X.

 

Sie kamen rascher voran, als Xander angenommen hatte. Harro kannte den Strom tatsächlich besser als die Läuse in seinem Hemd und nützte jede sich bietende Gelegenheit, die Kontrollen durch die Zöllner zu umgehen. Da sein Prahm einen flachen Boden hatte und nicht sonderlich tief im Wasser lag, gelang es ihm, in den Nächten über einige der Ketten zu fahren, die an den Zollstationen den Strom sperrten. Dafür nahm er es in Kauf, weite Strecken in der Dunkelheit zurückzulegen. Ein paarmal wurden sie von den Wächtern entdeckt und vernahmen barsche Rufe, die bald hinter ihnen verhallten, und einmal zischte ein Pfeil dicht an Xanders Kopf vorbei und durchschlug seine Kapuze. Pausen legten sie nur in kleineren Orten ein, in denen Harro Freunde aufsuchen konnte, die selbst keine reinen Westen hatten. Dort erhielten sie warmes Essen und genügend Vorräte für die Weiterreise. Zu Xanders Erleichterung stellte niemand neugierige Fragen, wenn sie ihre Gefangene ins Warme brachten, dort säuberten und wie ein mutterloses Kalb tränkten. Zunächst war die Frau nur in der Lage, Suppe zu schlucken, doch zu Xanders Erleichterung vermochte sie nach einigen Tagen auf dem Brot herumzukauen, das er ihr in den Mund steckte, auch wenn sie die Zähne so langsam und gemächlich bewegte wie eine alte Kuh.

»Ich glaube, das Weib ist verrückt geworden«, erklärte Harro, als sie die Umrisse der Burg Lahneck hoch über dem rechten Rheinufer aufragen sahen.

Xander zuckte mit den Schultern. Maries geistige Verfassung interessierte ihn nicht, solange sie zu jenem Ort geschafft wurde, den seine Herrin für sie vorgesehen hatte. »Hauptsache, sie schreit uns nicht die Leute zusammen. Sieh du nur zu, dass du diesen Franzosen erwischst, damit wir die Frau endlich loswerden.«

Harro hob die freie Hand. »Labadaire wird keine Verrückte mitnehmen wollen.«

»Wenn du deine Belohnung kassieren willst, wirst du ihn dazu überreden müssen!« Xander lachte böse, denn er hatte begriffen, dass Harro noch mehr Geld aus der Sache herausschlagen wollte. Da ihnen der Kräutersaft ausgegangen war und die Gefangene daher wach sein musste, hatte er schon befürchtet, sie finge zu jammern an und würde um Hilfe schreien. Aber sie schien sich nur für das Kind zu interessieren und blieb ansonsten stumm. Also würde sie seiner Ansicht nach auch dem Sklavenhändler keine Probleme bereiten. Er selbst konnte es kaum noch erwarten, seine menschliche Fracht loszuwerden, denn die Fahrt begann zur Qual zu werden. Das Wetter war selbst für diese Jahreszeit zu kalt und es regnete seit Tagen ununterbrochen. Auf den Höhen zu beiden Seiten des Rheins musste es wohl schneien, denn sie wirkten wie mit Mehlstaub gepudert. Das Einzige, was seine Laune aufrechterhielt, war der Gedanke an eine warme Wirtsstube, in der er gemütlich beim Wein sitzen und jene Mägde in den Hintern kneifen konnte, mit denen er später in ihren Kammern verschwinden würde.

Harro lenkte das Boot an Kiesbänken vorbei, die aus dem Niedrigwasser führenden Strom herausragten, und hoffte, er bekäme genug Schwung, das kleine Kap ohne mühsames Staken umrunden und bei Koblenz anlegen zu können. Dort, so erklärte er Xander wortreich, würden sie nicht allzu lange auf den Sklavenhändler warten müssen. Seine Worte mochten prophetisch gewesen sein, denn als die Moselmündung in Sicht kam, schoss eine klobig gebaute Barke auf den Strom hinaus und drehte den Bug flussabwärts. Die Bordwand war höher als bei Rheinschiffen sonst üblich, und das Fahrzeug hatte ein durchgehendes Deck und einen festen Aufbau am Heck. Der Schiffer musste nicht erst nach dem Wimpel am Mast schauen, um zu wissen, wen er vor sich hatte.

»Blutiger Höllenhund, das ist Labadaire! Der Kerl ist heuer früher unterwegs als die Jahre zuvor. Der Teufel soll ihn fressen! Komm, Xander, nimm die Stake und leg dich ins Zeug. Wenn wir den Kahn nicht erwischen, haben wir das Weibsstück bis zum nächsten Jahr am Hals.« Harro eilte zum Mast, um das Segel aufzuziehen, auf das er wegen des schwachen Windes bisher verzichtet hatte. Doch als das Tuch sich wölbte, war sein Schiffchen der Geschwindigkeit des Franzosen immer noch weit unterlegen.

Xander, der es bislang abgelehnt hatte, auch nur einen Handstreich zu tun, half dem Schiffer ohne Murren, auch das zweite Segel zu befestigen. Nun nahm ihr Prahm Fahrt auf, und da der Ritter mit der langen Stange zumeist Grund fand, stellten die beiden Männer aufatmend fest, dass sie Labadaires Barke langsam näher kamen. Um den Sklavenhändler auf ihr Schiff aufmerksam zu machen, stellte Xander sich vorne an den Bug und brüllte mit Harro im Chor. Als dem Ritter die Kraft auszugehen drohte, hatten sie so weit aufgeholt, dass man ihre Rufe auf dem anderen Schiff vernahm.

»Labadaire, du alter Schurke, willst du einem Freund nicht guten Tag sagen?«, schrie Harro hinüber.

Ein in einen dicken Mantel gehüllter Mann trat ans Heck des größeren Schiffes und äugte misstrauisch herüber. Als er den Schiffer erkannte, glätteten sich seine besorgten Gesichtszüge.

»Harro? Du fährst ja immer noch mit deinem Schweinetrog auf dem Strom. Ein Wunder, dass du noch nicht untergegangen bist!«

»Da warte ich, bis du es mir vormachst, du verdammter Halsabschneider!«

Während dieser herzlichen Begrüßung glitt Harros Boot längsseits, und Xander nahm die Leine entgegen, die ihm einer der Franzosen zuwarf. Labadaire musterte erst ihn und dann Harro mit scharfem Blick.

»Du hast wohl wieder eine spezielle Fracht für mich, mein Freund! Doch ich weiß nicht, ob ich Lust habe, noch einmal das Risiko einzugehen. Die Stromvögte und Hafenkapitäne passen inzwischen so scharf auf wie Luchse.«

Harro kletterte an Bord der Barke und lachte dabei, als habe der andere einen besonders schlüpfrigen Witz erzählt. »So? Seit wann fürchtet sich der große Jean Labadaire vor diesen Hampelmännern?«

Der Franzose blieb ihm nichts schuldig, und für geraume Zeit stritten und beschimpften sie sich heftig, aber so gedämpft, dass ihre Stimmen nicht bis zum Ufer drangen.

Mit einem Mal wandte Harro sich an Xander, der ihm gefolgt war und dem Gespräch mit verwirrter Miene zugehört hatte.

»Mein Freund Jean verlangt einhundert Gulden dafür, dass er die Frau mitnimmt.«

»Lieber werfe ich sie in den Rhein und lasse sie ersaufen.« Xander drehte sich um und tat so, als wolle er auf den Prahm zurückkehren, um seine Drohung auf der Stelle wahr zu machen.

Sofort begann der Sklavenhändler einzulenken. »Gib mir fünfzig Gulden und du bist sie los.«

»Keinen einzigen! Eher soll der Strom sie haben.« Xander hatte Harros Behauptungen, Labadaire würde Geld verlangen, statt welches zu zahlen, nicht ganz ernst genommen und es versäumt, Schäfflein mehr als jene Hand voll Gulden abzupressen, die er für die Rückreise benötigte. Daher enthielt sein Beutel nur einen Bruchteil der Summe, die der Sklavenhändler verlangte.

Labadaire zog die Stirn kraus und schien das Risiko abzuwägen. Schließlich gewann seine Geldgier die Oberhand. »Also gut, ich sehe mir die Frau an. Kann man mit ihr noch etwas anfangen, nehme ich sie umsonst mit, ansonsten wandert sie tatsächlich in den Strom.«

»Deine Leute können das Weibsstück in der Nebelwand dort vorne an Bord nehmen.« Harro zeigte dabei auf einen dichten grauen Schleier, der sich ein Stück stromabwärts über das Wasser spannte. Auch er wollte die Fracht endlich loswerden und schnauzte Xander an, ihm dabei zu helfen, die Kiste mit der Gefangenen freizuräumen.

Der Ritter zögerte, denn ihm wurde jetzt erst bewusst, dass Frau Huldas Feindin an diesem Tag in völlig fremde Hände überging. Was würde geschehen, wenn der Franzose Marie Adlers Worten Glauben schenkte, die Ehefrau des Reichsritters Michel Adler auf Kibitzstein zu sein, und ihr half, nach Hause zurückzukehren? An diese Möglichkeit hatte seine Herrin wohl nicht gedacht. Darüber wunderte er sich nicht, denn Frau Hulda war schließlich auch nur ein Weib, das der Leitung durch den Verstand eines Mannes bedurfte. Ritter Falko wäre dieser Fehler nicht passiert.

Während Xander noch regungslos dastand und in die Luft starrte, schwangen sich zwei Knechte des Franzosen auf Harros Schiff und legten die große Kiste frei. Einen Augenblick stritten sie sich, ob sie das schwere Ding hochhieven oder es lieber öffnen und nur die Frau auf ihre Barke schaffen sollten. Ein scharfes Wort ihres Herrn beendete den Disput. Da niemand sehen sollte, welche Fracht hier den Besitzer wechselte, schlangen sie auf Labadaires Befehl zwei Seile um die Kiste und zogen sie mit Hebebaum und Flaschenzug an Deck des eigenen Schiffes.

Xander, der sich immer noch alle Schrecken ausmalte, die eine Rückkehr der Marie Adlerin nach Kibitzstein zur Folge haben konnte, knirschte mit den Zähnen. Doch er konnte nicht mehr tun, als zuzusehen, wie der sargähnliche Kasten auf dem Deck des Sklavenschiffs abgestellt und geöffnet wurde. Die Matrosen waren offensichtlich geübt darin, mit menschlicher Ware umzugehen, denn sie zogen die Frau behutsam, aber mit so geschickten Griffen aus dem Kasten, dass sie sich auch dann nicht hätte wehren können, wenn sie kräftig und bei vollem Bewusstsein gewesen wäre. Bei dem Anblick der bleichen, ausgemergelten Gestalt verzog Labadaire angewidert die Lippen. Doch als einer seiner Knechte ihm das Kind zeigte, schluckte er die Flüche, die ihm über die Lippen hatten kommen wollen.

»Die Frau hat vor kurzem geboren?«

Xander nickte heftig. »Das hat sie! Und deswegen phantasiert sie auch. Du darfst nichts auf das geben, was sie sagt.«

Labadaire machte eine wegwerfende Handbewegung. »Glaubt ihr, ich schwatze mit meinen Sklaven? Um die kümmern sich meine Leute! Die sind eurer Sprache jedoch kaum mächtig und werden gar nicht verstehen, was dieses Weib daherredet – wenn sie überhaupt noch redet. Sie sieht ja jetzt schon halb tot aus, und ich bezweifle, dass sie den heutigen Tag überleben wird.«

»Sie ist verdammt zäh, mein Freund. Diese Geburt hätte so leicht keine zweite Frau überstanden. Während der Rheinfahrt hat sich ihr Zustand schon gebessert. Dennoch musst du eines sicherstellen: sie darf nicht zurückkommen!« Xander lachte nervös, und das bewies Labadaire, dass mehr dahintersteckte, als er angenommen hatte.

Der Sklavenhändler interessierte sich weder für das Weib noch für den Mann, der so nervös war wie ein Füllen, welches zum ersten Mal den Sattel spürt. Was ging es ihn an, aus welchen Gründen diese Person aus dem Weg geräumt worden war. Er zuckte nur mit den Achseln, scheuchte Xander und Harro von Bord und befahl seinen Knechten, die Seile zwischen den Booten zu lösen.

Xander konnte sich gerade noch an Harro festhalten, als ihr Kahn freikam und auf den Wellen tanzte. »Verdammt! Beinahe hätte ich doch noch in diesem verdammten Strom gebadet«, fluchte er und blickte der französischen Barke nach, die nach kurzer Zeit vom Nebel verschluckt wurde.

»Das wäre erledigt! Jetzt sollten wir zusehen, dass wir in Koblenz anlegen und uns dort erst einmal richtig aufwärmen. Ich muss dort noch den Rest meiner Fracht abliefern und mir eine neue suchen, die flussaufwärts geht. Der nächste Teil der Fahrt wird etwas leichter, denn ich werde einen Treidelknecht mieten, der uns hochzieht.« Harro rieb sich zufrieden die Hände und dachte an die harten Gulden, die Schäfflein ihm für diese Fahrt versprochen hatte.

Xander bleckte die Zähne wie ein missmutiger Hund. Glaubte der Kerl etwa, er würde weiterhin seinen Knecht spielen? Seine Laune besserte sich jedoch, als er daran dachte, dass der Schiffer neben Schäfflein der Einzige war, dem die Verbindung zwischen Frau Hulda und dem französischen Sklavenhändler nachgewiesen werden konnte. Was aus dieser Marie wurde, war ungewiss. Sie konnte ebenso gut sterben wie in die Fremde verschleppt werden. Darauf hatte er keinen Einfluss mehr. Aber hier konnte er tun, was notwendig war, um seine Herrin zu schützen.

Kaum hatte Xander diesen Entschluss gefasst, trat er hinter den Schiffer und klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Ja, kalt ist es fürwahr! Und für dich wird es gleich noch viel kälter werden.«

Bevor Harro reagieren konnte, legte Xander ihm die Hände um den Hals und drückte zu. Der Schiffer riss den Mund weit auf, griff mit einer Hand nach Xanders Daumen, um ihn zu brechen und so den Griff zu lösen, und mit der anderen versuchte er, sein Schiffermesser zu ziehen. Doch ehe seine Finger sich um den Knauf schließen konnten, schleuderte Xander ihn ruckartig nach rechts und dann nach links, so dass die Halswirbel unter seinen Händen brachen.

Mit einem spöttischen Fluch riss der Ritter dem toten Schiffer die Börse ab, warf ihn über Bord und ergriff das Ruder. Auf der bisherigen Fahrt hatte er genug gelernt, um den Prahm steuern zu können, und so bereitete es ihm keine Mühe, eine flache Stelle am Ufer anzufahren. Als die Unterseite über den Kies schrammte, sprang er in das flache Wasser, stemmte sich mit den Schultern gegen den Bug und schob das Boot in den Fluss zurück, bis die Strömung es erfasste. Er sah noch zu, wie es sich um sich selbst drehte und im Nebel verschwand. Dann stieß er erleichtert die Luft aus, stieg aus dem Wasser und kletterte den steilen Hang des Hochufers empor. Von der Anhöhe aus konnte er bereits das nächste Dorf sehen. Er stapfte darauf zu, kehrte jedoch nicht ein, sondern kaufte einen alten Gaul und ritt nach Süden.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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