VIII.

 

Hiltrud war ebenso traurig wie erleichtert, als Marie an diesem Morgen von Abreise sprach, denn ihre Freundin war bereits länger geblieben als geplant, und sie machte sich Sorgen, ob diese den weiten Weg noch ohne Probleme würde zurücklegen können. Natürlich hätte sie ihr Obdach geboten, bis die Geburt vorüber war und Marie mit ihrem Kleinen bei schönem Wetter reisen konnte. Aber als Gemahlin eines Reichsritters war ihre Freundin verpflichtet, unter den Augen hochrangiger Zeugen zu gebären, und sie durfte ihrem Mann nach all dem Schweren, das sie und Michel durchgemacht hatten, auch nicht länger fernbleiben.

Daher nickte Hiltrud bedächtig, setzte Marie einen goldbraun gebackenen Pfannkuchen vor und reichte ihr den Honig. »Mein Herz ist schwer, wenn ich daran denke, dass wir uns so rasch wieder trennen müssen. Diesmal aber ziehst du nicht auf gefährlichen Pfaden davon, sondern kehrst in die Arme deines dich liebenden Ehemanns zurück und zu deiner kleinen Tochter. Wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst, musst du Trudi mitbringen. Ich möchte doch wissen, wie sich mein Patenkind gemacht hat.«

»Natürlich bringe ich sie mit, und ich hoffe, Michel wird uns begleiten.« Marie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die ihr bei dem Gedanken an ihre Abreise in die Augen stiegen. Abgesehen von Michel und Trudi gab es keinen Menschen auf der Welt, dem sie sich enger verbunden fühlte als Hiltrud, und sie bedauerte nicht zum ersten Mal, dass das Schicksal sie in eine so weit entfernte Gegend verschlagen hatte.

»Wir beide sind wirklich Hühner«, schniefte sie, während sie ihre Wangen trocken rieb. »Tun wir doch so, als wäre es ein Abschied für immer! Dabei komme ich spätestens in zwei Jahren wieder. Reden wir lieber über etwas anderes. Wie du weißt, würde ich gerne eine deiner Töchter mitnehmen und ihr später eine angemessene Heirat stiften.«

Hiltrud seufzte und wiegte den Kopf. Bisher war immer nur von Mariele die Rede gewesen, und nun sprach Marie von einer ihrer Töchter. Auch wenn sie beide Mädchen von ganzem Herzen liebte, war ihr klar, dass Mechthild sich leichter in das Leben einer Bäuerin oder Frau eines einfachen Handwerkers einfügen würde als Mariele, die jetzt schon eine Schönheit zu werden versprach.

Ein wenig in ihrem mütterlichen Stolz gekränkt, legte sie Marie den nächsten Pfannkuchen vor. »Ich werde mit den beiden reden und ihnen sagen, dass eine von ihnen dich begleiten wird. Im Augenblick aber liegt mir mehr am Herzen, was du mit Michi vorhast. Er war lange von uns getrennt, und ich möchte dich bitten, ihn wenigstens den Winter über bei uns zu lassen. Ich hoffe nicht, dass ihm daraus ein Nachteil erwächst, denn er ist natürlich stolz darauf, einem Reichsritter dienen zu dürfen …«

Sie spürte selbst, dass ihre Worte eine Schranke zwischen ihnen errichtete, aber sie konnte sie nicht mehr zurücknehmen.

Marie machte eine Bewegung, als wolle sie den Schatten vertreiben, der sich über die Küche gesenkt hatte, und rang sich ein Lächeln ab. »Warum sollte Michi nicht eine Weile bei euch bleiben dürfen? Der Junge wird sich freuen, euch den Winter über seine Abenteuer in Böhmen erzählen zu können, und dein Mann kann ihn bei der ersten Aussaat des Frühjahrs gewiss brauchen. Irgendwann im frühen Sommer soll er dann nach Kibitzstein reisen und eine seiner Schwestern mitbringen. Ich muss das Mädchen ja nicht sofort mitnehmen.« Dieses Angebot sollte Hiltrud wieder versöhnen.

Die Ziegenbäuerin schnaufte erleichtert und lachte wie befreit auf. »Du bist doch die Beste, Marie! Wo wäre ich heute, wenn ich dich nicht getroffen hätte? Wahrscheinlich zöge ich als eine jener Pfennighuren von Markt zu Markt, die sich für altes Brot oder ein fadenscheiniges Kleidungsstück unter die Freier legen müssen und deren Ersparnisse kaum reichen, um über den Winter zu kommen.«

Sie zog Marie an sich und umarmte sie unter Tränen. Nach kurzer Zeit hatte sie sich gefasst und lachte wieder, obwohl es von ihren Augen noch nass über die Wangen rann. »Natürlich musst du entscheiden, welche meiner Töchter du unter deine Fittiche nehmen willst, und du solltest sie auch gleich mitnehmen. Michi kann im nächsten Frühjahr mit Häschen nachkommen. Oder hast du deine Stute schon vergessen?« Es klang ein wenig empört, denn Hiltrud hatte das Tier, das nicht zur Bauernarbeit taugte, nun schon zwei Jahre lang durchgefüttert.

»Natürlich will ich mein Stütchen wiederhaben. Ich würde sie ja am liebsten gleich mitnehmen, aber ich glaube, es ist wirklich besser, sie bleibt bei euch, bis Michi sie für die Reise nach Kibitzstein satteln kann. Es dürfte ihm gefallen, den Weg hoch zu Ross wie ein Edelmann zurücklegen zu können.« Marie lächelte Hiltrud zu und rang sich ein Zugeständnis ab, mit dem sie Hiltrud froh machen würde. »Ich werde doch Mariele mit mir nehmen. Aber wenn sie nicht spurt, wird sie die Rute zu spüren bekommen.« Das klang schärfer, als Marie es beabsichtigt hatte, und sie bedauerte ihre Worte sofort.

Hiltrud lächelte jedoch zufrieden. »Dagegen habe ich nichts. Beutle sie nur tüchtig, wenn sie zu viele Flausen im Kopf hat. Schließlich ist sie eine Bauerntochter und kein Fräulein vom Stand, auch wenn sie sich einbildet, eines werden zu können. Sie wäre noch weniger, wenn du mir nicht diesen schönen Hof geschenkt hättest. Andere wären nicht so großzügig gewesen wie du und Michel.«

Damit war der Frieden zwischen den beiden Freundinnen wiederhergestellt, und Marie musste noch eine weitere tränenfeuchte Umarmung über sich ergehen lassen. Hiltrud hätte sie wohl noch eine Weile an ihr Herz gedrückt, aber Anni kam herein und sah sich um, in der Hoffnung, noch etwas vom Frühstück abzubekommen. Da Hiltrud so viele Pfannkuchen gebacken hatte, dass selbst eine Riesin davon satt geworden wäre, lud sie dem Mädchen einen nach dem anderen auf den Teller. Während Anni mit vollen Backen kaute und auch nicht mit Honig sparte, schmiedete Hiltrud Pläne für Maries letzte Tage auf dem Ziegenhof.

»Bevor du abreist, werden wir wohl noch ein Schwein schlachten, damit du frische Bratwürste essen kannst.«

»Dagegen habe ich nichts!« Für Bratwürste hatte Marie schon in den Zeiten, in denen sie mit Hiltrud gezogen war, etliche schwer verdiente Münzen geopfert, und sie wusste, dass Hiltrud extra für sie Rezepte ausprobiert hatte, um noch leckerere Würste zu stopfen. So unterhielten sie sich munter und in bester Laune, bis Hiltrud von einer ihrer Mägde an ihre Pflichten erinnert wurde. Als ihre Freundin die Küche verließ, beschloss Marie, in die Stadt zu fahren und ihren Abschiedsbesuch bei Hedwig und Ischi zu machen.

Kurz darauf rollte ein leichter Wagen im gemütlichen Tempo nach Rheinsobern. Als er auf den Weg bog, der zur Stadt führte, griffen Marie und Anni zu der Schaffelldecke, die Hiltrud ihnen fürsorglich mitgegeben hatte, und breiteten sie über die Beine, denn die Luft war kalt; ihr Atem stand als weiße Wölkchen vor ihren Gesichtern.

Marie seufzte. »Es ist wirklich an der Zeit, Abschied zu nehmen. Dabei hasse ich Abschiede mehr als alles andere. Sie haben so etwas Endgültiges an sich.«

Sie klang so traurig, dass Anni versuchte, ihre Herrin zu trösten. Marie wollte jedoch in aller Ruhe ihren Gedanken nachhängen und legte dem kleinen Plagegeist die Hand auf die Schulter. »Es ist nichts Schlimmes! So ein Gefühl erfasst ab und an eine Frau, die mit einem Kind schwanger geht. Man glaubt, weinen zu müssen, obwohl man eigentlich keinen Grund dazu hat.«

»Du versprichst mir, morgen nicht mehr traurig zu sein?« Annis Blick glich dem eines bettelnden Hundes.

»Das verspreche ich dir!« Marie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Am Stadttor musste Hiltruds Knecht warten, bis ein anderes Gefährt es in Gegenrichtung passiert hatte. Es handelte sich um einen großen Reisewagen, wie ihn Leute von Stand benutzten, die nicht reiten wollten oder konnten. Das Wappen war nicht mehr zu erkennen, denn Wind und Wetter hatten es ausgebleicht. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte das Gesicht einer alten Frau hinter der Öffnung im Schlag auf, dann wurde der Ledervorhang hastig geschlossen. Verblüfft kratzte Marie sich am Kopf, denn sie glaubte, ihre einstige Wirtschafterin Marga in dem Wagen erkannt zu haben. Da aber keine Dame von Stand eine niedere Magd in ihrem Reisewagen mitfahren lassen würde, verwarf sie diesen skurrilen Gedanken.

Der Besuch bei Hedwig, die auch Ischi zu Besuch hatte, dauerte fast bis zum Abend und endete mit jenem tränenreichen Abschied, den Marie so verabscheute. Ihre Base und ihre einstige Leibmagd taten gerade so, als müssten sie sie auf den Gottesacker bringen, und ließen sich von keiner Versicherung beruhigen, dass der Weg nach Kibitzstein über Rhein und Main völlig ungefährlich war. Für Hedwig, deren längste Reise sie vor vielen Jahren von Konstanz in ihre neue Heimat Rheinsobern geführt hatte, lagen Franken und die Burg Kibitzstein am anderen Ende der Welt, und sie wollte nicht glauben, dass man solch eine lange Reise unbeschadet überstehen konnte.

»Jetzt beruhige dich doch endlich! In zwei, spätestens drei Jahren bin ich wieder bei euch«, versuchte Marie die beiden weinenden Frauen zu trösten.

Hedwig und Ischi nickten bekümmert und klammerten sich an sie, als wollten sie sie nie mehr loslassen. Daher war Marie froh, als Ischis Ehemann Ludolf eintrat, ihr etwas scheu die Hand reichte und seine Frau nach Hause führte. Das gab ihr die Gelegenheit, ebenfalls aufzubrechen. Hedwig begleitete ihren Wagen bis an das Stadttor und blieb dann noch immer weinend zurück. Marie winkte ihr zu, solange sie sie sehen konnte, atmete dann aber erleichtert auf und richtete ihre Gedanken auf die Zukunft. In wenigen Wochen war sie wieder bei Michel und Trudi, und keine zwei Monate später würde das neue Leben, das in ihr wuchs, ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit fordern.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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