VI.

 

Dem Junker ging es noch schlechter, als Michi vermutete. Die Vorstellung, sein Seelenheil aufs Spiel gesetzt zu haben, zerfraß sein Inneres wie ätzendes Gift, und nun gellten auch noch die Schreie des ausgepeitschten Mädchens in seinen Ohren. Mariele war bestraft worden, weil er einen Meineid geschworen hatte, und wäre sie gebrandmarkt worden, hätte seine Tat sie entehrt. Der Junker spürte noch immer den Geruch des verbrannten Holzes in der Nase, und seine Phantasie gaukelte ihm vor, es wäre der von versengtem Fleisch.

Er bemerkte die Blicke des Gesindes nicht, die sich an ihn hefteten. Die Leute hatten ihn zwar nicht geliebt, aber geachtet. Nun glühte manches Auge vor Zorn, und nur die Angst vor der Rache des Junkers hielt Gereon und andere davon ab, Ingold zu sagen, was sie von ihm hielten.

Eva erklärte ihren Freundinnen, zu denen außer Theres und Anni auch jene Mägde gehörten, die noch an der verstorbenen Marie hingen, welch windiges Würstchen der Kastellan in ihren Augen sei. Zuletzt spuckte sie angeekelt aus. »Also ich sag’s euch! Wären Trudi und Mariele nicht, würde ich meinen alten Gaul vor den Wagen spannen und losziehen, und sei es bis zu den Ungarn, bei denen der Kaiser wieder einmal Krieg mit den Heiden führt.«

»Warum musste der Herrgott Frau Marie von uns nehmen? Wir hätten ein so schönes Leben hier führen können.« Theres seufzte tief und gab ihrer Freundin einen leichten Stoß. »Komm, wir müssen uns um Mariele kümmern. Das arme Ding wird arge Schmerzen leiden.« Sie schritt voraus und schnitt die Fesseln durch, mit denen Mariele an den Pfahl gebunden war. Dieser stank immer noch verbrannt, und die Stelle, in die Gereon das glühende Eisen gedrückt hatte, war fast handtellergroß verkohlt. Zu Theres’ und Evas Überraschung konnte das Mädchen sich ohne Hilfe auf den Beinen halten, auch wenn es immer noch vor sich hin wimmerte.

Eva berührte eine der roten Striemen mit den Fingerspitzen und nickte anerkennend. »Dafür hat Gereon einen Extrakrug Wein verdient. Man kann zwar erkennen, wo die einzelnen Hiebe getroffen haben, aber es war keiner hart genug, um Mariele auf Dauer zu zeichnen.« Die Worte galten Theres, die sich neugierig vorbeugte und sichtlich erleichtert aufschnupfte.

»Gereon ist wirklich ein braver Kerl. Ein anderer hätte das wahrscheinlich nicht gewagt, denn er hätte dafür selbst die Peitsche bekommen können.«

»Bei einem anderen Herrn wahrscheinlich ja, aber nicht bei unserem.« Zum ersten Mal seit Wochen sprach Eva wieder mit Sympathie von Michel. Offenbar hatte der Burgherr alles getan, um die Strafe für Mariele so gering wie möglich ausfallen zu lassen.

»Komm mit uns, Kleines. Jetzt verarzten wir dich erst einmal, und dann holen wir deine Kleider. Michel hat uns ein wunderschönes Häuschen in Spatzenhausen zuteilen lassen. Dort werden wir uns wohler fühlen als in diesem Gemäuer.«

»Ich will Trudi nicht allein lassen. Wenn wir die Burg verlassen, hat sie niemand mehr.« Mariele blickte die alte Marketenderin verzweifelt an. Sie wollte ihre geliebte Trudi nicht Schwanhilds gehässiger Magd überlassen.

»Wir werden schon einen Weg finden, es unserem Sonnenschein gut ergehen zu lassen, aber jetzt müssen wir uns erst einmal um dich kümmern.« Eva schob Mariele auf den Anbau zu, in der die Küche untergebracht war. Deren Herrscherin war ihre Freundin und hatte zudem die Aufsicht über all die Kräuter und Salben, die einem Menschen nach ihrer Ansicht besser zu helfen vermochten als die Kunst der gelehrten Mediziner aus den umliegenden Städten.

Während die beiden Marketenderinnen Mariele versorgten, stand Junker Ingold noch immer wie erstarrt auf dem Hof. Aus Wortfetzen, die an sein Ohr drangen, hörte er heraus, dass die Leute ans Frühstück dachten. Ihm wurde bereits bei dem Gedanken an Essen übel, und er wusste, dass er sich nicht zu den anderen setzen konnte, als wäre nichts geschehen.

Für kurze Zeit schloss er die Augenlider und hörte das Blut in seinen Ohren hämmern. »Oh Herr, was habe ich getan!«

Beim Klang der eigenen Stimme riss er die Augen wieder auf und sah erschrocken um sich. Zu seiner Erleichterung war niemand mehr in seiner Nähe, der den Ausruf hätte hören können, dennoch machte er sich Vorwürfe, weil er so unvorsichtig gewesen war. Er hatte das Himmelreich verloren, um Schwanhild zu schützen, und dieses Opfer durfte nicht vergebens sein. Doch das Bewusstsein, einen Meineid begangen zu haben, schnürte ihm die Kehle zu. Er musste einen Menschen finden, bei dem er sich aussprechen konnte. Wie in Trance lenkte er den Schritt zum Palas, um Schwanhild aufzusuchen, wie er es in letzter Zeit so oft getan hatte. Ihr Lächeln und ihre kühle, zärtliche Hand auf seiner Stirn würden seine Verzweiflung lindern.

Vor der Freitreppe blieb er stehen, als sei er gegen die Wand gelaufen. Was er jetzt tun wollte, war nicht mehr möglich, damit würde er Schwanhild zur Komplizin seines falschen Eides machen und wahrscheinlich sogar den Verdacht erwecken, mit ihr im Bunde zu sein. Nein, diese Bürde musste er alleine tragen. Er fragte sich verzweifelt, wie es ihm gelingen sollte, vor den anderen den Anschein eines zufriedenen und in seinem Rechtsempfinden gestärkten Mannes zu erwecken. Zumindest für ein paar Stunden musste er die Burg verlassen, deren Mauern ihm schier den Atem nahmen.

Mit einer heftigen Bewegung drehte er sich um und eilte zu den Ställen. »Sattle meinen Hengst!«, herrschte er den einsamen Stallknecht an, der gerade ein Fohlen tränkte, dessen Mutter vor der Zeit die Milch verloren hatte.

»Ich komme ja schon.« Der Knecht stellte brummig den Eimer beiseite und streichelte den Kopf des Fohlens, das enttäuscht über den Entzug der warmen Milch die Nüstern hochzog. Nicht lange, da stand Ingolds Pferd bereit, und der Knecht kehrte zu dem Pflegling zurück, ohne den Junker eines zweiten Blickes zu würdigen.

Früher hatte der Mann das eine oder andere Scherzwort mit ihm gewechselt, seine stumme Verachtung führte Ingold deutlich vor Augen, dass Marieles Bestrafung das Vertrauen der Leute in ihn zerstört hatte. Dem Burgherrn würden sie gewiss nichts nachtragen, denn dieser hatte nach seinem Schwur nicht anders handeln können.

Wie von Furien getrieben, schwang Ingold sich in den Sattel und preschte los. Der Wächter musste den Torflügel schnell aufreißen, sonst hätten Reiter und Pferd sich den Hals gebrochen. Der Junker achtete nicht auf die Flüche, die der Reisige ausstieß, sondern trieb seinen Hengst den steil abfallenden Weg hinab und ließ ihn dann einfach laufen. Das Tier trabte weiter, und da es keinen anderen Weg so gut kannte wie den zu seinem ehemaligen Stall, trug es seinen Herrn jenem Ort entgegen, den er nie wieder hatte betreten wollen, nämlich zur Stammburg seiner Familie. Als Ingold begriff, in welche Richtung das Pferd lief, erblickte er darin ein Zeichen. Doch als er Stunden später Dieboldsheim vor sich aufragen sah, kamen ihm Zweifel, und er wollte das Tier schon wenden. Der Türmer hatte ihn jedoch bereits erkannt.

Ein Wächter beeilte sich, den schweren Türflügel aufzureißen.

»Einen schönen guten Tag, Junker! Es freut mich, dass Ihr uns doch einmal besucht.«

Ingold beachtete den Willkommensgruß nicht und lenkte sein Ross auch nicht zu den Ställen, sondern ritt um den Palas herum zur Burgkapelle, die im Schatten des großen Bergfrieds stand. Auf Dieboldsheim gab es keinen eigenen Kaplan, hier wachte der Bruder seiner Mutter, der mehrere Pfarrstellen in der Umgebung innehatte und sich dort von Hilfspriestern vertreten ließ, über die Seelen der Menschen. Er galt als strenger Pfarrherr, aber er war der einzige Mensch auf der Welt, dem Ingold sich anvertrauen mochte. Nur wusste er noch nicht, wie viel er ihm erzählen sollte. Kaum hatte sein Onkel ihn entdeckt, kam er auch schon mit einem fröhlichen Lachen auf ihn zu. »Ganz so ernst scheint es dir mit deinem Schwur, keinen Fuß mehr auf deines Vaters Burg zu setzen, doch nicht zu sein, mein Junge.«

Ingold verzog das Gesicht, denn die Worte des Priesters erinnerten ihn an den Schwur, den er am Vortag geleistet hatte, und nun brach seine Verzweiflung sich Bahn. Mit Tränen in den Augen stieg er vom Pferd und verbeugte sich stumm.

Sein Onkel kniff verwundert die Augenbrauen zusammen. »Was ist denn Schlimmes vorgefallen?«

Er senkte den Kopf. »Ich … Ich habe schrecklich gefehlt!«

Der Pfarrherr packte ihn am Ärmel, zog ihn in die schattige Kapelle und schloss die Tür hinter ihnen. Dann wies er Ingold an, in der vordersten Bankreihe direkt vor dem Altar Platz zu nehmen. »So, jetzt erzählst du mir, was los ist. Ich kenne dich doch und ich habe dich nie so gedrückt erlebt wie jetzt.« Um den zunächst noch stockenden Redefluss seines Neffen zu beschleunigen, schenkte der Priester ihm einen großen Becher Messwein ein, den er in einer kühlen Nische aufbewahrte. Da der junge Mann an diesem Tag noch nichts gegessen hatte, entfaltete der Wein die gewünschte Wirkung, und er erzählte weitschweifig und ohne sich zu schonen, was sich auf Kibitzstein zugetragen hatte.

Zunächst hörte der Priester wie erstarrt zu, dann schüttelte er den Kopf und blickte Ingold durchdringend an. »Haben dein Vater und ich dich gelehrt, den Weibern anderer Männer nachzustellen und falsche Eide zu schwören?«

»Ich liebe Frau Schwanhild, Oheim, und musste sie vor Verleumdern beschützen!« Mit diesem Versuch, sich zu verteidigen, beschwor der Junker erst recht den Zorn des Priesters auf sich herab.

»Indem du jene, die die Wahrheit sagten, durch einen Meineid der Lüge bezichtigt hast? Bei Gott dem Herrn, es wäre besser gewesen, dein Vater hätte dich nach deiner Geburt ersäuft! Wenn er erfährt, welche Schande du auf unsere Sippe geladen hast, wird er dich nicht mehr seinen Sohn nennen!«

»Es ist doch nur ein Bauernmädchen. Das dumme Ding wird die Schläge bald vergessen haben.« Ganz wohl war Ingold nicht bei diesen Worten, denn in seinen Gedanken hallten immer noch Marieles Schreie.

Sein Onkel sah so aus, als würde er ihn am liebsten in den Erdboden schlagen. »Bauernmädchen hin oder her! Die Ehre eines Ritters ist unteilbar, Neffe. Außerdem hast du Herrn Michel mit deinem Eid schwer beleidigt und vielleicht sogar den Anlass zu einer Fehde zwischen dem Herrn auf Kibitzstein und deiner Sippe gegeben. Es war dein Vater, der dich undankbaren Burschen Ritter Michel aufgeschwatzt hat, ohne zu ahnen, welche Schlange er damit an dessen Busen legt.«

Ingolfs letzter Rest von Stolz zerstob unter den harten Worten. Er krümmte sich und weinte zuletzt hemmungslos. »Ich konnte doch nicht tatenlos zusehen, dass man Frau Schwanhild bezichtigt, Dinge getan zu haben, die wirklich nicht geschehen sind.«

Der Pfarrherr schluckte eine weitere böse Bemerkung hinunter und schien zu überlegen. »Wenn die Wahrheit ans Tageslicht dringt, wird Blut fließen. Dies ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Es gilt also zu schweigen und deine Schande tief in unseren Herzen zu bewahren. Doch bevor ich weiterspreche, wirst du mir eine Frage beantworten: Bist du der Vater von Frau Schwanhilds Kind oder nicht? Und wage nicht noch einmal angesichts unseres Herrn Jesus Christus einen falschen Eid abzulegen! Jetzt kann deine Seele vielleicht noch gerettet werden, doch danach wäre sie für alle Zeit des Teufels.«

Ingold sank auf die Knie und ergriff die Hände seines Onkels.

»Bei allem, was mir heilig ist, Oheim. Ich habe mit Frau Schwanhild nie jene Dinge getrieben, die nötig sind, um ein Kind zu zeugen.«

Der Priester musterte ihn durchdringend. »Ich will dir glauben.

Doch bete zu Gott dem Herrn, dass Frau Schwanhild mit einem Mädchen niederkommt. Gebiert sie nämlich einen Sohn, so hast du dich auch an diesem versündigt, denn er wird niemals den Weg ins Herz seines Vaters finden.«

Für einen Augenblick senkte sich Schweigen über die Kapelle. Ingolds Onkel löste seine Hände aus denen seines Neffen und trat einige Schritte zurück. »Am liebsten würde ich dir als Sühne deiner Schuld eine Wallfahrt nach Rom, zum Grab des heiligen Jakobus in Spanien oder gar nach Jerusalem auftragen. Doch das würde nur die Gerüchte nähren, die wir aus der Welt schaffen wollen. Ohne Strafe kann ich dich jedoch nicht lassen, denn wenn du nicht ehrlichen Herzens büßt, wird deine Seele unweigerlich dem Teufel verfallen. Bleibe hier und bete, bis ich zurückkehre.«

Ohne seinen Neffen weiter zu beachten, verließ der Priester die Kapelle. Als er nach einiger Zeit zurückkam, hielt er eine kräftige Haselrute in Händen. Während er damit leicht auf den Boden schlug, funkelte er Ingold auffordernd an.

»Entblöße deinen Rücken, Neffe, denn nun sollst du am eigenen Leibe erleben, was das arme Kind erdulden musste, welches dein falscher Schwur zur Verleumderin machte.«

Das Vermächtnis der Wanderhure
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