X.

 

Die Auktion, die sich während des Auftretens der Worosansker nur auf Alika konzentriert hatte, ging nun lebhaft weiter, und das Podest leerte sich zusehends. Die meisten der jungen Sklaven gingen an Leute, die Geld genug besaßen, um sich etwas leisten zu können, und die es den Tataren gleichtun wollten. Da die Steppenreiter Sklaven besaßen, sahen auch sie es als ihr gutes Recht an, menschliches Vieh zu halten. Die Mädchen würden irgendwann im Bett ihres Besitzers oder in denen seiner Söhne landen und die Jungen in Tretmühlen rennen oder die schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten verrichten müssen. Anfangs war Marie froh, dass sie selbst nicht beachtet wurde. Die lange Krankheit nach der Geburt, die Seereise ohne Sonne und frische Luft und das einseitige Essen hatten ihr zugesetzt, und seit sie ihr Spiegelbild im Wasser gesehen hatte, wusste sie, dass man sie für älter halten musste, als sie wirklich war. In ihrer Angst, in einem der billigen Bordelle zu landen, machte sie sich klein, um in der Masse der Sklaven nicht aufzufallen.

Dem Händler wurde es schließlich zu dumm. Er wies auf die letzten drei Sklaven, die er bewusst zurückgehalten hatte, und dann auf Marie. »So, Leute, bevor es an diese drei Prachtstücke geht, muss die Alte da weg.«

»Für ein paar Denga nehme ich sie«, rief ein heruntergekommen aussehender Mann und bewegte dann lachend seine Hüften vor und zurück.

Marie verstand zwar seine Worte nicht, begriff aber, was er meinte, und kroch noch mehr in sich zusammen. Der Kerl sah so aus, als müsste sie nicht nur ihm zu Willen sein, sondern auch jedem dahergelaufenen Kerl, der bereit war, ihm eine Münze für ein paar Augenblicke mit ihr zu zahlen.

Ehe der Händler antworten konnte, wurde es vor dem Podest unruhig. Ein Pulk bewaffneter Knechte schuf unter heftigen Protesten der Einheimischen eine Gasse, durch die sich in lange Gewänder gehüllte Frauen dem Podest näherten. Deren Anführerin trug so viele Schichten wallenden Stoffes, dass Marie nur ein bleiches, von einer Kappe und etlichen feinen Tüchern umrahmtes Gesicht mit großen, dunklen Augen erkennen konnte. Die Frau starrte mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf das Podest und schien zu schwanken. Sofort bemühte sich der Händler, die offensichtlich wohlhabende Dame auf sich aufmerksam zu machen. Diese drehte ihm jedoch den Rücken zu und redete auf eine ältliche Untergebene ein.

Als der Sklavenhändler schon ärgerlich abwinken und sich dem anderen Kunden zuwenden wollte, trat die Matrone näher und fuhr ihn an. »Du bist eine Bestie! Wie kannst du diese Frau an den Erstbesten verkaufen wie ein Stück Vieh? Siehst du nicht, dass sie die Mutter eines kleinen Kindes ist?«

Der Mann zuckte unter den harschen Worten zusammen und hob in einer beschwichtigenden Geste die Arme. »Verzeiht, Herrin, doch es ist mein Beruf, für dieses Gesindel Interessenten zu finden, und ich weiß wirklich nicht, was daran schlecht sein soll. Das Weib hier ist nicht mehr die Jüngste, und daher werde ich wohl kaum einen gut zahlenden Käufer dafür finden. Glaubst du, es sei besser, wenn ihr jetziger Besitzer sie samt dem nutzlosen Balg im Fluss ertränkt?«

Marie verstand den Mann zwar nicht, entnahm aber seinem Gesichtsausdruck, dass sie nichts Gutes von ihm zu erwarten hatte. Doch als die hochrangige Dame sich dem Podest näherte, trat ein Glitzern in die Augen des Händlers, und seine ganze Haltung wurde noch devoter als bei dem Edelmann, der Alika gekauft hatte. Für einen Augenblick erloschen alle Gespräche um das Podest, so dass man das Rascheln der Gewänder hören konnte, die die Dame trug, und Marie fürchtete schon, dass die Frau, die offensichtlich Interesse an ihr hatte, vor Entkräftung zusammenfallen würde, ehe sie ein Wort über die Lippen bringen konnte. Ihr erschien es wie ein Wunder, dass jemand in einer solch dicken Umhüllung atmen konnte, zumal die Sonne hoch am Himmel stand und es allmählich heiß wurde.

Der Dame schien bereits die Stimme zu versagen, denn sie näherte ihren Mund dem Ohr der älteren Frau und hauchte etwas hinein.

Die Matrone streckte den Arm aus und winkte Marie zu sich. Der Sklavenhändler hob bereits den Stock, um dieser Aufforderung Nachdruck zu verleihen, doch Marie trat nach vorne, ehe der Hieb sie treffen konnte. Schließlich war sie selbst daran interessiert, von dem Händler wegzukommen und damit auch von dem Kaufherrn, der Alika geschändet hatte.

»Zeige mir das Kind!«, befahl die Ältere, doch erst als der Sklavenhändler nach Lisa griff, wurde Marie klar, was die Frau wollte, und umklammerte erschrocken die Kleine.

Wieder hob der Mann seinen Stock, doch nun erhob die Dame zum ersten Mal selbst ihre Stimme. »Halt! Du sollst keine Mutter schlagen, nur weil sie Angst um ihr Kind hat. Es ehrt die Frau und zeigt, dass sie noch nicht so tief gesunken ist, wie es Sklaven im Allgemeinen tun. Ist hier niemand, der ihre Sprache versteht?«

Der Kaufherr, der sich bisher im Hintergrund gehalten und nur den Erlös in Empfang genommen hatte, kam auf die Dame zu und verbeugte sich tief. »Euer Diener, Hochwohlgeboren!« Sein Russisch war holprig, aber gut verständlich.

»Wer ist das eigentlich?«, fragte einer der Zuschauer einen anderen und deutete auf die Dame.

Dieser war stolz, sein Wissen teilen zu können, und erklärte es ihm bereitwillig. »Das ist die Herrin Anastasia Iwanowa, das Frauchen des Fürsten Dimitri Michailowitsch von Worosansk, der seinerseits ein Vetter des mächtigen Wassili Wassiljewitsch ist, des Großfürsten von Moskau.«

Fürstin Anastasia erklärte unterdessen dem deutschen Kaufmann, dass sie sich das Kind der Sklavin ansehen wolle. »Sag ihr, es wird ihm nichts geschehen, und ich gebe es ihr auch gleich wieder zurück.« Sie sprach die russische Sprache mit einem solch fremdartigen Akzent, dass der Deutsche ein paarmal nachfragen musste. Doch dann übersetzte er ihre Worte in seine Muttersprache.

Marie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als auf den guten Willen der Dame zu vertrauen, und reichte ihr Lisa. Die Fürstin nahm das Mädchen jedoch nicht selbst in den Arm, sondern wies eine der sie begleitenden Dienerinnen an, es ihr hinzuhalten. Die Frau wickelte Lisa aus und präsentierte ihrer Herrin den nackten Säugling. Diese zupfte und zerrte an dem Mädchen, als wäre es ein Huhn, bei dem sie sich nicht sicher war, ob es noch zart genug war für einen Braten, nickte dann und deutete der Dienerin an, das Kind zurückzugeben.

Während Marie Lisa erleichtert an sich raffte, tippte die ältere Frau, die so etwas wie eine Haushofmeisterin sein musste, dem Verkäufer mit ihrem Stock gegen die Brust.

»Die Fürstin Anastasia ist auf der Suche nach einer neuen Amme für ihren Sohn. Sie hat sich eigentlich eine jüngere Frau erhofft, die noch nicht so lange geboren hat wie diese hier, doch die Zeit drängt. Der kleine Fürst verträgt nämlich die Ziegenmilch nicht, mit der er derzeit genährt wird.«

Der Kaufherr hörte ihr zu und zwinkerte Marie anschließend grinsend zu. »Hast du ein Glück, Weib! Im Terem einer Fürstin lebt es sich gewiss besser als in dem Hurenhaus, in das ich dich sonst geschickt hätte. Du solltest deinem Schicksal dankbar sein.«

Marie drehte ihm den Rücken zu, denn das, was sie von ihm hielt, konnte sie ihm nicht an den Kopf werfen, sonst hätte sie sich noch im letzten Moment Schläge eingehandelt. Unterdessen feilschte der Auktionator mit der Begleiterin der Fürstin um den Kaufpreis. Diesmal hatte er eine würdige Gegnerin vor sich, denn die alte Frau kämpfte um jeden halben Denga.

Schließlich machte der Kaufherr dem Spiel ein Ende. »Gib ihr das Weib! Der Preis deckt zwar nicht einmal die Kosten für die Überfahrt, aber ich will nicht bis in die Nacht hier herumstehen. Wollen wir hoffen, dass die restlichen Sklaven auf mehr Interesse stoßen.« Der mürrischen Miene zum Trotz, die er dabei machte, war er mit dem Preis für Marie mehr als zufrieden. Ein Bordellwirt hätte ihm weitaus weniger geboten, und für einen wohlhabenden Mann, der neben einer Dienerin auch eine Bettwärmerin suchte, war das Weib zu alt.

Die Vertraute der Fürstin griff in ihre Kleidung und brachte einen bestickten Beutel zum Vorschein, der dem Klingeln nach Gold enthielt. Einige Münzen wechselten den Besitzer, dann erhielt Marie einen Stoß, der sie vom Podest trieb. Sie konnte gerade noch verhindern, dass Lisa ihr aus den Armen rutschte, und fiel unfreiwillig vor der Fürstin in die Knie. Diese beachtete sie jedoch nicht, sondern tippte ihrer Haushofmeisterin auf die Schulter und wies auf Stände mit wertvollen Tuchen. Die Dienerin, die Lisa im Arm gehalten hatte, hob Marie auf die Füße und erklärte ihr mit Gesten, der Herrin in respektvollem Abstand zu folgen.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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