V.

 

Mitten in der Nacht glaubte Marie, das Klirren von Waffen zu hören, und fühlte, wie sich ihr die Haare auf den Armen aufrichteten. Wie es aussah, bewahrheitete sich die böse Vorahnung, die sie seit dem Besuch bei Wassilissa quälte. Besorgt weckte sie Alika und befahl ihr, die beiden Kinder in mehrere Lagen warmer Tücher zu hüllen. »Es kann sein, dass wir das Haus verlassen und durch die Kälte laufen müssen«, sagte sie und suchte rasch all das zusammen, was sie in den letzten Monaten mühsam gesammelt hatte.

»Endlich fliehen wir! Das ist gut. Der Fürst hat mich heute angesehen wie die Hyäne ein Antilopenkalb!« Alika atmete sichtlich auf, denn die Kräuter, die ihrem Körper zu einem hässlichen Ausschlag verholfen hatten, wirkten im frischen Zustand besser als getrocknet, und der größte Teil der Pusteln begann sich bereits zurückzubilden.

Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Marie den Kopf. »Nein, wir fliehen nicht. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Dennoch solltest du uns warme Kleidung besorgen. Ich sehe mich inzwischen um.«

Alika war klar, dass sie am nächsten Morgen Prügel beziehen würde, wenn sie sich ohne Erlaubnis der Aufseherin in der Kleiderkammer bediente, aber ehe sie die Freundin fragen konnte, hatte diese sich ihren abgeschabten Mantel um die Schultern geworfen und war zur Tür hinausgeschlüpft.

Nun schlich Marie lauschend den Gang entlang, der zum Hauptausgang führte, und wunderte sich über die unheimliche Stille. Sonst hörte man draußen einen Knecht fluchen, der auf dem Weg zum Abtritt über einen Gegenstand gestolpert war, die Stimmen der Wachen, die sich unterhielten, um nicht einzuschlafen, und oft sogar den Lärm, den Dimitri und seine Gefolgsleute bei ihren bis früh in den Morgen dauernden Saufgelagen machten. Nicht einmal der Wind war zu vernehmen, der sonst um das Haus strich und es das eine oder andere Mal erzittern ließ. Als Marie an einem der Fenster vorbeikam, blieb sie stehen und öffnete die Läden. Sie sah jedoch nicht mehr als dicke Flocken, die so dicht vom Himmel fielen, als wollten sie den Kreml und die Stadt unter ihrer weißen Last ersticken.

Nun vernahm sie erneut das Geräusch, mit dem Eisen auf Eisen schlug, und wütende und entsetzte Rufe. Obwohl der Schnee jedes Geräusch dämpfte, war ihr, als würde in der Stadt gekämpft. Doch keiner der Soldaten, die auch nachts die wichtigsten Pforten bewachten, schlug Alarm.

Marie lief schnell weiter, ohne das Fenster wieder zu schließen, und trat ins Freie. Das Haupttor in der Umzäunung, die den Terem umgab, stand weit offen, nirgends war ein Soldat zu erblicken. Im Palast brannte noch Licht, und Marie wandte sich dem Schein zu wie eine Motte, die von einer Flamme angezogen wird. So schnell der Schnee es erlaubte, lief sie hinüber und stellte fest, dass es auch vor diesem Tor keine Wachen gab. So schlich sie weiter, obwohl sie sich der Gefahr bewusst war, von einem der angetrunkenen Gefolgsleute des Fürsten in eine Ecke gezerrt zu werden. Sie wollte wissen, was geschehen war.

Die große Halle wurde von den Resten blakender Fackeln erhellt, so dass die Folgen eines Saufgelages zu erkennen waren, das heftiger gewesen sein musste als alle, von denen Marie gehört hatte. Mehr als zwei Dutzend der Gefährten des Fürsten lagen durcheinander auf dem Fußboden und gaben gurgelnde Schnarchgeräusche von sich, und es stank widerlich nach Branntwein und Erbrochenem.

Angeekelt ging Marie an den Männern vorbei, um zu sehen, ob es noch jemanden gab, den sie auf die Beine bringen konnte. Sie kannte alle, die hier ihren Rausch ausschliefen. Selbst Dimitri hatte es nicht mehr bis in seine Kammer geschafft, sondern hing halb über die Lehne seines Thrones. Hatte es zuerst ausgesehen, als wären alle Mitglieder des engeren Kreises um den Fürsten vom Branntwein außer Gefecht gesetzt worden, so vermisste Marie nun Andrej, dessen Onkel Lawrenti, den Priester Pantelej und einen der Jüngsten aus diesem Kreis. Auch Dimitris Bruder war nirgends zu sehen.

Für einen Augenblick atmete sie auf, denn sie nahm an, dass Lawrenti und sein Neffe sich bereits um den Aufruhr in der Stadt kümmerten. Doch in dem Moment hallten draußen Schritte auf, und Andrej stolperte fluchend durch die Tür, stieg über die Schlafenden und blieb vor dem Hochsitz des Fürsten stehen. Dort nestelte er an seiner Hose und holte sein Glied heraus.

Dann bemerkte er Marie und fuhr sie an. »Du hast nichts gesehen, verstanden!«

»Gewiss nicht, Herr! Aber hier ist niemandem mehr zu helfen.« Marie drückte sich in eine Ecke und überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Einfach weglaufen und in den Terem zurückkehren wollte sie nicht, denn es war nicht ihre Art, in einer offensichtlich gefährlichen Situation die Hände in den Schoß zu legen. So tastete sie nach dem Dolch, den sie in die Tasche ihres Mantels geschoben hatte, um sich notfalls wehren zu können.

Andrej aber folgte ihr nicht, sondern lachte bitter auf. »Helfen? Ha! Ich will auf Dimitris Thron pinkeln, das hat er nämlich verdient! Soll er sich doch fragen, welches dieser besoffenen Schweine es gewesen sein kann.«

Während Andrej seinem übermächtig werdenden Harndrang freien Lauf ließ, schüttelte Marie nur den Kopf. Männer waren eine seltsame Gattung Mensch, die zu begreifen einer Frau wahrlich schwer fiel. Selbst ihr Michel hatte von Zeit zu Zeit auf eine für sie seltsame Weise reagiert. Doch jetzt war nicht die Zeit, über die Verrücktheiten der Männer zu philosophieren.

Nachdem Andrej erleichtert grinsend sein Glied verstaut hatte, fasste sie wieder Mut, trat auf ihn zu und zupfte ihn am Hemd.

»Herr, in der Stadt gehen eigenartige Dinge vor. Ich glaube, dort wird gekämpft!«

Andrej begriff zunächst nicht, was sie da gesagt hatte, doch dann packte er sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Was faselst du da?«

»In der Stadt wird gekämpft! Ich habe das Klirren von Schwertern gehört und Schreie. Außerdem stehen unsere Wachen nicht auf ihren Posten.«

»Unmöglich!« Andrej ließ Marie los und stieß sie von sich. Marie stolperte über einen der betrunkenen Schläfer und fiel zu Boden. Angeekelt von dem Gestank, der von dem Mann aufstieg, sprang sie auf und eilte zu einem der Fenster und stieß die Läden auf.

»Hört doch selbst, Herr!«

Jetzt waren die Geräusche ganz deutlich zu vernehmen und erklangen viel näher als vorher. Andrej eilte an ihre Seite und starrte in die helle Winternacht hinaus. Zunächst wollte er nicht glauben, was seine Ohren ihm meldeten. Dann stieß er einen Fluch aus, für den Pantelej ihn mit Fasten und Gebeten bestraft hätte. »Verdammt, was ist denn da im Gange? Los, aufwachen!«

Er versetzte einigen der Schläfer heftige Fußtritte, doch außer missmutigen Lauten erreichte er nichts. Auch als er den Fürsten rüttelte, lallte dieser nur etwas, ohne aus seinem Rausch zu erwachen. Andrejs Flüche steigerten sich noch, und dann brüllte er schier den Palast zusammen.

»Heh, aufwachen, Alarm, verdammt noch mal. Wollt ihr wohl aufwachen?«

Es dauerte nicht lange, da kamen ein paar erschreckte Knechte zur Tür herein. Andrej packte einen von ihnen und schleppte ihn zum offenen Fenster. »Sieh nach, was in der Stadt los ist, und gib mir Bescheid.«

»Ja, Herr«, antwortete der Knecht, machte aber keine Anstalten zu gehen.

Andrej versetzte ihm einen Hieb mit der Faust. »Verschwinde endlich, du Hund! Und ihr anderen bewaffnet euch gefälligst. Wo stecken die Wachen und was ist mit der Garde des Fürsten?«

»Die Soldaten haben ordentlich gebechert, aber nicht so schlimm wie die Tataren. Die haben nämlich den Branntwein nicht vertragen, den dein Onkel ihnen spendiert hat«, erklärte einer der Knechte.

»Lawrenti hat den Tataren Branntwein spendiert? So viel Großzügigkeit sieht ihm gar nicht ähnlich. Wo ist er eigentlich abgeblieben? Seht zu, dass ihr ihn findet. Weckt jeden auf, der in der Lage ist, auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Schüttet notfalls Wasser über die Kerle, damit sie wach werden. Dies gilt auch für die Tataren.«

»Wie du befiehlst, Herr.« Die Knechte nickten zustimmend, doch die Blicke, die sie einander zuwarfen, hätten einem aufmerksameren Beobachter als Andrej verraten, dass sie wenig Lust hatten, ihre Haut zu riskieren. Die hohen Herren waren gleich mit Stock und Peitsche bei der Hand, wenn man sie allzu energisch weckte, und bei den Tataren konnte man diesen Versuch mit dem Leben bezahlen.

Die Männer liefen aus dem Saal, als wollten sie die Anweisungen ausführen, draußen aber suchten sie versteckte Winkel auf, in der Hoffnung, ungeschoren davonzukommen, ganz gleich, wer sich draußen in der Stadt stritt. An einen Feind von außen dachte niemand, auch Andrej nicht, der viel zu erregt war, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Da er nicht wusste, was er von dem Ganzen halten sollte, eilte er in seine Kammer, um seine Rüstung anzulegen und sein Schwert zu holen.

Marie wollte die Gelegenheit nützen, wieder in den Terem zurückzukehren und sicherheitshalber alles an sich zu nehmen, was für eine Flucht notwendig war. Wenn wirklich ein fremdes Heer in die Stadt eingedrungen war, mussten Alika und sie die Verwirrung nutzen, um nicht den Feinden in die Hände zu fallen. Auf dem Weg zum Tor kam ihr Anastasia entgegen.

Sie hatte sich nur ihren Pelzmantel über das Nachtgewand gezogen und zwei verschiedene Pelzstiefel an.

»Was ist passiert? Was bedeutet dieser Tumult? Ich habe gerufen und gerufen, aber außer deinen beiden Mägden ist niemand erschienen, auch meine Leibmagd nicht!«

Marie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Herrin. Andrej Grigorijewitsch hat einen Knecht in die Stadt geschickt, um es herauszufinden.

»Was ist mit meinem Gemahl?«

»Er schläft.«

»Er ist also wieder einmal stockbetrunken.« Anastasias Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse, denn sie hatte in letzter Zeit immer häufiger erlebt, dass ihr Gemahl nach dem Genuss dieses ausländischen Branntweins nicht mehr in der Lage war, auf den eigenen Beinen zu stehen. Es wunderte sie nur, Andrej scheinbar nüchtern auf sich zukommen zu sehen, denn der war immer einer der eifrigsten Zechgenossen ihres Mannes gewesen. Jetzt steckte der junge Edelmann in seiner Rüstung und hielt das Schwert in der Faust, als erwarte er jeden Augenblick, Feinde auftauchen zu sehen.

»Ist alles bereit?«, fragte Andrej einen Knecht, der draußen vorbeihuschen wollte. Der Bursche nickte wider besseres Wissen und verschwand wieder.

»Was ist geschehen, Andrej Grigorijewitsch?« Die Fürstin zog den Mantel enger um sich, als suche sie Schutz.

»Ich kann es noch nicht sagen, Herrin. Wahrscheinlich werde ich selbst in die Stadt gehen müssen, um es zu erfahren.« Er verbeugte sich knapp und wollte weitergehen, als der Knecht wieder auftauchte, den er weggeschickt hatte.

Der Bursche zitterte am ganzen Körper, allerdings weniger aus Angst, sondern weil er sich nicht die Zeit genommen hatte, einen Mantel und feste Stiefel anzuziehen. »Feinde, Herr! Sehr viele Feinde, und sie kommen genau auf den Palast zu.«

»Wie konnten sie das Stadttor gewinnen? Es hat doch keinerlei Alarm gegeben.« Andrej fragte den Mann nach Einzelheiten aus, und was er vernahm, versetzte ihn in Panik. Da kam kein kleiner Kriegshaufen, der in der Stadt plündern und vor den Toren des Kremls Halt machen würde.

»Da ist Verrat im Spiel! Die Kerle wollen wahrscheinlich nichts weniger, als Worosansk in ihre Hand bekommen. Verflucht seien Dimitri und seine Speichellecker, die es dazu haben kommen lassen!« Andrej schüttelte sich trotz der Rüstung und wandte sich an Anastasia.

»Uns bleibt nur die Flucht, Herrin. Lauf hinüber und kleide dich warm an. Nimm an Schmuck und Gold mit, was du findest. Marija, hilf der Fürstin! Und du Hund«, sein Blick suchte den Knecht, »sorgst dafür, dass die besten Pferde im Stall gesattelt werden. Außerdem schickst du ein paar Knechte in die Halle, die Dimitri Michailowitsch zu den Ställen bringen sollen. Notfalls müssen sie ihn wie einen Sack auf sein Pferd binden. Wenn er morgen aus seinem Rausch erwacht und erfährt, dass er durch seine Trunksucht sein Reich verloren hat, wird er zwar fluchen, aber er ist wenigstens noch am Leben.«

Für einen Augenblick huschte ein böses Grinsen über Andrejs Gesicht, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Worauf wartet ihr noch?«, herrschte er Marie und die Fürstin an, die sich wie Schlafwandlerinnen bewegten, und hob die Hand, als wolle er sie mit Schlägen zur Eile antreiben.

Marie nahm Anastasia, die wie erstarrt stehen geblieben war, bei der Hand und führte sie zum Terem. Dort trafen sie auf Alika und Gelja, die den Thronfolger und Lisa auf den Armen trugen und sich ratlos umsahen. Die Kinder waren warm verpackt, und die Frauen hatten sich großzügig in der Kleiderkammer bedient.

»Sie sind alle weg!«, stotterte Gelja.

»Wer ist weg?«, fragte Marie.

»Die Hofdamen! Einige Mägde schlafen wie betäubt, und die anderen sind verschwunden.«

»Andrej hat Recht! Da ist verdammt viel Verrat im Spiel«, antwortete Marie. »Machen wir, dass wir wegkommen, ehe es zu spät ist.«

Sie führte Anastasia zu deren Gemächern, und dort bestätigte sich, was Gelja berichtet hatte. Das Lager der Leibmagd war unberührt und die Kammern der Hofdamen, die sich um die Zimmer der Fürstin gruppierten, standen leer. Marie zog Anastasia aus und half ihr in einige Schichten warmer Kleider. Dann bediente sie sich selbst aus den Truhen der Fürstin. Die Kleider waren weit genug, aber es fand sich kein Mantel darin, und da Marie nicht quer durch das Gebäude zur Kleiderkammer laufen wollte, schlüpfte sie in das Zimmer der Haushofmeisterin, zündete die von der Decke herabhängende Öllampe an und schlug mit einem eisernen Kerzenständer die Schlösser an einer der Truhen ab. Wie sie gehofft hatte, lag der ältere der beiden dicken Pelzmäntel, die die Dame besaß, noch an seinem Platz.

Einmal im Schwung erbrach Marie noch eine kleinere Schatulle und schüttete die zumeist goldenen Münzen in ein kleines Kopfkissen, aus dem sie einen Teil der Wolle entfernte. Sie verteilte das Geld so, dass es nicht auffällig klirrte, und befestigte den Beutel mit ein paar Lederriemen an einem Gürtel, den sie ebenfalls zu ihrem Eigentum machte. Schon ein kleiner Teil dieses Schatzes würde ihr helfen, mit Alika und Lisa bequem in die Heimat zu reisen. In dem ganzen Trubel hier würde das Fehlen des Goldes nicht auffallen; wenn der Palast wirklich von fremden Kriegern geplündert wurde, war das Geld so oder so verloren. In ihren Taschen vermochte es bessere Dienste zu leisten als in denen eines Soldaten, der es doch nur für Met und Huren ausgeben würde.

Als sie zur Fürstin zurückkehrte, kniete Anastasia auf dem Fußboden und betete inbrünstig. Von irgendwoher war Pantelej aufgetaucht und hatte sich zu ihr gesellt. Der Priester sah um Jahre gealtert aus und schlug immer wieder das Kreuzzeichen, als müsse er sich gegen böse Kräfte wappnen.

Kurz darauf erschien Andrej mit einem Gesicht, das von Wut und höchster Anspannung gezeichnet war. »Wir müssen sofort aufbrechen, Herrin! Die ersten Feinde haben den Palast schon erreicht. Wenn wir Glück haben, können wir eine der Nebenpforten öffnen, ehe man uns bemerkt.« Da Anastasia nicht auf seine Worte reagierte, hob er sie kurzerhand auf und trug sie hinaus.

Marie schob Alika und Gelja hinter ihnen her. »Auf geht’s!«

Anders als die Fürstin war sie nicht vor Angst erstarrt, sondern spürte, wie ihr Körper vor Erregung kribbelte. Die Freiheit schien nun greifbar nahe zu sein, denn sie hatte vor, sich in dem Moment, in dem sich eine halbwegs sichere Gelegenheit bot, mit Lisa und Alika in die Büsche zu schlagen. Während sie hinter Andrej herhastete, dachte sie daran, dass sie eigentlich bei der Fürstin hatte bleiben wollen, bis deren zweites Kind geboren war, streifte ihre Gewissensbisse aber mit einem Achselzucken ab, denn in der Not war sich jeder selbst der Nächste. Ganz wohl war ihr bei diesem Gedanken jedoch nicht. Immerhin hatte Anastasia sie durch den Kauf vor einem schrecklicheren Schicksal bewahrt und trotz aller Launen recht gut behandelt. Doch ihr Wunsch, frei zu sein und zu den Ihren zurückzukehren, war stärker als jede Dankbarkeit.

Als Marie den Stall erreichte, hob Andrej gerade die Fürstin auf ihre Stute. Die Pferde waren bereits gesattelt worden, doch der Hengst, den Fürst Dimitri gewöhnlich ritt, wartete noch auf seinen Herrn. Dies bemerkte Andrej erst, als er selbst aufsteigen wollte. Außer ihm, Anastasia und dem Priester waren offensichtlich nur Marie, die junge Afrikanerin und Gelja bereit, ihm zu folgen. Da die beiden Mägde die Kinder festhalten mussten, würden sie sich eher als Hindernis erweisen, denn sie konnten keinen scharfen Trab, geschweige denn einen Galopp durchstehen. Andrej bleckte ärgerlich die Zähne und blickte kurz in die Unterkünfte der Pferdeknechte, um wenigstens dort Männer zu finden, die mit ihnen reiten und den Frauen helfen konnten. Doch die Kerle hatten sich ebenfalls aus dem Staub gemacht.

»Der Teufel soll sie holen!«, fluchte er, als er sein Pferd zum Stalltor führte. Da die Fürstin vor Angst wie erstarrt schien, stieß er Marie an und zeigte auf eine Lücke zwischen zwei Gebäuden. »Dahinter führt eine Pforte in den südlichen Teil der Stadt! Man hört von dort noch keinen Lärm aufklingen. Also können wir hoffen, dass der Feind da noch nicht herumschwärmt. Reitet geradewegs die Straße hinunter zum Südtor. Wenn Gott uns gnädig ist, findet ihr es noch unbesetzt.«

»Und wenn nicht?«, fragte Marie.

»Dann soll Gott uns doppelt gnädig sein. Und jetzt verschwindet endlich! Ich kehre noch einmal in die Halle zurück und hole Dimitri.« Andrej gab dem Pferd, auf dem Marie saß, einen Klaps auf den Hintern und sah es antraben.

Ihre Reitkünste waren mehr als bescheiden, doch die Stute, die man ihr gesattelt hatte, erwies sich als sanft und gehorsam. Das galt wohl auch für die anderen Pferde, denn sie liefen eines nach dem anderen hinter Maries Reittier her, obwohl Alika und Gelja nicht einmal die Zügel festhielten.

Andrej blickte ihnen nach, bis sie von der Dunkelheit und dem dichter werdenden Schneetreiben verschluckt worden waren, und wollte dann in den Palast zurückkehren. Doch er hatte das Portal noch nicht erreicht, als mehrere Krieger vor ihm auftauchten. Es waren keine Tataren auf einem Winterstreifzug, wie er angenommen hatte, sondern einfache russische Soldaten. Kaum hatten die Männer ihn gesehen, drangen sie brüllend auf ihn ein. Andrej wehrte sie beinahe spielerisch, aber mit tödlichen Hieben ab und sah für einen Augenblick auf ihre Leiber hinab, unter denen sich der Schnee dunkel färbte. So einfach, wie diese Kerle es offensichtlich angenommen hatten, würde es ihnen doch nicht fallen, den Palast zu erobern.

»Verdammt sei Lawrenti! Warum hat er den Tataren Branntwein gegeben? Wären sie nur halbwegs nüchtern, würde ich dieses Geschmeiß mit ihnen zum Teufel jagen!«

In dem Augenblick vernahm Andrej nicht weit von sich ebenfalls Waffengeklirr. Er eilte vorsichtig darauf zu und entdeckte weiter vorne einige Tataren, die sich gegen eine überlegene Schar von Feinden zur Wehr setzten. Sie waren zu betrunken, um richtig kämpfen zu können, und wurden von ihren Gegnern in Stücke gehauen. Geräusche von Schwerthieben in ihrem Quartier verrieten, dass ihre Kameraden, die nicht mehr auf die Beine gekommen waren, drinnen erschlagen wurden.

Andrej begriff, dass er hier nichts mehr tun konnte, und rannte zum Palast zurück. Dabei sah er sich aufmerksam um und entdeckte eine größere Zahl von Feinden, die sich dem Prunkbau näherten, den Fürst Michail einst für sich hatte errichten lassen. Gegen so viele Gegner konnte auch er nichts mehr ausrichten, und so musste er Dimitri verloren geben. Obwohl er sich im letzten halben Jahr beinahe ständig über seinen fürstlichen Freund geärgert hatte, tat ihm der Gedanke weh, ihn hilflos in die Hände der Angreifer fallen zu lassen. Doch es war niemandem damit geholfen, wenn er für Dimitri kämpfte, bis die Übermacht ihn überwältigte und in Stücke riss, wie die Angreifer es mit den Tataren gemacht hatten. Anastasia brauchte ihn lebend, denn allein würde ihr und ihren Mägden, die überdies noch mit Kindern belastet waren, die Flucht nicht gelingen. Wenn sie nicht den Verfolgern in die Hände gerieten, würden sie ein Opfer der Wölfe werden, die zu dieser Zeit in großen Rudeln auftauchten und besonders aggressiv waren. Trotz dieser guten Gründe hasste er sich dafür, dass er floh.

Als er sich auf dem Weg zum Stall noch einmal umsah, traf ihn der Anblick, der sich ihm nun bot, wie ein Schlag. Eine Gruppe von gut gerüsteten Anführern, die von Soldaten mit Fackeln begleitet wurden, hielt auf den Eingang des Palastes zu. Unter ihnen erkannte er neben einigen von Dimitris früheren Beratern seinen Onkel Lawrenti, Anatoli Jossifowitsch und den Methändler Grischa Batorijewitsch, der jetzt allerdings keinen untertänigen Eindruck machte, sondern stolz in Eisen gewappnet neben den anderen Recken einherschritt.

Andrej begriff in diesem Moment das Ausmaß des Verrats und weinte vor Wut über die Falschheit der Männer, die er für seine Freunde gehalten hatte. Nun konnte er nicht mehr für seinen einstigen Freund Dimitri tun, als Anastasia und seinen Sohn zu retten. Da die Angreifer sich als Herren der Lage fühlten und nur wenig Vorsicht walten ließen, erreichte er unbehelligt sein Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt los. Die Pforte in der Kremlmauer stand weit offen, und als er durch die Stadt ritt, huschten die wenigen Menschen, die sich außerhalb ihrer Häuser sehen ließen, beim Knirschen des Schnees unter den Hufen seines Pferdes davon. Zu seiner Erleichterung hatte der Feind das Südtor von Worosansk noch nicht besetzt, und als er das freie Land erreichte, schöpfte er Hoffnung, mit den Frauen und dem Popen entkommen zu können. Er kannte die Gegend um Worosansk besser als den Inhalt seines Geldbeutels, und als er der schon von Schnee bedeckten Spur der anderen Pferde folgte, schmiedete er Pläne, wie er die Verfolger, die sich mit Sicherheit auf seine Spur setzen würden, täuschen konnte.

Das Vermächtnis der Wanderhure
cover.html
title.html
dedication.html
part001.html
part001chapter001.html
part001chapter002.html
part001chapter003.html
part001chapter004.html
part001chapter005.html
part001chapter006.html
part001chapter007.html
part001chapter008.html
part001chapter009.html
part001chapter010.html
part001chapter011.html
part001chapter012.html
part001chapter013.html
part002.html
part002chapter001.html
part002chapter002.html
part002chapter003.html
part002chapter004.html
part002chapter005.html
part002chapter006.html
part002chapter007.html
part002chapter008.html
part002chapter009.html
part002chapter010.html
part002chapter011.html
part002chapter012.html
part002chapter013.html
part002chapter014.html
part003.html
part003chapter001.html
part003chapter002.html
part003chapter003.html
part003chapter004.html
part003chapter005.html
part003chapter006.html
part003chapter007.html
part003chapter008.html
part003chapter009.html
part003chapter010.html
part003chapter011.html
part003chapter012.html
part003chapter013.html
part003chapter014.html
part003chapter015.html
part004.html
part004chapter001.html
part004chapter002.html
part004chapter003.html
part004chapter004.html
part004chapter005.html
part004chapter006.html
part004chapter007.html
part004chapter008.html
part004chapter009.html
part004chapter010.html
part004chapter011.html
part005.html
part005chapter001.html
part005chapter002.html
part005chapter003.html
part005chapter004.html
part005chapter005.html
part005chapter006.html
part005chapter007.html
part005chapter008.html
part005chapter009.html
part005chapter010.html
part005chapter011.html
part006.html
part006chapter001.html
part006chapter002.html
part006chapter003.html
part006chapter004.html
part006chapter005.html
part006chapter006.html
part006chapter007.html
part006chapter008.html
part006chapter009.html
part006chapter010.html
part006chapter011.html
part006chapter012.html
part006chapter013.html
part006chapter014.html
part007.html
part007chapter001.html
part007chapter002.html
part007chapter003.html
part007chapter004.html
part007chapter005.html
part007chapter006.html
part007chapter007.html
part007chapter008.html
part007chapter009.html
part007chapter010.html
part007chapter011.html
part007chapter012.html
part007chapter013.html
part007chapter014.html
part007chapter015.html
part008.html
part008chapter001.html
part008chapter002.html
part008chapter003.html
part008chapter004.html
part008chapter005.html
part008chapter006.html
part008chapter007.html
part008chapter008.html
part008chapter009.html
part008chapter010.html
part008chapter011.html
part008chapter012.html
part008chapter013.html
part008chapter014.html
part008chapter015.html
part008chapter016.html
part008chapter017.html
part008chapter018.html
part008chapter019.html
backmatter001.html
abouttheauthor.html
copyright.html