert und zutiefst freundlich, wie das schon ihre Mutter gewesen war.

Jetzt drehte sie sich noch einmal zu Jenna um und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Jenna. Ich hoffe, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen können, sobald sich der Rat der Alpha zusammengefunden hat.«

»Der Rat der Alpha?«, wiederholte Jenna. Sie betrachtete den Tisch, das Essen und die Diener, die an der Wand standen. Doch Leander sah sie nicht an, und sie hatte offenbar auch nicht vor, noch einmal das Porträt ihres Vaters zu betrachten. Daria holte tief Luft, ehe sie sprach. »Offensichtlich hast du viel mit Jenna zu besprechen, Leander. Versuch diesmal, nichts zu vergessen«, sagte sie. Ihre blassen Augen schimmerten wie Eis, obwohl sie lächelte.

Nun wandte sie sich endgültig zum Gehen. Sie schritt an den Wandteppichen, den Lakaien und den Gemälden vorbei, und ihr Duft nach Teerosen und Handcreme hing noch eine Weile in der Luft. Sie hielt den Kopf ein wenig steif und schräg, was Leander zeigte, dass sie später noch ein Hühnchen mit ihm rupfen würde.

Jetzt wandte er sich an Jenna, die noch immer auf ihrem Stuhl saß, rosig, golden und voll verträumter Traurigkeit. Ihre perfekte, aufrechte Haltung schien etwas ins Wanken geraten zu sein.

Daria hat recht, dachte er und fühlte sich plötzlich schuldig. Ich bin ein Tölpel.

»Wie wäre es mit einem Spaziergang im Garten?«, schlug er abrupt vor und warf seine Serviette auf den Tisch. »Es ist ein wunderschöner Morgen. Vielleicht möchtest du etwas nach draußen gehen?«

»Draußen …«, murmelte sie und riss sich aus ihrer Betrachtung der kernlosen Traube, die sie zwischen den Fingern hielt. Sie ließ sie auf ihren Teller fallen und stand ruckartig auf, sodass der Stuhl über den Parkettboden kratzte.

Jetzt blinzelte sie Leander an. Endlich schien sie wieder bei sich zu sein. »Ja. Draußen wäre … besser.«

Während sie durch das Labyrinth aus Korridoren gingen, das von der Galerie zu den Glastüren am hinteren Ende des Landsitzes führte, sagte Jenna kein Wort. Sie lief nur anmutig neben ihm her und ignorierte die heimlichen, neugierigen Blicke der Bediensteten, an denen sie vorbeikamen.

Obwohl alle den Kopf gesenkt hielten und ausdruckslose Mienen an den Tag legten, war doch ein großes Interesse an Jenna deutlich spürbar.

Alle aus Sommerley hatten ihre Ankunft inzwischen gespürt. Sie war neu und anders und mächtig. Selbst die Bediensteten redeten und tratschten über sie. Jeder wusste, wer sie war und warum sie hier war. Leander vermochte sie nicht daran zu hindern, Jenna anzusehen und ihr mit den Blicken zu folgen, ganz gleich, wie finster er die Diener auch musterte.

Zweimal spürte er, dass sich Jennas Augen auf ihn richteten. Doch als er sich ihr zuwandte, hatte sie bereits wieder den Blick gesenkt.

Sie traten durch die Glastüren nach draußen. In der kühlen, taufrischen Morgenluft klangen ihre Schritte leicht auf den Marmorplatten der Terrasse. Er blickte in den Himmel und sah die weißen und lavendelblauen Wolken, die dort wie Schafswolle ohne die Last eines Regens dahinzogen. Ein Schwarm Stare zog am Horizont vorbei, silbergrau und schwarz erhob er sich von den Baumwipfeln und funkelte wie Quecksilber im Licht der Morgensonne.

Es fühlte sich verdammt gut an, die frische Luft zu atmen. Die ganze Nacht über war er in der Bibliothek eingesperrt gewesen und hatte mit mehr als einem Dutzend anderer angespannter Männer, die dringend Schlaf benötigten, über Strategien und logistische Fragen diskutiert. Die Luft im Raum war abgestanden und unangenehm feucht gewesen.

Leander hatte Wachen an den Grenzen ihres Territoriums aufgestellt. Einige, die sich in Nebel verwandeln konnten, schwebten als kleine Wolken über dem Boden und patrouillierten jeweils zu zweit zusammen mit Dutzenden geschmeidiger, tödlicher Panther im Wald und in der Umgebung. Seine Befehle waren eindeutig.

Wenn ihr irgendjemanden entdeckt, irgendjemanden, der kein Ikati ist, dann tötet ihn.

Er warf Jenna einen Blick zu. Er durfte kein Risiko eingehen. Jetzt erst recht nicht.

Sie trug ein ärmelloses Kleid aus roséfarbener Baumwolle, das bis zu den Knien reichte und ihre schlanke Taille betonte. Es war eines der Kleidungsstücke, die Morgan für Jenna ausgesucht hatte. Das Kleid war feminin und weich und verlieh ihren elfenbeinfarbenen Wangen eine gewisse Farbe.

Er musste an Zuckerwatte und handgerührtes Erdbeereis und an viele andere rosafarbene und leckere Dinge denken, die er am liebsten auf der Zunge geschmeckt hätte.

»Bin ich der erste Mensch, der jemals hierhergekommen ist?«, fragte Jenna. Zwei Hausmädchen erstarrten, die gerade dabei gewesen waren, Körbe voller scharlachroter und violetter Blumen zu wässern. Sie machten mehrere Knickse, ehe sie mit großen Augen und aufgeregt flüsternd durch die Glastüren verschwanden, durch die Jenna und Leander gerade ins Freie getreten waren.

»Du bist kein Mensch«, verbesserte sie Leander. »Du bist ein Halbblut. Das ist etwas ganz anderes.« Sie liefen einige Marmorstufen hinunter, die von der Säulenhalle auf die großen Rasenflächen des Gartens führten. Die Luft um sie herum duftete süß und war schwer vor Feuchtigkeit. Hier roch es nach Rosmarin und Gartenrosen und nicht nach dem Smog, der in Los Angeles seine Lungen gefüllt hatte.

»Aber alle anderen hier sind wie du.«

Er neigte den Kopf.

»Wie kann man dann entscheiden, wer die Zügel in der Hand hat? Wie entscheidet man, wer ein Diener ist und wer dem Rat beitreten darf?«

»Als wir uns vor vielen Generationen hier niederließen, wurde jedem eine besondere Aufgabe zugeteilt – je nach Begabung. Die Begabten wurden zu Mitgliedern des Rats, die am wenigsten Begabten wurden Diener. Dazwischen gab es ein Dutzend hierarchisch strukturierte Ebenen. So ist es seitdem mehr oder weniger geblieben. Viele der Hausmädchen, Köche und Lakaien, die jetzt hier sind, hatten bereits Urgroßeltern, die meine Urgroßeltern bedienten.«

»Und vermutlich gibt es niemanden, der frei wählen darf. Das Wort des Alpha ist Gesetz, oder?«

Leanders Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wir haben hier keine Demokratie.«

»Habe ich auch schon gehört«, erwiderte sie düster, ohne jedoch noch etwas hinzuzufügen.

Er fragte sich, was Morgan ihr wohl auf der Fahrt vom Flughafen erzählt hatte. Vermutlich nichts Gutes.

Er blieb neben einer niedrigen Hecke aus Rosmarin stehen und drehte sich zu Jenna um. »Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.«

»Noch etwas? Nur das eine?«, erwiderte sie und blickte auf den Wald, der hinter den Hügeln und Tälern begann, welche vor ihr lagen. Nur wenige Schritte nach den Bäumen wurde es so dunkel wie am frühen Morgen. »Wie beruhigend. Ich hatte schon gedacht, dass es mehr als eine Sache gibt, die ich noch wissen müsste. Wenn es natürlich nur noch eines gibt, dann finde ich das sehr erleichternd.«

Er seufzte.

Sie sah ihn an und lächelte. Ihre grünen Augen schimmerten hell. »Wie schlimm kann es denn schon sein, wenn es nur noch eine kleine Sache ist.«

Er betrachtete sie. Sie war erstaunlich widerstandsfähig – eine Frau mit eisernem Willen, die etwa so stark aussah wie eine Marzipanrose.

Aber sie musste ihr Leben lang tough sein, dachte er plötzlich. Ihr blieb gar nichts anderes übrig.

»Die Ikati werden angegriffen«, sagte er und verlor sich in ihrer milchweißen Haut, den eleganten Linien ihres Halses und der sanften Wölbung ihrer Brust. Sie wirkte so taufrisch wie der Morgen, schimmernd wie eine Perle im Sonnenlicht. »Jedenfalls haben wir triftige Gründe, das anzunehmen.«

»Angegriffen?«, wiederholte Jenna überraschend gelassen. Sie musterte ihn einen Moment lang von Kopf bis Fuß, ehe sie sich wieder dem dunklen Wald in der Ferne zuwandte. »Nun, das muss aber sehr unangenehm für dich sein. Ich weiß doch, wie ungern du dich verteidigst.«

Er schaute weg und stand einen Augenblick lang regungslos da, die Hände hinter dem Rücken verborgen.

Eine Weile sprach keiner der beiden ein Wort.

»Das stimmt«, sagte er schließlich leise und ohne einen Anflug von Ironie. »Das trifft mehr zu, als du ahnst, Jenna. Ich bin dazu erzogen worden, mein Leben lang der Gewinner zu sein. Man erwartet von mir, dass ich führe und Entscheidungen treffe, dass ich gewinne. Ich nehme weder meine Verantwortung noch meine Stellung auf die leichte Schulter. Das kann ich gar nicht. Ich bin der Alpha. Unmengen von Leuten hängen von mir ab – Frauen, Kinder und Familien, die ich um jeden Preis beschützen muss. Es ist eine privilegierte Position, aber auch eine große Last, weil ich niemanden habe, mit dem ich sie teilen kann. Es gibt niemanden, der versteht, wie sehr ich mich vor dem Verlieren fürchte. Wenn ich scheitere, dann scheitern die Ikati. Wenn ich verliere …«

Er drehte sich zu ihr. »Dann verlieren wir alle.«

»Verlieren«, wiederholte sie und blickte erneut in Richtung des Waldes, den Blick verschwommen. Das morgendliche Licht schimmerte auf ihren hohen Wangenknochen und spielte mit den Spitzen ihrer langen Wimpern, die dadurch golden wirkten. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf Leander, um ihn aufmerksam zu mustern. »Ich frage mich, ob jemand wie du tatsächlich weiß, was Verlieren wirklich bedeutet.«

»Wir alle haben Dinge, die wir nicht verlieren möchten, Jenna. Selbst ich. Vor allem ich. Mein Volk ist in Gefahr, unsere Art zu leben ist in Gefahr.« Er kam einen Schritt näher und sog den sanften Duft des Taus und der Rosen ein, der ihr auf der Haut hing. »Du bist in Gefahr«, fügte er mit heiserer Stimme hinzu. »Und das ist etwas, was ich nicht hinnehmen werde.«

Jenna protestierte nicht. Sie wich auch nicht zurück, wie er das erwartet hatte. Sie akzeptierte seine Nähe vielmehr ohne Kommentar und ohne Regung. Aber sie senkte auch den Kopf und sah zu Boden.

»Du hast recht«, murmelte sie. »Wir haben alle Dinge, die wir nicht verlieren wollen.« Ihre Wangen röteten sich. »Dinge wie Glauben, Vertrauen, Hoffnung – alles, das uns als wichtig beigebracht wurde. All diese Rettungsanker wie Ritter auf weißen Schimmeln. Wie eine zweite Chance.« Sie senkte die Stimme, sodass sie kaum lauter als ein Flüstern war. Dennoch hörte er die Traurigkeit, die darin lag. »Wie wahre Liebe. Und was die Gefahr betrifft …« Langsam blickte sie auf und sah ihm ins Gesicht.

Leander hörte alles um sie herum in einem Umkreis von dreißig Kilometern: Das Flüstern des Windes in den Bäumen, das Plätschern des Flusses Avon, wie er über Felsen und polierte Steine floss, die Vögel im Himmel, die Eichhörnchen im Wald, die Maulwürfe tief in ihren Bauten unter der Erde.

Doch am lautesten hörte er Jennas Herz. Es schlug stark und wahrhaftig, erfüllt von einem heiß wallenden Blut. Es war ein Pochen und Hämmern, das ihn so sehr in Bann zog, dass er am liebsten sein Leben lang nur noch diesem Geräusch gelauscht hätte.

All seine Sorgen um sein Volk, all sein Zorn über seine Feinde schienen dahinzuschmelzen, und statt ihrer gab es nur noch Jenna. Den Schlag ihres Herzens. Die kühle Umarmung des Morgens, den sie mit ihm teilte.

»Ich habe keine Angst vor Gefahr«, sagte sie. »Sonst wäre ich niemals mit dir hierhergekommen. Wovor ich Angst habe … Es ist etwas, was nur du mir geben kannst, Leander, und ich hoffe …« Sie schloss die Augen. »Obwohl ich weiß, dass es wehtun wird, hoffe ich inbrünstig, dass du mir gibst, was ich will.« Sie schlug die Augen wieder auf und sah ihn voll sehnsüchtiger Verletzlichkeit an.

Er stand wie gebannt da. Ein Windhauch spielte mit einer Locke ihres goldenen Haares und blies sie sanft über ihre Schulter.

»Alles, was du wünschst«, murmelte er wie benommen. Sein Herz verkrampfte sich auf einmal vor Angst. Ich würde dir alles geben, nur damit du mich eine Sekunde länger so ansiehst.

»Ich will die Wahrheit«, sagte sie entschlossen. »Alles, was du mir bisher nicht sagen wolltest. Genau das will ich hören. Und ich will es jetzt hören.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Das rauchig süße Timbre ihrer Stimme war wie Satin in seinen Ohren. Er vermochte kaum zu atmen, so sehr hatte ihn ihre Schönheit und seine Sehnsucht nach ihr erfasst.

»Die Wahrheit«, wiederholte er noch immer benommen. Er versuchte, sich auf ihre Worte zu konzentrieren.

Sie klang jetzt sehr ruhig. »Was ist mit meinem Vater passiert?«

»Dein Vater wurde …« Er wurde hingerichtet, hätte Leander beinahe gesagt. Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Zunge. Das wollte er ihr nicht antun. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, sprach er weiter. »Dein Vater war ein bewundernswerter Mann.«

Ihre Augen weiteten sich. »Du kanntest ihn?«, fragte sie ungläubig.

»Jeder Ikati auf der ganzen Welt kannte ihn. Er war eine Legende.«

Er sah, wie überrascht sie war, und wie sie versuchte, diese Überraschung vor ihm zu verbergen. »Weil er der Alpha war.« Sie runzelte die Stirn und begann auf ihrer Unterlippe herumzukauen. Er hätte am liebsten mit dem Finger über ihren Mund gestrichen, mit seiner Zunge ihre Unterlippe befreit.

»Weil er der mächtigste Anführer war, den unsere Spezies jemals gehabt hatte. Noch nie zuvor hatte es jemanden mit solchen Begabungen gegeben.«

Leander blickte zu dem riesigen, uralten Wald hinüber, wo seine Wachen die Grenzen abliefen und wo die Bäume rauchblau in der Morgensonne schimmerten. »Und wegen seines Opfers.«

»Wegen seines Opfers«, sagte sie, wobei er das Beben in ihrer Stimme hörte. »Welches Opfer?«

Leander spürte ihren Blick, ohne dass er sie ansah. Er spürte, wie ihr Körper steif und regungslos wurde, und er hörte, dass ihr Herz einen Moment lang aussetzte. Sie war schön und so wertvoll. Sie kannte die Welt der Ikati und Sommerley noch nicht, auch wenn er vorhatte, sie für immer hierzubehalten. Für immer an seiner Seite.

Er wollte sie nicht verletzen.

Deshalb vermochte er ihr nicht zu sagen, dass er zugesehen hatte, wie ihr Vater starb – ebenso wie es sein Vater, sein Bruder und alle anderen Alpha ihrer Spezies auf der ganzen Welt, jeder Ikati seiner Kolonie getan hatte. Er konnte diesem Wesen, das ihn so aufmerksam und hinreißend ansah, nicht erklären, wie er entsetzt und hilflos dagestanden und beobachtet hatte, was Rylan Moore angetan wurde. Wie der Alpha durch die Entscheidung des Rats als Beispiel für jemanden dienen sollte, der die Gesetze gebrochen hatte. Der Rat wollte allen demonstrieren, wie so jemand behandelt wurde, und jeder sollte sehen, was es bedeutete, das herzlose, ewig gleiche Gesetz der Ikati zu brechen.

Es war kein schneller Tod gewesen und auch kein barmherziger. Die Expurgari wären vermutlich höchst begeistert gewesen, wenn sie gesehen hätten, was man dem in Ungnade gefallenen Alpha angetan hatte.

»Das Gesetz der Ikati ist unabänderlich, Jenna«, sagte Leander leise und vermied es, sie anzusehen. »Man muss dem Gesetz gehorchen. Und dem Willen des Rats. Das ist, was uns zusammenhält, was es uns ermöglicht, in einer Welt zu überleben, die uns zerstören, vernichten möchte. Ganz gleich, welche Stellung ein Ikati innehat, der das Gesetz bricht. Ganz gleich, um welche Art von Gesetzesbruch es sich handelt – es folgt immer die Strafe auf den Fuß.«

»Strafe?«, flüsterte sie. Sie wich einen Schritt zurück.

»Es ist verboten, einen Menschen zu heiraten«, sagte er und beobachtete sie dabei aufmerksam. »Es ist verboten, ein Kind mit einem Menschen zu zeugen. Die Strafe dafür ist …« Der Tod. »Gefängnis.«

»Gefängnis«, wiederholte sie. Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Kindes. »Für wie lange?«

»Für immer«, erwiderte er schlicht.

Sie versuchte das zu verdauen. Zwei rote Flecken zeigten sich auf ihren Wangen. Sie sah ihn mit leicht geöffneten Lippen an. Das Sonnenlicht spielte mit ihren Haaren.

»Für ihn dauerte es allerdings nicht lange«, fuhr er fort, da sie weder sprach noch sich bewegte. Er musste etwas tun, um sich davon abzuhalten, sie in seine Arme zu ziehen. »Er verweigerte jegliche Nahrung, jegliches Wasser. Er weigerte sich … eingesperrt zu sein.«

Das stimmte. Leander konnte Rylan noch vor seinem inneren Auge sehen, wie er in Ketten gelegt und mit trotzigem Gesichtsausdruck kurz vor dem Tod seinen Vater und den ganzen Rat anschrie, dass sie zur Hölle fahren könnten. Er würde nichts ändern, selbst wenn er noch einmal die Gelegenheit haben würde.

Leander war damals im schwierigen Alter von achtzehn Jahren gewesen und hatte bereits gewusst, dass er eines Tages seinem Vater als Alpha folgen würde. Rylan hatte einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen, und er hatte sich oft in den darauffolgenden Jahren gefragt, was es für ein Gefühl war, eine Frau derart zu lieben, dass man bereit war, sein eigenes Leben hinzugeben, nur um sie zu schützen.

Schockartig, als ob er nackt in einen Weiher eiskalten Wassers gestoßen worden wäre, erkannte er, dass er das endlich zu begreifen begann.

»Deswegen waren wir also immer auf der Flucht«, sagte Jenna mit zitternder Stimme, die ein wenig schrill klang. »Weil ihre Liebe verboten war. Weil ich verboten war.« Sie räusperte sich, und die rosa Flecken auf ihren Wangen wurden dunkler, während das Blut zugleich überall sonst aus ihr zu weichen schien. Sie wirkte bleich wie ein Gespenst. »Du willst mir also sagen, dass wir die ganze Zeit, jeden Tag meiner Kindheit, damit beschäftigt waren, vor dir wegzurennen?«

Leander hatte einige Erfahrungen mit Frauen gemacht. Also wusste er, nach dem Ton ihrer Stimme und dem Blick in ihren Augen zu urteilen, dass er jetzt sagen konnte, was er wollte – es wäre nie die richtige Antwort gewesen. Nichts, was er sagen könnte, konnte ihr in ihrem Leid helfen. Nichts würde sie auffangen oder ihr das geben, was sie brauchte.

Also nahm er seinen momentanen Kontrollverlust als etwas Unausweichliches hin – wie eine bittere Pille, die er schlucken musste – und sprach die Wahrheit.

»Dein Vater war ein sehr mutiger Mann, ein Mann, den ich bewundert habe. Ein stolzer Mann mit Werten. Ein Mann, dem man Ehre gebieten musste. Es gefiel mir nicht, was man ihm antat. Aber ich war damals noch jung und machtlos. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Und das Gesetz ist gnadenlos. Was dein Vater getan hat, war verboten. Wenn wir auch nur eine Ausnahme gestatten, riskieren wir, dass unsere Art zu leben, unsere Existenz zerstört wird. Das ist unser Dasein. Wir müssen im Geheimen leben. Wir müssen zusammenbleiben. Wir müssen dem Gesetz gehorchen.«

Er holte tief und langsam Luft »Oder wir müssen sterben.«

Sie starrte ihn an. Ihre Lippen standen noch immer leicht offen, als ob sie etwas Hartes im Mund hätte, das sie nicht herunterzuschlucken vermochte. Er hatte das Gefühl, dass sie unter einem unglaublichen Druck stand, als ob sich ihre Haut über ihren Muskeln und Knochen enger zusammenziehen würde. Als ob sie eine unsichtbare Rüstung anlegte.

Ihre Augen wurden schmaler. »Er wurde nicht nur eingesperrt. Nicht wahr, Leander? Er starb keines natürlichen Todes.«

Er wollte lügen. Mein Gott, wie sehr er sie anlügen wollte, aber er konnte es nicht.

»Nein.«

Ihr Körper erstarrte zu völliger Regungslosigkeit. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen. »Sag es. Sag es einfach. Erzähl mir, was passiert ist.«

»Jenna …«

»Sag es!«, zischte sie ihn an.

Der Ausdruck in ihrem Gesicht schmerzte ihn so sehr, als ob er mit einem Schwert durchbohrt worden wäre. Einen Augenblick überlegte er, wog ab. Er wusste, dass er damit sein Schicksal besiegeln würde. Danach würde sie ihn wirklich hassen. Aber sie verdiente es, die Wahrheit zu kennen. Wenn die Wahrheit alles war, was er ihr jemals geben konnte, selbst wenn es bedeutete, dass sie nie mehr mit ihm sprechen würde, dann sollte das so sein.

»Er wurde hingerichtet«, sagte er leise, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Nasenflügel bebten, doch sie sprach weder ein Wort noch bewegte sie sich. Sie wartete darauf, dass er fortfahren würde, und beobachtete ihn dabei aus diesen riesigen, schönen Augen. »Man hat … Man hat zuerst andere Dinge mit ihm gemacht. Aber schließlich …«

»Schließlich?«, hakte sie nach, als er abbrach.

Er wollte sie an sich ziehen und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben. Er wollte sie um Vergebung bitten, um die Chance, es irgendwie wieder besser zu machen. Doch das war nur ein eitler Wunsch. Das wusste er. Er holte tief Luft und wappnete sich vor dem, was jetzt kommen würde.

»Ein Vollblut-Ikati kann für immer seine Tierform behalten, wenn er das will. Denn tief im Inneren sind wir das: Tiere. Das ist unser wahres Wesen. Unsere menschliche Form ist nur eine Verkleidung, eine clevere Anpassung, die es uns gestattet, Seite an Seite mit unseren Feinden zu existieren – die es uns gestattet zu überleben. Wir können unsere Form als Mensch oder auch als Nebel hingegen nur eine Weile behalten.« Er holte erneut tief Luft und überlegte, welche Worte er als Nächstes wählen sollte. »Tage, vielleicht Wochen, wenn man stark genug ist. Aber irgendwann muss man sich wieder zurückverwandeln. Und wenn man das tut …«

Er stand hilflos da und führte einen inneren Kampf mit sich aus, während er sich erinnerte.

»Obwohl man ihm verboten hatte, es zu tun, verwandelte sich dein Vater in Nebel, um die Schmerzen zu ertragen, die er auf einer Foltermaschine zu erleiden hatte. Man nennt sie Furiant.«

Jenna gab einen leisen, entsetzten Laut von sich. Jetzt war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Sie presste eine zitternde Hand vor den Mund.

»Man fing ihn als Nebel ein und steckte ihn in eine Kiste. Es war eine spezielle Stahlkiste, die sich verschloss, sobald dein Vater drin war. Er konnte nicht mehr entkommen.« Seine letzten Worte waren beinahe ein Flüstern. »Es war eine sehr kleine Kiste.«

Ihre Lippen öffneten sich. Er sah, wie ihr Puls in ihren Schläfen pochte. »Als er sich schließlich zurückverwandeln musste …«

Weitere Erklärungen waren nicht nötig, doch Leander nickte trotzdem.

Jenna trat einen Schritt zurück und stand da, noch immer eine Hand auf den Mund gepresst, die andere nun auf ihrem Herzen. Sie starrte ihn wankend an. Ihre Augen schimmerten feucht vor Tränen. Sie brauchte mehrere Minuten, ehe sie sprach.

»Weißt du, was ich glaube?«

Ihr Ton klang so kalt, dass er fast die Eiszapfen sehen konnte, die sich um ihre Worte gebildet zu haben schienen und nun in Abertausenden von Splittern auf den Boden zu ihren Füßen zerschellten.

»Nein.«

»Ich glaube, dass es vielleicht besser ist zu sterben, als so zu leben, wie ihr es tut«, fuhr sie ihn an. Ihre Augen leuchteten unheimlich in ihrem bleichen Gesicht. Sie wirkte wie versteinert. »Sich wie Flüchtlinge zu verstecken, eingesperrt in diesem goldenen Käfig.« Mit einer ausladenden Geste wies sie auf die Umgebung – die weiten Rasenflächen, die Gärten, den nebligen Wald und das riesige Haus hinter ihnen. »Sich gegeneinanderzustellen, auf diese grauenvolle, grausame Weise, nur um diesem absurden Gesetz gerecht zu werden. Ich finde es zum Kotzen. Ich finde dich zum Kotzen!«

Unter seinem Schlüsselbein breitete sich auf einmal ein Schmerz aus, als ob ein Nagel in ihn geschlagen wurde. Er machte zwei Schritte auf sie zu, um ihr näher zu sein. »Jenna …«

»Nein«, sagte sie, holte zitternd Luft und wich zurück. »Wag es ja nicht.«

Jenna verwandelte sich in Nebel, als er die Hand nach ihrem Arm ausstreckte, sodass er ins Leere griff. Hilflos beobachtete er, wie ihr Baumwollkleid zu Boden glitt. Einer zurückgelassenen, gespenstischen Hülle gleich lag der rosafarbene Stoff stumm und voller Trauer auf dem taufeuchten Gras.