IX.

 

Fürst Dimitri betrat polternd die große Halle, die von zwei Reihen zierlich gedrechselter Holzsäulen durchzogen wurde, und starrte missmutig auf die zweireihige Tafel und die Knechte, die gerade das Abendessen auftrugen. Mit einer wütenden Handbewegung warf er seine Reitpeitsche auf das Kopfende des Tisches, an dem er zu sitzen pflegte. Dabei stürzten zwei Becher um, rollten von der Tischplatte und fielen zu Boden. Ein Bediensteter hob die Gefäße eiligst auf, rieb sie mit einem Ärmel sauber und stellte sie wieder auf die Tischplatte.

»Wo ist Jaroslaw? Warum empfängt er mich nicht?« Die Stimme des Fürsten hallte von den Wänden der Halle wider.

Die Knechte und die bereits versammelten Gefolgsleute duckten sich unwillkürlich und sahen einander an. Einige Augenblicke hätte man das Trippeln einer Spinne hören können, so still war es im Saal. Dann ermannte sich einer der Edelleute, die den Fürsten nicht hatten begleiten dürfen, und trat mit gesenktem Kopf auf Dimitri zu.

»Dein Bruder ist schon früh am Morgen fortgegangen, um in der Wolga Fische zu fangen, und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Hätte er gewusst, dass du heute kommst, Väterchen, wäre er sicher schon erschienen.«

Dimitri kniff ärgerlich die Lippen zusammen und ließ seinen Blick über die Leute im Saal wandern, und als er den Mann entdeckte, den er suchte, stach sein Finger in dessen Richtung. »Hatte ich dir nicht geboten, Jaroslaw überallhin zu begleiten, Anatoli?«

Der Angesprochene sah so aus, als wünsche er sich an jeden anderen Ort der Welt. Zögernd kam er auf seinen Herrn zu und kaute dabei auf seinen Lippen. »Ich habe ihn all die Tage vom Morgen bis zum Abend nicht aus den Augen gelassen, mein Fürst. Doch dort, wo er angelt, kann er höchstens mit den Fischen in der Wolga sprechen, und da bin ich vorausgegangen.«

»Und wer ist jetzt bei ihm?«, schrie Dimitri ihn an »Was ist, wenn ein Verräter ihm ein Pferd bringt und er nach Twer flieht oder gleich nach Moskau? Du Hund solltest auf ihn Acht geben und hast mein Vertrauen enttäuscht. Vielleicht bist du sogar selbst ein Verräter!« Schneller, als man schauen konnte, riss der Fürst seine Peitsche vom Tisch und schlug mehrmals mit voller Kraft auf seinen Gefolgsmann ein.

Anatoli nahm die Hiebe mit stoischer Ruhe hin, doch seine Augen sprühten Funken. Unterdessen hatte Lawrenti die Halle erreicht und erfasste die Situation auf einen Blick.

»He, ihr faulen Hunde, wo bleibt der Wein für den Fürsten und seine Getreuen?«, rief er mit laut hallender Stimme.

Dimitri hielt inne und drehte sich zu ihm um. »Das wollte ich eben auch fragen. Ich habe Durst! Also her mit dem Wein. Und seht zu, dass Ihr Branntwein auftreibt, wie Sachar Iwanowitsch ihn mir hat kredenzen lassen. Erst dieses Getränk macht einen zu einem richtigen Mann.«

Einige Diener spritzten davon, um das Gewünschte zu bringen. Kurz darauf hielt der Fürst einen großen, mit Wein gefüllten Silberbecher in der Hand und trank ihn in einem Zug leer. »Nicht schlecht! Aber Branntwein ist besser«, sagte er, als er das Gefäß zurückreichte.

»Ich bezweifle, dass dieses ausländische Zeug in Worosansk zu finden ist. Man wird wohl nach Nowgorod schicken müssen. Über den Ilmensee und den Lowat geht es schneller als auf dem Landweg nach Pskow.« Lawrentis Gesichtsmuskeln zuckten bei seinen Worten, als erwarte er ebenfalls Schläge.

Der Fürst warf seine Peitsche jedoch in eine Ecke und setzte sich.

»Dann sorge dafür, dass genügend Fässer hergeschafft werden. Zu was bist du mein Schwertträger, wenn du nicht für mein Wohl sorgen kannst?«

Dimitri winkte dabei, als müsse er einen Hund verscheuchen. Lawrenti verbeugte sich und deutete Anatoli mit einer Kopfbewegung an, ihm nach draußen zu folgen.

»Es ist wohl das Beste, wenn du die Reise nach Nowgorod unternimmst, denn dann kommst du Dimitri so schnell nicht mehr unter die Augen. Wie konntest du auch nur so dumm sein und Jaroslaw alleine lassen?«, schalt er den Mann draußen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war.

Anatoli ballte die Fäuste und warf einen zornigen Blick auf den in einer Mischung aus griechischem und russischem Stil errichteten Palast, der neben den Privaträumen des Fürsten auch den großen Audienzsaal enthielt, welcher unter Dimitri zumeist für Trinkgelage benutzt wurde. »Bei Gott und dem heiligen Wladimir, er behandelt den Jungen schäbiger als einen Sklaven! Dabei ist Jaroslaw von dem Willen beseelt, Dimitri zu gefallen. Er wird ihn noch umbringen.«

»Wer, Jaroslaw den Fürsten oder dieser ihn?« Lawrenti sprach so leise, dass der andere Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Jaroslaw würde nicht im Traum an so etwas denken!«, verteidigte Anatoli seinen Schutzbefohlenen.

»Es wird ein Zeitpunkt kommen, an dem er daran denken muss.« Lawrenti blickte sich bei diesen Worten so nervös um, als fürchte er, der Wind könne seine Worte dem Fürsten zutragen. Dann gab er Anatoli einen Stoß. »Schau, dass du dich auf den Weg machst! Ein paar Werst wirst du heute noch schaffen. Bringe ein paar Fässer von dem Teufelszeug mit, das die Lateiner Aqua vitae nennen, obwohl es das Leben eher aus einem herausbrennt. Versuche vor allen Dingen, ob du jemand findest, der es herstellen kann und bereit ist, mit dir zu kommen. Dimitri Michailowitsch ist durstig, und er hat in Pskow viel zu viel Geld für Dummheiten ausgegeben.«

Anatoli hob den Kopf. »Meinst du die beiden fremden Frauen, die ich durch das Fenster beobachten konnte?«

»Nur die Schwarze! Für die hat er fast eine Jahreseinnahme ausgegeben, um sie ein paarmal besteigen zu können. So ein hässliches Ding ist unten herum doch auch nicht anders gebaut als eine Russin. Bei Gott, Dimitri sollte sich mit seiner Gemahlin begnügen, wie es einem wahrhaften Christenmenschen zukommt, und nicht bei jedem Weib den Bullen spielen.«

So offen hatte Lawrenti den Fürsten noch nie kritisiert, und Anatoli fragte sich, was auf dieser Reise passiert sein mochte. Es musste etwas Schwerwiegendes sein, denn Lawrentis Treue und Ergebenheit waren in Worosansk ebenso sprichwörtlich geworden wie seine mutigen Ratschläge. Aber da er dieses Rätsel nicht lösen konnte, war er einfach nur froh, dass Dimitris Schwertträger ihn dem Zorn des Fürsten entrissen hatte.

Er nahm dessen Rechte und drückte seine Lippen darauf. »Ich danke dir, Lawrenti Jurijewitsch.«

Der alte Edelmann entzog ihm seine Hand mit einem ärgerlichen Brummen. »Was soll das? Ich bin doch kein Metropolit oder gar der Patriarch von Wladimir und Moskau. Jetzt verschwinde endlich!«

Dies ließ Anatoli sich nicht zweimal sagen. Lawrenti blickte ihm einen Augenblick nach und prallte, als er sich zum Gehen wandte, mit einem jungen Burschen zusammen, der auf die Halle zustürmte. Dieser sah noch ein wenig schlaksig und ungelenk aus und wirkte mit dem Leinenhemd, das er bis zu den Hüften aufgebunden hatte, den dunklen Hosen und den Holzschuhen wie ein Knecht. Doch es war der Bruder des regierenden Fürsten. In der rechten Hand hielt er eine Angel und in der Linken einen hölzernen Eimer, in dem mehrere Fische schwammen. Als er Lawrenti erkannte, wollte er beides wegstellen, doch der alte Waffenträger hob warnend die Hand.

»Tu das nicht, Jaroslaw Michailowitsch! Nimm dein Fanggerät und deine Fische mit in die Halle und zeige sie deinem Bruder, damit dieser sieht, dass du wirklich angeln gewesen bist.«

Aus dem noch unfertig wirkenden Gesicht starrten zwei blaue Augen den alten Edelmann ängstlich an und die Schultern des Jungen sanken nach vorne. »Dimitri ist wohl sehr zornig auf mich?«

»Anatoli hat Schläge bekommen, weil er nicht auf dich Acht gegeben hat. Also wird unser Herr jetzt wohl besserer Laune sein als vorher. Reizen solltest du ihn allerdings nicht. Jetzt komm! Denn wenn du deinen Bruder zu lange warten lässt, wächst sein Zorn auf dich wieder.« Lawrenti winkte dem Prinzen mit einer energischen Handbewegung, ihm zu folgen, und kehrte in die Halle zurück.

Dimitri rupfte eben einem gebratenen Hähnchen einen Schenkel aus, als Jaroslaw zu ihm trat. Bei dessen Anblick legte er das Fleisch wieder auf den Teller zurück und funkelte ihn zornig an.

Bevor er jedoch etwas sagen konnte, verneigte sein Bruder sich vor ihm. »Willkommen zu Hause, Dimitri. Ich war ein paar Fische fangen, denn ich weiß ja, dass du sie gerne magst. Mit deiner Eile hast du mir die Überraschung verdorben.«

Obwohl Lawrenti spürte, dass der Junge die Wahrheit sagte, war er über dessen Schlagfertigkeit verblüfft. Wie es aussah, entwickelte Dimitris Bruder ungeahnte Talente.

Der Fürst fühlte sich durch die offenen Worte entwaffnet und bleckte die Zähne wie ein Hund, der nicht genau weiß, ob er zubeißen soll oder nicht. »Zeig deinen Fang, Bruder!«

Jaroslaw hielt ihm den Eimer unter die Nase. »Sind sie nicht herrlich, Dimitri? Die werden dir gewiss gut schmecken.«

»Uns beiden, meinst du.« Dimitri hatte nicht vor, eine Speise zu sich zu nehmen, die nur für ihn zubereitet wurde, dafür war seine Furcht vor einem Giftanschlag zu groß. Er klopfte seinem Bruder lachend auf die Schulter und befahl einem Diener, diesem einen Becher Wein zu reichen. Lawrenti erteilte er die Anweisung, die Fische in die Küche bringen und zubereiten zu lassen. Schließlich nickte er gnädig und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, in dem sich inzwischen der größte Teil seiner Gefolgsleute niedergelassen hatte.

»Wo ist Andrej? Er soll seine Gusla holen. Mir ist danach, ein fröhliches Lied zu hören!«

Das Vermächtnis der Wanderhure
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