9

Gerade noch war sie Sturm und Feuer, Leidenschaft und Anspannung in seinen Armen, im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen Hauch von Nebel.

Leander hätte vermutlich nicht überrascht sein sollen. Schließlich wusste er, dass so etwas passieren würde. Vom ersten Moment an, als er sie gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass unter dieser elfenbeinfarbenen Haut eine Kraft schlummerte, die nur darauf wartete, losgelassen zu werden. Er wusste hundertprozentig, dass sie sich verwandeln würde – so sicher, wie er seinen Namen kannte.

Doch es war nicht nur die Plötzlichkeit, mit der das alles geschah, die ihn erstaunte und auf ihr leeres Kleid blicken ließ, das mit einem leisen Rascheln auf der Bettdecke zurückblieb – ebenso wie der Duft ihrer Haut, den er noch deutlich wahrnahm.

Es war vielmehr die Tatsache, dass sie sich jetzt verwandelt hatte. Noch waren es einige Tage bis zu ihrem Geburtstag.

In der bisherigen Geschichte ihrer Spezies, deren Aufzeichnungen beinahe zweitausend Jahre vor Christi zurückreichten, hatte Leander noch nie von einem Halbblut gehört, das sich vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag verwandelte.

Es ging schließlich um unabänderliche, wissenschaftliche Tatsachen. Wenn sich das Ikati-Blut mit menschlichem Blut vermischte, wurde es verwässert, geschwächt, korrumpiert. Es verlor jene Reinheit, die für die genetischen Charakteristika der Ikati so typisch war. Bei einem Ikati-Kind fand die erste Verwandlung irgendwann zwischen dem zwölften und dem sechzehnten Geburtstag statt, aber bei einem Halbblut …

Bei einem Halbblut dauerte es genau fünfundzwanzig Jahre von der Minute der Geburt an, und dann fand die Verwandlung entweder statt, oder sie tat es nicht.

Wenn sie stattfand, überlebte sie nur ein geringer Prozentsatz der Betroffenen.

Am Rand jeder Ikati-Kolonie gab es namenlose Gräber, wo die Gebeine dieser minderwertigen Wesen verscharrt waren. Das Gesetz war in dieser Hinsicht eindeutig. Man überlebte die Verwandlung oder man starb.

Jenna hingegen verwandelte sich ohne Probleme, und das noch dazu früher als normal. Leander wusste nicht so ganz, was er davon halten sollte.

Er sah zur Decke hoch, wo sie sich unter dem weißen Putz ausgebreitet hatte. Lautlos schwebte sie auf den Kronleuchter in der Mitte des Zimmers zu, ein zarter Hauch aus weißem Nebel, der sich immer wieder ausbreitete und zusammenzog, wie ein Gespenst in der Nacht.

»Jenna«, sagte er. Er war noch immer atemlos von dem Gefühl ihrer Lippen auf den seinen, von ihrem Körper, der sich so weiblich, so sinnlich angefühlt hatte. »Komm wieder hierher.«

Er beobachtete, wie sie sich um den Kronleuchter sammelte, darüberschwebte und seine Kanten und Flächen entdeckte, bis sie jeden einzelnen der Kristalltropfen erkundet hatte. Leander warf einen Blick auf die Verandatür. Vor Schreck blieb sein Herz beinahe stehen. Er hatte sie einen Spalt offen gelassen.

Er stand vom Bett auf und stellte sich unter den Kronleuchter.

»Bitte komm herunter.« Er starrte zu ihr hoch. Sie schwebte über ihm, das Schönste aller Phantome. »Wenn du einfach ›runter‹ denkst, wird es passieren.« Er beobachtete, wie sie sich zu einer Gestalt zusammenballte und wieder auflöste, wie sie auf der Luft dahinfloss, kleine Wellen schlug und sich so durchsichtig machte, dass er die Decke hinter ihr sehen konnte.

In einer eleganten Wolkenformation aus weißem Nebel ließ sie sich herab und verwandelte sich direkt unter seiner Nase wieder zu einer Frau. Zu einer völlig nackten Frau, die nur von wenigen Haarsträhnen ihrer honigblonden Mähne verdeckt war. Ihm stockte geradezu der Atem, als er die Rundung ihrer Brüste unter ihren Haaren sah. Hastig trat er einen Schritt zurück und versuchte, ihr ausschließlich in die Augen zu schauen.

Diese waren so groß wie Untertassen, leuchteten grün und gelb und starrten ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung an.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Rühr dich nicht vom Fleck.«

Er riss den weichen Kaschmirüberwurf, der am Ende des Bettes lag, von der Matratze, schüttelte ihn aus und legte ihn sanft um ihren Körper. Jenna zitterte. Er rieb ihr mit den Handflächen über die Arme, um den Kreislauf wieder anzuregen, während er an Baseball dachte, um sich von der schmerzenden Erektion abzulenken, von den Gedanken, welche Freuden unter diesem Überwurf verborgen waren und wie ein einziges Reißen an dem Stoff ihren Körper entblößen würde.

»Leander …«, sagte sie. Ihr versagte beinahe die Stimme, als sie seinen Namen aussprach.

»Ja?«

»Ich habe gerade … Ich habe gerade …«

Er musste sich räuspern, um ihr antworten zu können. »Du hast dich gerade verwandelt«, erklärte er.

Sie sah ihn an. Es war ein klarer, konzentrierter Blick aus Augen, die phosphoreszierend grün unter ihren auffallend langen Wimpern hervorblickten. Ein wenig Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, sodass man den Eindruck hatte, makelloser Marmor wäre auf einmal von Leben erfüllt.

»Verwandelt …«

Sein Herz setzte einen Moment lang aus. Selbst in ihrer Verwirrung war sie so wunderschön, dass ihm das Atmen schwer fiel. »Du kannst dich verwandeln, Jenna. Du bist eine Ikati. Wie dein Vater. Wie ich«, murmelte er, magisch von ihren Augen angezogen.

Sie blinzelte, und das Beben, das ihren ganzen Körper erfasst hatte, ließ allmählich nach. Langsam atmete sie aus, und damit schien sich auch die Spannung in ihren Gliedern nach und nach zu lösen.

»Eine Ikati«, wiederholte sie, wobei sie das unbekannte Wort langsam über ihre Zunge rollen ließ.

»Es ist ein alter Name aus unserem Heimatland. Es bedeutet, dass man seine menschliche Form verwandeln kann, um etwas anderes zu werden, um mehr zu werden.«

»Mehr als menschlich.« Ohne zu blinzeln sah sie ihm so tief in die Augen, dass er das Gefühl hatte, sie könnte auch die hinterste Ecke seiner Seele erkennen – als ob er ein Geheimnis wäre, ihr Geheimnis, das sie zu lösen versuchte. Einen Moment lang huschte die Andeutung eines Lächelns über ihre Lippen, verschwand aber sofort wieder. Dann runzelte sie die Stirn. Sie musterte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue und zeigte diesen trotzigen Blick, den er allmählich von ihr kannte. Ihr Mund verwandelte sich dabei in eine entschlossene, schmale Linie.

»Ich glaube, ich muss mich hinsetzen«, sagte sie. Er sprang sofort herbei, um ihr den kaputten Seidensessel hinzuschieben. Nachdem sie sich gesetzt hatte, der Rücken kerzengerade, der nackte Körper sicher unter dem Kaschmirstoff verborgen, stellte er sich hinter sie.

Sie blickte aus dem Fenster auf die Veranda und die Stadt dahinter, ohne einen Laut von sich zu geben.

»Ich weiß, dass es ein Schock für dich sein muss. Wahrscheinlich kommt dir das Ganze unglaublich vor«, sagte Leander. Ihre unnatürliche Ruhe verunsicherte ihn. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was dahinterstecken könnte. Als er sich das erste Mal mit elf Jahren verwandelt hatte, war er brüllend vor Freude in Kreisen auf dem Rasen von Sommerley herumgerannt.

Aber er war auch darauf vorbereitet gewesen. Er hatte sein ganzes Leben lang gewusst, wer und was er war. Er hatte sich immer verwandeln wollen. Jenna hingegen …

Er zog den anderen Sessel über den Teppichboden und setzte sich ihr gegenüber hin. Sie starrte weiterhin schweigend und reglos wie eine Statue aus dem Fenster.

»Ich glaube, ich schulde dir eine Erklärung«, begann er. Ihr anhaltendes Schweigen fing an, ihn nervös zu machen. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass du … Es war für dich noch nicht an der Zeit, weißt du? Wir dachten, dass du noch einige Tage hast … Ich dachte, ich hätte mehr Zeit, mit dir über alles zu sprechen. Ich wollte dir nur zeigen, wie ich …« Er hielt inne und fuhr sich mit einer Hand durch seine dichten Haare. Im Grunde wusste er nicht, wie er weiterreden sollte.

Jenna warf ihm einen langen, kühlen Blick zu, der jegliche Art von höflichem Geplänkel zwischen ihnen vom Tisch fegte. »Wozu bin ich noch in der Lage?«, wollte sie wissen. Sie klang kühl und kontrolliert. Anklagend.

Ihr verändertes Verhalten überraschte ihn. Bis gerade eben hatte sie noch weich und fügsam in seinen Armen gelegen, sie hatte ihn so leidenschaftlich geküsst, dass er das Gefühl hatte, dahinschmelzen zu müssen. Er konnte sie noch immer auf seiner Zunge schmecken. Doch jetzt saß sie aufrecht wie ein Soldat in ihrem Sessel und starrte ihn kalt und beschuldigend an.

»Das weiß ich noch nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher, wozu du alles in der Lage …«

»Aber du hast eine Ahnung?«, unterbrach sie ihn. Ihre Stimme klang weiterhin vorsichtig und leise, was ihm einen leichten Stich versetzte. Ihre schönen Gesichtszüge verhärteten sich zu einer Maske.

Sie sah ihn an, als ob er ein Fremder wäre.

Als ob er ihr Feind wäre.

Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt, ihre Finger unter dem Kaschmir gefunden, sie in seine Arme gezogen und seine Hände in ihrer kühlen Mähne vergraben. Aber er wusste, dass sie ihn zurückstoßen würde, weshalb er mit verkrampftem Magen sitzen blieb.

»Wenn du dich in Nebel verwandeln kannst, dann wirst du auch in der Lage sein, dich in einen Panther zu verwandeln«, sagte er. »Das sind wir. Das bist du.«

Diesmal blinzelte sie nicht einmal. Ihre Augen waren klar, dunkel und unergründlich. Ihr Blick wanderte einen Moment lang zu seinen Lippen, ehe sie wieder den Kopf wegdrehte, das Kinn hob und ihm das Profil zuwandte.

»Ein Panther«, sagte sie ausdruckslos.

»Ja.«

Einen Moment lang schwieg sie. Dann: »Eine Katze.«

»Ja, genau genommen schon. Eine Katze.«

Er hörte, wie sie die Luft ausstieß – ein Laut, der entweder amüsiert oder auch verächtlich gemeint sein konnte. Sie beobachtete, wie die Hitze des Tages die Luft über den Dächern der Stadt zu flimmernden Wellen formte. Sie rümpfte die Nase, als ob sie etwas Schlechtes gerochen hätte.

»Wunderbar. Und sonst?«

Leander lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte, wie viel er ihr erzählen sollte. Vielleicht reagierte sie immer auf Stress, indem sie sich betont gelangweilt gab. Es konnte natürlich auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Noch kannte er sie nicht gut genug, um das einschätzen zu können.

Ihm gefiel es gar nicht, dass er sie noch nicht gut genug kannte.

»Nicht irgendeine Katze, Jenna. Jedenfalls garantiert nicht die durchschnittliche Hauskatze. Du bist ein Raubtier, und zwar ein tödliches. Du hast die Geschwindigkeit und Wendigkeit aller Katzen, aber du bist viel schneller und viel stärker.«

Er beobachtete, wie das Licht mit den Konturen ihres Gesichts spielte, während er auf eine Reaktion wartete. Auf irgendeine Reaktion. Aber es kam keine.

»Du wirst in der Lage sein, in völliger Dunkelheit so gut zu sehen, als ob es taghell wäre. Du wirst eine geflüsterte Unterhaltung aus einem Kilometer Entfernung hören können, eine Woche vor einem Sturm diesen bereits riechen und alles um dich herum mit vollkommener Klarheit wahrnehmen. Du wirst mit der Natur auf einer Weise in Einklang sein wie sonst keine Kreatur auf dieser Welt.«

Während seiner Erklärung blieb sie undurchsichtig wie Sphinx – schön, kalt und regungslos.

Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Du wirst in der Lage sein, den Herzschlag der Erde zu vernehmen.«

Das zumindest schien zu ihr durchzudringen, wenn auch kaum. Ihre Lippen zuckten, und sie holte tief Luft, um diese dann langsam durch die Nase wieder auszuatmen.

»Ich nehme an, dass du einige dieser Talente schon seit Jahren erahnt hast. Du musst gewusst haben, dass du anders bist«, fuhr er fort, während er sich fragte, wie es für sie gewesen war. Wie sie sich versteckt hatte, wie sie so getan hatte, als wäre sie nicht sie selbst, sondern wie die anderen Menschen um sie herum, auch wenn sie viel mehr gewesen war.

Er stellte sich vor, wie er ein Leben unter diesen idiotischen Menschen verbracht hätte, und es lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken.

Er beugte sich auf seinem Sessel vor und stützte die Ellenbogen auf die Schenkel. »Nachdem du dich jetzt in Nebel verwandelt hast, werden diese Begabungen immer stärker hervortreten. Und sobald du dich in einen Panther verwandelst, werden dich die Empfindungen und Eindrücke beinahe überwältigen. Um weiterzukommen, um zu überleben«, betonte er, »musst du lernen, diese Gefühle zu kontrollieren.«

Er musterte ihr Gesicht. Jenna saß noch immer stumm und ausdruckslos da. Es war ausgesprochen verunsichernd.

»Jeder, der sich verwandeln kann, hat außerdem Talente, die nur er – oder sie – besitzt. Diese können unterschiedlich stark ausfallen. Du kannst zum Beispiel offensichtlich Gedanken lesen, indem du jemanden berührst. Falls es noch etwas anderes gibt, wozu du in der Lage bist, wird sich das zeigen, sobald die Zeit dafür kommt.«

»Und du?«, fragte sie kaum hörbar.

Ihre Haare schimmerten golden und honigfarben und tauchten ihre cremefarbene Haut in ein warmes Licht. Ihr Gesicht leuchtete so hell, dass er beinahe glaubte, von ihr geblendet zu werden. Doch in ihren Augen zeigte sich keine Wärme.

»Ich kann mich auch in Nebel verwandeln …«

»Können das nicht alle diese Ikati?«, unterbrach sie ihn.

»Nein. Nur sehr wenige, nur die begabtesten. Die meisten von uns sind eher erdverbunden.«

»Konnte sich mein Vater in Nebel verwandeln?«

Unter anderem, wollte er ihr antworten. Doch das schien in diesem Moment nicht klug zu sein. »Ja.«

Sie nickte zufrieden und wandte das Gesicht ab, um erneut durch das Fenster zu schauen. Dabei schlug sie die Beine übereinander, sodass ihm der warme, reine Duft ihrer Haut einen Moment lang in die Nase stieg. Er beobachtete, wie einer ihre schlanken Füße auf und ab wippte.

Der Kaschmirüberwurf, der ihre Beine bedeckte, wanderte über ein Knie bis zu ihrem Schenkel. Ihr schien das nicht weiter aufzufallen. Leander biss die Zähne aufeinander.

»Morgan? Christian?«

Es gefiel ihm gar nicht, dass der Name seines Bruders über ihre Lippen kam. »Keiner der beiden kann sich in Nebel verwandeln. Morgan hat die Gabe der Einflüsterung …«

»Der Einflüsterung?«, wiederholte sie. Ihre Stimme klang etwas schriller als zuvor. Sie hatte ihm den Kopf zugewandt und fixierte ihn nun mit weit aufgerissenen Augen. »Heißt das, sie kann die Gedanken eines anderen kontrollieren?«

»Hast du das denn nicht gesehen, als du mich berührt hast?«, entgegnete Leander überrascht.

Ihm war sogleich klar, dass es eine törichte Frage war. Sie zuckte zusammen und schloss kurz die Augen.

»Ich war zu sehr damit beschäftigt, die anderen Dinge zu sehen«, antwortete sie und wandte den Kopf wieder ab. Mit einem Schlag schienen die unnatürliche Ruhe und Gelassenheit wie ein Sturzbach von ihr abzufließen. Jetzt zeigte sich nur noch eine kaum unterdrückte Abneigung auf ihren Lippen.

Wieder versank sie in Schweigen.

Leander zwang sich dazu, entspannt zu bleiben. Er durfte nicht ungeduldig werden. Er musste gegen seinen Instinkt ankämpfen, sie wieder in seine Arme zu ziehen. Nachdem er mehrere Minuten lang beobachtet hatte, wie sie atmete und benommen über die Stadt hinweg auf den Horizont starrte, entschloss er sich, sie noch einmal anzusprechen.

»Gibt es noch etwas, was du mich fragen möchtest, Jenna?« Geduldig wartete er auf ihre Antwort.

Er wartete sehr, sehr lange.

Jenna starrte aus dem Fenster. Sie lauschte dem fernen Rauschen des Verkehrs auf den Straßen unterhalb der Suite, nahm den Geruch der heißen Pflastersteine und der welkenden Rosen wahr, der aus dem Garten zu ihnen hochstieg, und schmeckte die Asche ihres früheren Lebens auf ihrer Zunge. Sie hatte den Blick hinausgerichtet, sah jedoch in Wirklichkeit nichts. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, dass etwas passieren würde. Und jetzt das.

Das Gefühl, als sich ihr Körper in Nebel aufgelöst hatte, war das Aufregendste – und Beängstigendste –, das sie jemals erlebt hatte. Sie hatte es sich auf einem Aufwind aus heißer Luft bequem gemacht, den Rücken flach gegen den kühlen Putz der Decke gedrückt und alles wie zuvor gesehen und gehört – doch um ein Tausendfaches verstärkt. Als Nebel war sie so frei wie ein Geist, sich überall hinzubewegen, alles zu durchdringen. Sie musste sich nur darauf konzentrieren, und schon konnte sie in jede Richtung schweben.

Euphorie durchdrang sie, als ihr klar wurde, dass ihr Körper verschwunden war. Die ganze mühselige Last der Muskeln und Knochen war weg, die Schwerkraft hatte sich in nichts aufgelöst, und es blieb nur ein wunderbares Gefühl der Schwerelosigkeit zurück. Es war, als käme sie ins Paradies, nachdem sie eine halbe Ewigkeit lang in einer dunklen Zelle eingesperrt gewesen war.

Sie glaubte, vor Glück über diese Befreiung sterben zu müssen.

Es war natürlich nicht das erste Mal gewesen. Es war sporadisch immer wieder passiert, seit sie zehn Jahre alt war, nach dem Verschwinden ihres Vaters. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass er nie zurückkommen würde, und Jenna hatte sich in ihrem Zimmer eingesperrt und einfach in nichts aufgelöst. Es war nur ein Moment gewesen, und fast glaubte sie, es sich nur eingebildet zu haben. Doch dann geschah es wieder und wieder, jedes Mal, wenn sie wütend war oder irgendwie die Beherrschung verlor.

Das war auch der Grund, warum sie nie eine längere Beziehung mit einem Mann eingegangen war. Sobald sie emotional involviert war und ihre Kontrolle aufgab, war es vorbei. Seit Jahren schon war allerdings nichts mehr dergleichen passiert, denn sie war viel zu vorsichtig gewesen.

Doch diese Verwandlung war etwas ganz anderes. Es fühlte sich an, als ob sie endlich hätte loslassen dürfen, es fühlte sich so an, als wäre sie nach Hause gekommen. Sie hätte jederzeit die Welt hinter sich lassen und für immer ein Nebel bleiben können.

Es war Leanders Stimme, als er sie rief, die Jenna vom Abgrund dieser herrlichen Vergessenheit zurückholte. In seinem sanften Tonfall klang eine Schwere an, die sie wie ein Gewicht auf den Boden zurückholte. Es kam ihr so vor, als ob er ihren Willen kontrollieren könnte, als ob der bloße Klang seiner Stimme sie derart tief berührte, dass sie alles stehen und liegen lassen würde, um dieser Stimme zu gehorchen – selbst das größte Vergnügen, das sie jemals erlebt hatte.

Das war das eigentlich Beängstigende gewesen. Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, was es bedeutete.

Jenna holte tief Luft und verabschiedete sich stumm von allem, was vor diesem Moment für sie existiert hatte. Sie hatte vor, ihr Versprechen Leander gegenüber zu halten, nachdem sich jetzt alles verändert hatte. Jetzt war der Schlüssel ins Schloss geschoben, die Tür war entriegelt und weit aufgestoßen worden.

Jetzt war sie Alice, die durch den Kaninchenbau ins Wunderland verschwand.

Sie verstand genau, was er meinte, als er ihr erklärte, sie müsse die Empfindungen kontrollieren, die auf sie einströmten. Sie hatte bereits vor vielen Jahren geglaubt, das gelernt zu haben. Doch jetzt war alles noch leuchtender und noch lauter. Ihre Umgebung bedrängte sie stärker als jemals zuvor.

Jeder Atemzug, den Leander tat, hörte sich wie ein raues Kratzen in ihren Ohren an. Jeder Sonnenstrahl, der durch die Fenster hereinfiel, verbrannte ihr die Augen. Jeder Geruch im Raum und jeder Geruch, der durch die offene Terrassentür hereinkam, bedrängte sie gnadenlos.

Sonnenwarme Haut, alte Wolle und parfümierte Seide, poliertes Holz, wohlriechende Salze, frisch gewaschene Bettlaken, gemähtes Gras, Autoabgase, trockene Luft. Fruchtbare Erde und ein erhitzter Himmel. Sie spürte jedes Tier in einem Umkreis von vielen Kilometern, dem das Blut durch die Adern pulsierte. Doch unter dem Ganzen fand sich jetzt etwas Neues, Düsteres und höchst Unangenehmes. Der Gestank menschlicher Verzweiflung zog sich wie ein Faden durch alles hindurch. Er stieg von den Menschen auf der ganzen Erde mit einer heftigen Bitterkeit in Jennas Nase. Leid. Einsamkeit. Schmerz. Reue.

Mehr als alles, was Leander sagte, brachte sie dieses Gefühl beinahe dazu, in Tränen auszubrechen. Doch sie hatte nicht vor, ihm das zu zeigen. Schließlich war auch sie noch immer ein Mensch und nur zur Hälfte eine Ikati, wie er sie genannt hatte. Das Blut ihrer Mutter floss in ihren Venen genauso wie das ihres Vaters.

Es war das Leid ihrer Mutter, das sie in den Menschen auf den Straßen der Stadt roch. Und ihr Vater …

»Weißt du, wo mein Vater ist?«, fragte sie Leander mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Den Blick hatte sie noch immer auf die Stadt vor dem Fenster gerichtet.

Er antwortete, ohne zu zögern. »Ja, das weiß ich.«

Sie biss sich auf die Unterlippe, um das erleichterte Schluchzen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Jetzt durfte sie nicht zusammenbrechen, es war nicht einmal ihre wichtigste Frage gewesen. Sie beobachtete einen Wanderfalken, der gemächlich im azurblauen Himmel seine Kreise zog, von einem Aufwind nach oben getragen wurde und dann weiterschwebte. Er war auf der Jagd. Seine grauen und schwarzen Federn zerzauste der Wind. Einen Moment lang spürte sie, wie seine Augen auf sie gerichtet waren, ehe er abdrehte.

Sie schluckte. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um die nächste Frage zu stellen. »Lebt er noch?«, wollte sie wissen und sah Leander dabei direkt an.

Leander sagte zunächst nichts. Er musterte sie nur schweigend und holte dann tief Luft.

Das war die Antwort, vor der sie sich gefürchtet hatte. Ihr Vater war also tot, seit Jahren tot. Er war gestorben, nachdem er einem Geist gleich aus ihrer Kindheit verschwunden war. Sie schloss die Augen, um gegen die Tränen anzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Dann schluckte sie, da sie einen Moment lang glaubte, nicht mehr atmen zu können.

Es verging eine lange Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte. Währenddessen wiederholte sie immer wieder einen Satz in ihrem Inneren.

Er darf nicht sehen, wie du weinst. Er darf nicht sehen, wie du weinst.

Als sie schließlich sprach, war es ein heiseres Flüstern.

»Du musst mich zu ihm bringen.«

»Ich bringe dich überallhin, wo du willst«, antwortete er mit zärtlichem Blick.

Sie nickte. Eine Benommenheit breitete sich in ihr aus und legte sich Eiseskälte gleich auf ihr Herz. »In Sommerley sind noch andere – andere wie mein Vater. Andere wie du und … Wie ich. Sind die meisten von uns dort?«

»Sehr viele«, sagte er. Sein Gesicht wurde wieder von dieser animalischen Gier erhellt, und das Pochen seines Herzens hallte klar und kraftvoll in ihren Ohren wider.

Sie spürte sein Verlangen, das sich heiß und leidenschaftlich in ihm ausbreitete. Sie roch seine Haut, schmeckte seine Lippen, glaubte, die Wärme seiner Hand noch immer auf ihrem Rücken fühlen zu können. Auch sie begehrte ihn, obwohl es leichtsinnig und verrückt war. Er war gekommen, um sie zu entführen. Sie durfte ihm nicht trauen. Niemals.

Also beschloss sie, ganz einfach nichts für ihn zu empfinden. Sie würde ihn nicht an sich heranlassen.

Mit einer Willenskraft, von der sie bisher nicht gewusst hatte, dass sie so stark sein konnte, verdrängte sie alles aus ihrem Inneren. Sein Verlangen – ebenso wie das ihre –, die Flut von Geräuschen, die Masse von Gerüchen und Empfindungen. Am schwierigsten war es, seinen Herzschlag auszublenden. Das Pochen weigerte sich, aus ihren Ohren zu verschwinden, obwohl sie sich so sehr konzentrierte, dass sie beinahe zu atmen aufhörte.

»Ich möchte dich um etwas bitten, ehe wir weitermachen«, erklärte Jenna leise. Sie musterte ein letztes Mal sein Gesicht, um sich an die geschwungenen, perfekten Züge zu erinnern, so wie sie sich vor langer Zeit das Antlitz ihres Vaters eingeprägt hatte.

Eine weitere, wunderbare Erinnerung, die sie hatte löschen müssen, um zu überleben.

»Ja«, antwortete er heiser. Er lehnte sich in seinem Sessel vor und wirkte dabei so angespannt, als ob er jeden Augenblick zerspringen müsste. Seine Augen glitzerten unwirklich grün. »Alles, was du willst.«

Sie sah ihn an – diese Augen, diese Lippen, diesen starken, muskulösen Körper. Seine Schönheit war beinahe überirdisch, doch jetzt spürte sie nichts mehr. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich ihr Herz in ein kahles, kaltes Land verwandelt. Es war leblos geworden.

Jenna nickte zufrieden. Diese Leblosigkeit war gut. Sie würde ihr helfen, weiterzukommen.

»Ich bitte dich um dein Wort, Lord McLoughlin. Das heißt – nein«, verbesserte sie sich und schüttelte leicht den Kopf, sodass ihre honigblonde Mähne auf dem Kaschmirüberwurf hin und her wippte. »Ich möchte dich um einen Schwur bitten.«

»Was auch immer«, sagte er und hob instinktiv die Hand, um sie zu berühren.

»Versprich mir, mich nie mehr anzufassen«, sagte sie hart und so kalt wie das Eis, das in ihr war.

Leanders Hand hielt in der Bewegung inne. Er sah Jenna in die Augen und konnte dort eine neue Entschlossenheit entdecken, die ihn erschreckte. Mit einem leichten Schock, der ihm die Sprache verschlug, wurde ihm klar, dass sie es todernst meinte.

Er senkte die Hand, um sie auf dem kühlen Holz der Armlehne ruhen zu lassen. Einen stummen Moment lang betrachtete er Jenna. Die Welt schien stehen zu bleiben. Staub tanzte in einem Lichtstrahl, der durchs Fenster fiel, in der Luft – ähnlich ziellos, ähnlich hilflos wie er sich in diesem Augenblick fühlte. Er hatte Jenna gefunden. Er hatte sie begehrt. Es war ihm nicht gelungen, sie wirklich zu berühren. Nachdem sie ihm jetzt ihre Absichten klargemacht hatte, blieb ihm nur noch seine Pflicht, sie nach Sommerley zu bringen.

Mit steifem Rücken lehnte er sich zurück, kaum fähig, seine Glieder zu bewegen. Seine Antwort klang weich und leise.

»Wenn es das ist, was du willst, Jenna, dann sollst du es bekommen.«

Kaum sichtbar ließ die Anspannung in ihrem Körper ein wenig nach. Sie lächelte sogar, auch wenn es freudloses Lächeln war. »Sehr gut«, sagte sie etwas wärmer. »Wann reisen wir ab?«