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»Sie sieht jedenfalls entzückend aus, Leander. Wenn auch etwas aus dem Gleichgewicht. Bist du dir sicher, dass wir die richtige Blondine erwischt haben?«
Leander drehte sich nicht um, als sein jüngerer Bruder Christian ihn so amüsiert ansprach. Er bewegte sich nicht, blinzelte nicht oder zeigte auf irgendeine andere Weise, dass er ihn gehört hatte. Er starrte nur mit fiebrigen Augen und leicht geröteten Wangen über den Parkplatz hinweg durch die Türen des Supermarkts, wo sich eine kleine Menge um die schlanke Frau versammelt hatte, die jetzt bewusstlos auf dem Boden lag.
»Das ist sie«, erwiderte Leander mit einer Ruhe, die verbarg, wie heftig das Herz in seiner Brust schlug. »Ich weiß, dass sie es ist.«
Er hatte es vom ersten Moment an gewusst, als er sie erblickt hatte. Nicht nur wegen der Augen, sondern auch wegen ihres Geruchs. Sie roch nach Jugend, nach Kraft und nach weiblicher Hitze. Und sie roch nach etwas Ungreifbarem – schön, dunkel und geheimnisvoll, der typische Geruch ihrer Spezies. Sie strahlte eine sinnliche Mischung aus Waldboden, Kräutern und Regen, aus frischer Luft, Moschus und Mondlicht aus.
Niemand besaß eine derart starke Sinneswahrnehmung wie Leander. Sie gehörte zu seinen Gaben, wenn sie auch nicht seine am stärksten ausgeprägte war. Er hatte einen Großteil seines Lebens damit verbracht, die Gerüche, Geräusche, Empfindungen und Erschütterungen in den Griff zu bekommen, die ihn täglich zu überwältigen drohten. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, wie er einen Großteil des Chaos ausblendete und wie er das ausfilterte, was er nicht aufnehmen wollte. Doch diesmal hatte er all seine Sinne geöffnet, um sie in sich einzusaugen. Der Geschmack ihrer Haut war auf seiner Zunge zurückgeblieben. Jeder Nerv in seinem Körper spürte sie. Jede seiner Poren war voll von ihr. Vor Verlangen war ihm fast schwindlig.
»Mein Gott!«, ertönte eine weibliche Stimme neben Leander. Es folgte ein theatralisches Seufzen und dann das Geräusch von Lederstiefeln auf heißem Asphalt. Ohne hinzuschauen wusste Leander, dass es sich bei den Stiefeln um italienische Designerware handelte und sie absurd teuer gewesen sein mussten. »Das soll sie sein? Diese schlappe Tussi? Dieses Schneewittchen ohne Rückgrat?«
»Morgan«, mahnte Christian leise. Leander brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass ihr Christian einen warnenden Blick hinter seinem Rücken zuwarf. Er gestattete sich ein kurzes Lächeln.
Als Alpha genoss Leander nicht nur den höchsten Rang und den dazugehörigen Status in seiner Kolonie, sondern man zollte ihm auch für seine sehr seltenen, stark ausgeprägten Gaben Respekt – Gaben, die die Frau, der nun von einem riesigen, schwitzenden Gorilla von einem Mann aufgeholfen wurde, möglicherweise ebenfalls besaß.
Was sie allerdings nicht wusste. Noch nicht.
Sie waren hier, um herauszufinden, ob sie solche Gaben besaß. Wenn sie es tat, würde man sie nach Sommerley bringen, wo sie ihren Platz in der Kolonie einnehmen sollte. Wenn nicht …
Leander wollte sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie keine Anzeichen der Gaben zeigte. Nicht, nachdem er sie gespürt hatte – nachdem er sie gesehen hatte.
Obwohl sie alle schön waren – selbst der am wenigsten Begabte unter ihnen –, spielte Jenna doch in einer ganz anderen Liga. Eine exotische Nymphe voller Eleganz, Kraft und Glanz, ganz und gar weibliche Kurven, schimmernde Haut und ein Übermaß an Kraft. Er ahnte die schlummernde Energie in ihr, als ob sie mit einer Hand über seine Haut streichen würde, obwohl sie sich viele Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite des Parkplatzes befand.
»Und jetzt?«, fragte Morgan in einem etwas zivilisierteren Ton. Dennoch konnte er ihre Irritation wie eine wütende Biene unter seiner Haut spüren.
Widerstrebend wandte Leander den Blick von dem Mädchen ab und sah in Morgans ungeduldige Augen. Sie trug ein derart enges Outfit, dass ihre Figur wie von einer zweiten Haut umhüllt war. Genau diesen Effekt wollte sie auch erzielen. Das wusste er.
Wenn sie eines wollte, dann provozieren.
»Jetzt warten wir«, erwiderte Leander gelassen. »Es ist nur noch eine Woche. Jetzt, da wir sie gefunden haben, lassen wir uns Zeit. Und warten.«
»Und was sollen wir währenddessen tun?«, entgegnete Morgan, die Hand in ihre schlanke, in Leder gekleidete Hüfte gestemmt. »Als ihre Babysitterin fungieren? Sicherstellen, dass sie nicht hinfällt und sich den Kopf anschlägt? Sie scheint leicht das Bewusstsein zu verlieren.«
Morgan warf einen verärgerten Blick durch die Supermarkttüren, wo sich ein halbes Dutzend Männer um die inzwischen wieder aufrecht stehende Jenna versammelt hatte. Mehrere Leute eilten an den Türen vorbei in einen Bereich des Supermarkts, den sie nicht sehen konnten. Vielleicht hatte das etwas mit dem Geräusch von kreischendem Metall zu tun, das sie wenige Minuten zuvor gehört hatten, ehe das Mädchen am Ausgang erschienen war.
»Wir gehen ins Hotel zurück und entspannen uns. Nachdem ich jetzt ihren Geruch kenne, kann ich sie jederzeit orten. In einer Woche haben wir die Antwort.«
Morgan blies eine glänzende schwarze Locke aus ihrer Stirn und warf ihm einen Blick aus ihren kalten, smaragdgrünen Augen zu.
Leander wandte sich ab. Er hatte keine Lust zu streiten. Er hatte auch keine Lust zu reden.
Er wollte nur sie beobachten.
Als ihn der Rat zu dieser Erkundungsmission gedrängt hatte, war Leander nicht sonderlich erfreut gewesen. Er hatte die Wichtigkeit dieser Mission nicht verstanden und gedacht, dass es töricht sei, Zeit und Energie auf etwas zu verschwenden, das sich nicht lohnte.
Gerade in letzter Zeit hatte es wichtigere Dinge in der Kolonie gegeben, um die man sich kümmern musste.
»Wieso ist sie für uns interessant?«, hatte er gefragt, als er zwischen den sechzehn Männern und der einen Frau des Rats gestanden hatte – die Zähne zusammengebissen und die Finger weit gespreizt.
Die Ostbibliothek, wo der Rat regelmäßig tagte, war von goldenem Sonnenlicht erfüllt, das sich in den Kristallen des Kronleuchters über ihren Köpfen brach. Der Raum hatte eine prachtvolle vergoldete Decke, einen Marmorkamin aus dem siebzehnten Jahrhundert sowie einen atemberaubenden Blick auf den Fluss Avon, der sich durch den New Forest dahinter schlängelte. Gewöhnlich war die Ostbibliothek Leanders Lieblingsort in Sommerley. Hier konnte er sich vor der Welt verstecken und in Ruhe nachdenken.
Natürlich nur, wenn nicht gerade der Rat zusammenkam.
»Ein Halbblut, dessen Vater wegen Verrats hingerichtet wurde«, fügte Leander hinzu. Frustriert schüttelte er den Kopf. »Sie ist doch kaum eines zweiten Blickes wert. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie irgendeine Gabe besitzt. Sie hat keines der Anzeichen …«
»Sie hat die Augen«, unterbrach ihn eine ruhige Stimme zu seiner Rechten. Es war die Stimme von Edward Viscount Weymouth. Er hatte es sich auf einem Dupioni-Sessel aus beiger und elfenbeinfarbener Seide bequem gemacht und seine Hände über der Weste gefaltet. Seine Beine hatte er ausgestreckt, und auf der Spitze seiner markanten Nase saß eine runde Nickelbrille. »Das wurde uns von mehr als einem Späher bestätigt«, fügte er hinzu.
Leander schürzte die Lippen und überlegte. Viscount Weymouth galt als zuverlässig. Er führte über die Vorfahren jedes Mitglieds der Kolonie genau Buch und kannte ihre Geheimnisse und Geschichten – bis in jene glorreichen Tage in den Regenwäldern Afrikas zurück.
Viscount Weymouth war der Hüter der Geschlechter, wie das schon sein Vater, sein Großvater und alle anderen Männer seiner Linie vor ihm gewesen waren.
Es war eine wichtige Aufgabe in der Kolonie, die als höchst angesehen galt. Denn für die Ikati waren die Vorfahren fast genauso wichtig wie sonst nur zwei andere Dinge: Geheimhaltung und Loyalität.
»Soweit ich weiß, hat es bereits andere Halbblüter in unserer Geschichte gegeben, die ebenfalls die Augen hatten. Nur wenige von ihnen zeigten weitere Anzeichen. Noch weniger waren fähig, sich zu verwandeln«, entgegnete Leander.
Der Viscount sah ihn für einen langen Moment schweigend und regungslos an. Dann brummte er etwas, was die anderen Ratsmitglieder dazu veranlasste, unruhig hin und her zu rutschen und ihre Zustimmung zu murmeln.
»Du hast recht. Aber keiner der anderen Halbblüter stammte von ihm ab.«
»Leander.«
Sein Bruder sprach nun Leander an, und der versammelte Rat wandte sich ihm zu. Christian saß an zweiter Stelle um den rechteckigen Mahagonitisch zur Linken Leanders. Sein vergoldeter Buchenholzsessel mit dem geschnitzten Rückenteil war etwas weniger üppig ausgestattet als der seines Bruders.
Christian wirkte entspannt. Auf seinem attraktiven Gesicht zeigte sich ein lässiges Lächeln, seine Haare fielen in seidigen Locken über seine Schulter. Er war körperlich weniger imposant als sein Bruder, doch genauso intelligent, grünäugig und geschmeidig. Wie alle Ikati war auch er groß, anmutig und von dunklem Teint.
Doch ebenso wie die anderen, schätzte er Leanders Reaktion genau ab und überlegte sich jedes Wort, das er sprach. Ein falscher Satz konnte unangenehme Konsequenzen haben.
»Vielleicht wäre es nicht unklug, sich dieses Halbblut einmal genauer anzusehen«, begann er langsam. »Und wenn es nur dazu dient, sicherzustellen, dass es keine Bedrohung darstellt. Unter normalen Umständen hätte man sich bereits nach ihrer Geburt um sie gekümmert. Allein die Tatsache, dass diese Frau noch in Freiheit lebt, bringt uns doch alle in Gefahr.«
Leanders Erwiderung bestand in einer hochgezogenen Augenbraue und zusammengekniffenen Lippen. Ermutigt von Christians Worten lehnte sich nun auch Robert Barrington über den Tisch und sah Leander aus schmalen, grünen Augen an. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht, das an einen Löwen erinnerte. »Ich stimme Christian zu. Falls das Mädchen ihre Gestalt das erste Mal außerhalb der Kolonie wandelt, möglicherweise in Gegenwart von Menschen, könnte das katastrophale Folgen haben.«
Ein weiterer Mann meldete sich zu Wort. Er wirkte fast streitlustig. Grayson Sutherland. Frisch verheiratet und stets selbstbewusst. Als junger Mann hatte er mit Leander um die Aufmerksamkeit einer besonders begehrten Frau des Stammes gebuhlt, einer Schönheit mit rabenschwarzen Haaren und Lippen wie Rosenknospen, die für ihre geschickten Hände berühmt war. Sutherland hatte damals verloren.
»Sie haben recht, Leander. Diese kleine Streunerin könnte uns allen schaden. Man sollte sie hierherbringen, damit sie sich dem Rat und ihrem Schicksal stellt.«
Weitere Männer um den Tisch murmelten leise ihre Zustimmung. Alle von ihnen waren privilegiert, alle begabt, und jeder von ihnen betrat mit seiner Zustimmung gefährliches Terrain.
Leanders Gesicht verdüsterte sich. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
Das Wandlungsgesetz – uralt und seit Jahrtausenden unverändert – war in dieser Hinsicht eindeutig. Obwohl es Gestaltwandlern erlaubt war, sich außerhalb ihrer Kolonie unter den Menschen aufzuhalten (was allerdings nicht gerne gesehen wurde), war es verboten, diese zu heiraten oder gar Kinder mit ihnen zu zeugen. Die Strafe für diesen höchst seltenen Gesetzesbruch hieß Tod für den Menschen und dessen Nachfahren sowie eine lebenslange Haftstrafe für den Gestaltwandler.
Mit einer einzigen Ausnahme: Wenn der Gestaltwandler stattdessen sein Leben gab.
Leanders Blick richtete sich voll kalten Zorns auf die Ratsmitglieder. »Um ihre Freiheit zu gewährleisten, wurde ein großes Opfer erbracht. Das wisst ihr.« Für ihn bedeuteten Ehre und Mut, Pflichtbewusstsein und Disziplin die höchsten Güter, weshalb er das, was Jennas Vater getan hatte, insgeheim bewunderte. Allerdings würden die anderen es als Verrat ansehen, wenn er diese Bewunderung laut äußerte.
»Das wisst ihr alle. Es gab einen Schwur, der mit Blut besiegelt wurde. Mein Vater, Alpha Charles McLoughlin, forderte selbst den Preis. Alles wurde getreu dem Gesetz geregelt und bleibt auch so bestehen. Wir werden sie nicht einfangen.«
Obwohl seine Stimme leise und kontrolliert klang, fegte sie doch wie ein Peitschenhieb durch den Raum und brachte die anderen zum Schweigen.
»Stimmt«, meinte Christian nach einem langen, unbequemen Moment der Stille, während der man nur das Ticken der belgischen Uhr auf dem Chippendale-Schreibtisch vernahm. »Den Schwur des Alpha können wir nicht lösen. Sie und ihre Mutter durften am Leben bleiben, und bisher zeigte sie keine anderen Anzeichen als die Augen. Dennoch bleibt sie ein Risiko.«
Obwohl es nicht ungefährlich war, durfte es Christian wagen, Leander herauszufordern. Dieser fand das in gewisser Weise nicht schlecht. So blieb er zumindest auf dem Boden und wurde daran erinnert, dass er noch immer Teil einer Familie war, ganz gleich, wie klein diese inzwischen sein mochte. Seit dem Unfall, dem seine Eltern im Mai vor drei Jahren zum Opfer gefallen waren, gab es nur noch Christian, ihre ältere Schwester Daria und ihn.
»Deswegen schlage ich vor, dass wir herausfinden, wo sie sich augenblicklich aufhält und sie einige Tage vor ihrem Geburtstag besuchen. Sie darf uns allerdings nicht sehen. Wir nehmen keinen Kontakt zu ihr auf, sondern halten sie nur unter Beobachtung. An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag werden wir unsere Antwort haben, ganz gleich, wie sie ausfällt. Wenn du willst, gehe ich selbst.«
Er blickte auf und sah Leander direkt an. Ausdruckslos und noch immer lächelnd wartete er auf eine Antwort. Doch Leander spürte, was sich hinter der coolen Fassade seines Bruders verbarg.
Aufregung.
Er kniff die Augen zusammen und überlegte, woher diese Aufregung kam. Doch sein Bruder wandte jetzt mit undurchdringlicher Miene den Blick ab. Also drehte sich Leander wieder zu den anderen Ratsmitgliedern um. »Und wenn sie nicht in der Lage ist, ihre Gestalt zu wandeln?«
Es war Viscount Weymouth, der ihm durch die Stille, die sich auf den eleganten und glanzvollen Raum der Ostbibliothek legte, antwortete.
»Du weißt, was dann geschehen muss.«
Sie hatten sich also geeinigt. Christian und Leander sollten sich auf die Reise machen, um das Halbblut bis zu seinem Geburtstag zu beobachten. Morgan sollte sie begleiten. Sie war die einzige Frau, die es in den Rat geschafft hatte – ein hart errungenes Zugeständnis, das den alten Ratsmitgliedern nicht gefallen hatte. Diese Männer waren nicht daran gewöhnt, infrage gestellt zu werden, und es störte sie, dass eine Frau ihr jahrhundertealtes Vorrecht männlicher Überlegenheit unterwanderte. Doch es war zu einer Abstimmung gekommen, und man hatte Morgan mit dem winzigen Vorsprung von einer Stimme in den Rat gewählt.
Es war Leanders Stimme gewesen.
Morgans Aufnahme in den Rat war ein schwerer Kampf vorausgegangen. Sie hatte Narben davongetragen und hegte noch immer einen heftigen Groll gegen jene, die gegen sie gewesen waren. Leander vermutete, dass nur ihr Ehrgeiz und eine scharfe Wahrnehmungsgabe sie davon abhielten, noch einmal darauf zurückzukommen. Tatsächlich waren ihre Gaben und ihre Intelligenz zehnmal so viel wert wie die der Männer, die sie ablehnten.
Morgan war klug, eine ausgezeichnete Jägerin, und wenn es darauf ankam, konnte sie tödlich sein. Sie besaß die seltene Gabe der Einflüsterung, was es einfacher machen würde, ein unwilliges Halbblut davon zu überzeugen, mit ihnen nach Sommerley zurückzukehren. Falls so etwas nötig sein sollte. Diese Gabe war auch der Grund gewesen, warum man sie im Rat aufgenommen hatte.
Außerdem konnte sie verdammt anstrengend sein. Leander hatte mehrmals ihre melodramatischen Auftritte miterlebt, die sie stets dann hatte, wenn sie ihren übermäßigen Stolz auf irgendeine Weise verletzt sah. Sie war stachliger als so manches Stachelschwein.
Der Plan, das Halbblut zu besuchen, wurde mit einer Geschwindigkeit umgesetzt, die schon seit Jahren nicht mehr typisch für den Rat war. Noch am selben Abend saß das Trio in einem Privatflugzeug auf dem Weg nach Los Angeles.
Fünfzehn Stunden und einige Whiskey später stand Leander auf dem Balkon in der Präsidenten-Suite im Hotel Four Seasons in Beverly Hills und blickte über die Stadt. Die Sonne ging langsam unter und tauchte alles in tiefstes Indigoblau und Violett.
Wie schon unzählige Male zuvor seit seiner Abreise aus Sommerley kehrten seine Gedanken erneut zu Jenna zurück.
Ihr ganzes Leben lang war sie verfolgt worden, auch wenn sie das nicht gemerkt haben dürfte. Der Rat hatte das Opfer ihres Vaters akzeptiert und ihr die Freiheit geschenkt, sie aber nicht völlig aus den Augen gelassen. Es wäre undenkbar gewesen, sie vollkommen zu ignorieren.
Ein Späher war beauftragt worden, sie heimlich zu beobachten und ihr überallhin zu folgen, um dem Rat immer wieder über sie berichten zu können. Doch in all den Jahren, in denen sie von einem Kind zu einer Frau heranwuchs, hatte Jenna keine äußeren Anzeichen einer Begabung gezeigt. Außer ihren Augen.
In der Pubertät war nichts geschehen. Zu diesem Zeitpunkt zeigten andere Gestaltwandler gewöhnlich ihre Begabungen, mochte das nun Stärke, Wendigkeit oder die Geschwindigkeit sein, mit denen sie einen Baum hinaufkletterten oder über einen Zaun sprangen. Ihre gesteigerten Fähigkeiten ermöglichten es ihnen, das Rauschen der Luft über den Vogelflügeln im Himmel ebenso zu hören wie die Herzschläge der kleinen Tiere unter der Erde. Sie rochen über Kilometer hinweg Wasser und wussten, ob es sich um Süß- oder Salzwasser handelte, ob es ein See war oder ein Fluss. Jenna schien nichts davon zu können.
Deshalb nahm der Rat mit der Zeit an, dass sie es auch niemals können würde.
Nun wurden nur noch alle paar Jahre Späher geschickt, die nie etwas Ungewöhnliches berichteten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, wenn alle Halbblüter zum ersten Mal ihre Gestalt wandelten, ebenfalls verwandeln würde, war also wirklich sehr gering.
Trotzdem. Es bestand eine kleine Chance …
Leanders Herz schlug schneller, als eine warme Brise die schimmernden Vorhänge vor den offenen Terrassentüren ein wenig in Bewegung brachte. Es roch nach heißen Steinen und verwelkten Blüten. Die Terrasse aus rosafarbenem Marmor mit ihrer Balustrade und den herabfallenden scharlachroten Bougainvillen sowie dem Steinbrunnen in der Mitte lag ruhig vor ihm – eine Einladung an die Nacht.
Er hob den Blick in den dunkler werdenden Himmel und spürte den Herzschlag in seinem Inneren.
Der Ruf der Verwandlung.
In der Nacht spürte er diesen Ruf am stärksten, auch wenn er, wie seine Artgenossen, jederzeit die Gestalt wandeln konnte. Leander besaß jedoch eine Gabe, die nur den mächtigsten Ikati vorbehalten war. Er konnte zu mehr als einem bloßen Tier werden – zu mehr als jenem tödlichen Raubtier, in das sich alle Angehörigen seiner Spezies verwandeln konnten.
Er konnte zu Nebel werden und sich gestaltlos in Luft auflösen.
Er zog seine Jacke, sein Hemd und seine feine Wollhose aus. Lautlos fielen die Kleidungsstücke auf den warmen Marmor unter seinen nackten Füßen. Er schloss die Augen und ließ das Gefühl in sich aufsteigen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, während die Freude der Verwandlung immer größer wurde.
Es gab nichts, das sich mit diesem letzten Moment kurz vor der Auflösung vergleichen ließ. Nichts auf der Welt fühlte sich so gut an. Es war wie ein Wasserfall aus Empfindungen, wie ein Beben, das sich zuerst in einen Stromschlag und dann in eine unglaubliche Leichtigkeit verwandelte, ehe sein Körper verschwand. Alles Menschliche war verschwunden, ebenso wie alle Sinne. Jetzt spürte er nur noch die seidige Berührung der Luft um sich herum. Er glitt hindurch und erhob sich wie ein feiner Dunst schimmernd in den Himmel. Nur sein Geist und sein Wille blieben, und sie waren es, die ihn vorwärtstrieben.
Es gab nichts, was er in solchen Momenten mitnehmen konnte. Weder Kleidung, noch Waffen, noch Essen. Alles, was er trug oder in Händen hielt, fiel einfach zu Boden. Das hatte sich schon mehr als einmal als unbequem herausgestellt. Doch an diesem Abend dachte er nicht daran. Er dachte weder an den Rat noch an sein Gesetz, weder an Christian, Morgan oder die Aufgabe, die vor ihnen lag.
Er dachte nur an die Freiheit und ließ sich in die Wärme des indigoblauen Himmels treiben.