XII.
Während Frau Hulda triumphierte, herrschte im Lager der Angreifer schiere Verzweiflung. Michel hatte den Kriegsrat in seinem Zelt zusammengerufen, doch die Anwesenden sahen sich zunächst nur ratlos an.
Marie saß in der Ecke des Zeltes auf einem Faltsessel und hielt den Umhang eng um sich geschlungen. Sie fror, aber nicht vor Kälte.
»Was können wir tun?«, fragte sie in die lähmende Stille hinein. Michel stöhnte. »Ich kann nicht den Sturm befehlen, wenn das Ergebnis der Tod meines Sohnes ist!«
Dietmar von Arnstein brummte etwas Unverständliches, während Heribert von Seibelstorff mehrmals zum Sprechen ansetzte, aber jedes Mal nach dem ersten Wort wieder aufhörte. Schließlich stieß Heinrich von Hettenheim einen wüsten Fluch aus. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als erst einmal nachzugeben. Lieber bleibe ich mein Leben lang ein Dienstmann der frommen Brüder zu Vertlingen, als den Tod von Maries und Michels Sohn auf mein Gewissen zu nehmen.«
Bis auf Andrej nickten die anderen bedrückt. Der Russe hatte in den letzten Wochen zwar eifrig versucht, die deutsche Sprache zu lernen, doch sein Wortschatz war noch zu gering, um sich verständlich machen zu können. Daher wandte er sich in seiner Muttersprache an Marie. »Darf ich einige Worte dazu sagen, und würdest du sie übersetzen, auch wenn sie dich schmerzen?«
»Sprich ruhig! Mir ist jeder Rat willkommen.« Marie wischte sich die Tränen aus den Augen und konzentrierte sich auf das, was Andrej sagte. Er legte dabei immer wieder Pausen ein, damit sie es für Michel und ihre Freunde übersetzen konnte.
»Wir müssen die Burg stürmen, egal, was die Frau dort oben auf dem Turm sagt. Geben wir ihrer ersten Forderung nach, wird sie weitere Bedingungen stellen. Nach dem Rückzug von dieser Burg wird sie die Übergabe der Burgen fordern, die bereits in unserer Gewalt sind, und selbst das wird ihr nicht genügen. Hat sie uns einmal gedemütigt, wird sie es immer wieder versuchen und zuletzt Zusagen fordern, die keiner von uns mehr zu erfüllen in der Lage ist, wie die Freilassung ihres Vaters. Sie wird sich immer weiter in ihren Triumph über uns hineinsteigern, bis ihr nichts anderes mehr übrig bleibt, als das Kind zu töten, damit sie sich am Entsetzen seiner wirklichen Mutter weiden kann.«
Im ersten Augeblick wollte Marie ihm vehement widersprechen, dann aber wurde ihr klar, dass Andrej Recht hatte. Hulda würde sich niemals mit dem Erreichten zufrieden geben, sondern versuchen, sich mit allen Mitteln an ihr und Michel zu rächen. Sie dachte über einen möglichen Ausweg nach und begann, als sie keinen fand, mit einem bitteren Auflachen zu sprechen.
»Ich muss Andrej zustimmen. Selbst wenn wir wieder und wieder nachgeben und sie meinen Sohn tatsächlich nicht tötet, macht das die Situation nicht besser. Sie wird den Kleinen in ihrem Sinn erziehen und einen zweiten Falko von Hettenheim aus ihm machen. Lieber sehe ich ihn tot, als dass ich miterleben muss, welch unwürdige Kreatur unter ihren Händen heranwächst.«
Bei dieser Vorstellung schüttelte sie sich und begann haltlos zu schluchzen. Michel rief Anni und bat sie, sich Maries anzunehmen.
Er selbst atmete tief durch und sah seine Freunde mit grimmiger Miene an. »Wir werden Heimtücke mit List beantworten. Zunächst tun wir so, als gäben wir uns geschlagen, und beginnen, unser Lager abzubrechen. Doch sobald es Nacht ist, stürmen wir die Burg. Vielleicht gelingt es uns in der Verwirrung, das Kind zu retten, bevor diese Hexe es verderben kann.«
»Die besten Krieger sollen die Spitze bilden, und ihr heiligstes Ziel wird es sein, Euren Sohn zu finden. Wehe Hulda, sollte Eurem Sohn etwas geschehen sein!« Heinrich von Hettenheim klopfte gegen seinen Schwertgriff und umarmte Michel zur Bekräftigung seines Schwurs. Sie wussten, dass der Erfolg auf Messers Schneide stand, doch jeder von ihnen war bereit, das Seine zu tun.
Dietmar von Arnstein bleckte die Zähne in Richtung der Burg, als wolle er in deren Mauern beißen. Dann wandte er sich mit einer heftigen Bewegung zu Michel um. »Wir haben die Zinnen bereits einmal gestürmt, also sollte es uns auch ein zweites Mal gelingen. So Gott will, sind wir schnell genug.«
Michel lächelte ihm dankbar zu. »Wenn wir meinen Sohn retten können, werde ich dem heiligen Christophorus eine Kapelle bauen und mit meiner Frau eine Wallfahrt zu den vierzehn Nothelfern bei Staffelstein unternehmen.«
»Mit welcher von beiden?«, platzte Friedrich von Hettenheim heraus. Der Lohn war die zweite Ohrfeige seines Vaters innerhalb von Tagesfrist.
»Bürschchen, solltest du glauben, im Kreise von erwachsenen Männern frech werden zu können, werde ich dich wieder zu deinen Brüdern stecken! Hast du mich verstanden?« Ritter Heinrichs Drohung war so ernst gemeint, dass sein Sohn sich bis an die Zeltwand zurückzog und die Zähne zusammenbiss, damit ihm kein weiteres Anstoß erregendes Wort entfloh.
Grimald gesellte sich zu ihm und versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Mach dir nichts draus! Mein Vater ist genauso streng. Doch wenn wir morgen wacker fechten, werden sie mit uns zufrieden sein.«
Dietmar von Arnstein drehte sich zu seinem Sohn um und musterte ihn spöttisch. »Das Fechten werdet ihr beide morgen bleiben lassen, denn ihr werdet das Lager bewachen!«
»Oh nein, wir wollen doch …«
»… tun, was euch gesagt wird!«, unterbrach Ritter Heinrich den jungen Arnsteiner scharf. »Das hier ist kein Spiel für Knaben. Außerdem müsst ihr eine wichtige Aufgabe erfüllen, doch davon erfahrt ihr später.«