XIII.

 

Die Reisenden verließen am nächsten Morgen kurz vor Sonnenaufgang die Festung, schlugen aber nicht den kürzesten Weg zu ihrem Ziel ein, denn Hulda wollte nicht bei Fremden oder flüchtigen Bekannten übernachten. Auf den Burgen und Gehöften, die zu ihrem eigenen Besitz oder dem ihres Vaters gehörten, konnte sie ihre Geheimnisse eher bewahren als unter dem Dach anderer Leute. Daher nahm sie Umwege in Kauf, bis sie schließlich die in einem abgelegenen Teil des Pfälzer Walds gelegene Otternburg vor sich sah. Von außen machte das Bauwerk wenig her, denn es handelte sich nicht um einen mächtigen Wehrbau, sondern um einen altmodischen, mehrstöckigen Wohnturm, der von einer Ringmauer umschlossen wurde, an der sich innen Ställe und Scheuern drängten. Das war nicht der Ort, den eine Frau von Huldas Stand normalerweise aufsuchte, um den erhofften Erben zu gebären. Sie wollte aber sichergehen, dass nur Menschen um sie waren, denen sie unbedingt vertrauen konnte. Jeder ihrer Begleiter auf dieser Reise und auch die Burgbesatzung waren von ihr und ihrem Vater sorgfältig ausgewählt worden und würden schon aus eigenem Interesse über die Vorgänge schweigen, die sich unter dem Dach ihrer Herrschaft abspielten. Huldas Vater Rumold von Lauenstein hatte mehrere Edelleute, die ihm verpflichtet waren, dafür gewonnen, die legitime Geburt des Erben zu bezeugen, so dass auch hier keine Zweifel aufkommen konnten.

Huldas Blick streifte Mine, deren Kind ungefähr zum gleichen Zeitpunkt zur Welt kommen würde wie das ihre. Sie hoffte immer noch, selbst mit einem Sohn niederzukommen, denn sie hasste schon den Gedanken, den Bankert der Magd wie ihr eigenes Kind aufziehen zu müssen. Und für einen Moment kroch auch wieder die Furcht in ihr hoch, diese kleine Metze könne ebenfalls nur ein wertloses Mädchen in sich tragen. Den Gedanken wischte sie jedoch schnell beiseite. Eines der beiden Kinder musste ein Sohn sein, und den Balg dieser Magd an ihre Brust zu legen war immer noch besser, als all ihren Besitz an den Vetter ihres Mannes zu verlieren. Wenn das Weib niedergekommen war, würde sie es rasch beseitigen, denn sie durfte nicht riskieren, dass Mine vor Falkos Erben auf die Knie sank und ihn ihren Sohn nannte. Seit Trines Verschwinden bewegte die Magd sich wie eine Schlafwandlerin und sprach kaum noch ein Wort. Zwar hatte Alke dem Weib erklärt, ihre Schwester sei zur Burg Hettenheim zurückgeschickt worden, weil sie auf der Otternburg nicht benötigt werde, doch Mine schien ihren Worten keinen Glauben zu schenken.

Als der Wagenzug mithilfe von zusätzlichen Gespannen den steilen Weg hochkroch, der sich zur Otternburg hinaufschlängelte, atmete Hulda hörbar auf. Beate und Alke, die zu beiden Seiten ihrer Herrin saßen und diese stützten, lächelten einander erleichtert zu.

»Das hätten wir geschafft!«, sagte Alke. »Wenn wir die Burg wieder verlassen, werden wir den Erben von Hettenheim mit uns führen.«

»Wenn Gott gerecht ist, wird die Herrin ein Mädchen zur Welt bringen – und ich auch!«, schrie Mine auf.

Die unerwartete Aufsässigkeit der Magd erregte Huldas Zorn.

»Pass nur auf, dass dich nicht das Schicksal deiner Schwester ereilt!«

Über Mines Gesicht huschte ein Ausdruck der Trauer, dann verzerrte es sich vor Hass. »Wollt Ihr mich auch von Euren Männern auf Eurem eigenen Bett schänden lassen? Ich glaube, mein dicker Bauch würde ihnen wenig Freude bereiten. Aber tut es nur! Dann werde ich hoffentlich den Bastard los, den ich für Euch ausbrüten muss.«

Hulda sah verblüfft auf Mine hinab, denn die Magd war bisher die stillere und ängstlichere der beiden Schwestern gewesen. Jetzt sah es so aus, als wäre ein Dämon in die Magd gefahren oder gar der Geist ihrer toten Schwester. Bei diesem Gedanken schüttelte sie sich heftig und versetzte ihrer Leibmagd einen Stoß. »Du dummes Geschöpf! Warum musstest du diesem Trampel erzählen, was mit seiner Schwester geschehen ist?«

Alke hob abwehrend die Hände. »Ich war es nicht, Herrin! Das hat Tautacher herumerzählt. Der Narr wusste gestern Abend nichts Besseres zu tun, als vor den Reisigen damit zu prahlen.«

»Der wird sich vorsehen müssen! Ich kann keine Gefolgsleute brauchen, die Dinge aus meinen vier Wänden hinaustragen.« Zwar hatte Hulda so leise gesprochen, dass ihre Worte kaum zu verstehen waren, doch der Tonfall und ihre Miene ließen die Leibmägde zusammenzucken. Wie es aussah, hatte Tautacher sich das Wohlwollen der Herrin verscherzt und würde die Folgen zu spüren bekommen.

In diesem Augenblick hätten Alke und Beate am liebsten mit Marga getauscht, die neben dem Fuhrmann auf dem Wagen saß, in dem Marie Adlerin eingeschlossen war, denn manchmal war es von Nachteil, ständig unter den Augen der Herrin leben zu müssen. Daher waren die beiden froh, als der Reisewagen die letzte Kurve nahm und aus dem dunklen Grün des Waldes wieder in die leuchtende Sonne fuhr. Normalerweise hätten sie den goldenen Herbsttag genossen, doch nun schüttelten sie sich innerlich. Während Alke sich schnell wieder fasste, fühlte Beate sich wie in einem gespenstischen Schatten gefangen. Kaum hatte der Wagen auf dem Burghof angehalten, schlüpfte sie ins Freie und zog ihre Schwester mit sich.

»Manchmal frage ich mich, ob die Herrin noch ganz bei Sinnen ist«, flüsterte sie ihr zu.

Alke hob die Hand, als wolle sie Beate schlagen, ließ sie aber wieder sinken, denn eine Ohrfeige hätte nur unangenehme Fragen nach sich gezogen. »Die Herrin weiß, was sie tut!«

Alke war nicht bereit, Frau Hulda von irgendeinem Menschen kritisieren zu lassen, am wenigsten von ihrer Schwester, deren Moral selbst nicht die beste war. Hatte Beate sich doch im letzten Winter freiwillig Ritter Falko angedient und eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren. Damals war Alke wütend gewesen, denn sie hatte in Beates Eskapade eine Beleidigung der Herrin gesehen, auch wenn diese nichts davon erfahren hatte. Andererseits bedauerte Alke, dass ihre Schwester nicht schwanger geworden war, denn auch sie zweifelte daran, dass ihre Herrin diesmal einen Sohn gebären würde, und sie hätte lieber ihren Neffen als den Erben von Hettenheim gesehen als das Kind, welches Mine zur Welt bringen würde.

»Was ist mit dir, Alke? Seit wann stehst du herum und träumst? Hilf mir gefälligst!« Huldas scharfe Stimme erinnerte die Leibmagd an ihre Pflichten. Sie eilte zum Wagen und fasste die Hand ihrer Herrin, damit diese sich beim Aussteigen auf sie stützen konnte. Im Freien schnaufte Hulda ein paarmal tief durch und watschelte auf den aus wuchtigen Quadern errichteten Wohnturm zu, der mit seinen winzigen Schießscharten und dem im zweiten Stock gelegenen Eingang eine Festung für sich darstellte. Anders als in früheren Zeiten, in denen eine leicht zerstörbare Holztreppe den einzigen Zugang dargestellt hatte, führte nun eine breite Steintreppe mit recht flachen Stufen zum Tor hinauf. Obwohl die Treppe bequem war, fiel es Hulda schwer, sie zu bewältigen.

Tautacher eilte hinter ihr her. »Soll ich Euch nicht besser tragen, Herrin?«

»Damit Ihr fallt und ich dabei zu Schaden komme?« Hulda wandte dem Mann brüsk den Rücken zu und legte das letzte Stück nach Luft ringend zurück.

Oben wartete ihr Vater auf sie und schloss sie erleichtert in die Arme. »Ich war schon in Sorge um dich! Du kommst sehr spät.«

»Ich wurde aufgehalten. Mir hat sich nämlich eine Gelegenheit geboten, mich an meiner größten Feindin zu rächen! Das wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.« Huldas Gesicht glänzte vor Freude, als hätte sie nach sechs Töchtern soeben den ersehnten Sohn geboren.

Rumold von Lauenstein starrte sie verwirrt an. »Was hast du …?«

»Ich habe Marie Adlerin entführen lassen!«, fiel seine Tochter ihm ins Wort. »Die Hure wird mir für all das bezahlen, was sie und ihr Mann Falko und mir angetan haben.«

»Bei Gott, Hulda! Was hast du dir denn dabei gedacht? Das Kind, das du trägst, ist wichtiger als deine Rache. Selbst der Pfalzgraf erwartet von dir, dass du endlich einen Erben für Hettenheim gebierst.«

Lauenstein machte aus seinem Ärger keinen Hehl, denn er hatte alle Fäden gezogen, die notwendig waren, um dem verhassten Vetter seines toten Schwiegersohns das Erbe vorenthalten zu können. Diese Vorbereitungen wollte er nicht durch eine Laune seiner Tochter gefährdet sehen.

Er warf dem Karren, auf dem er Marie vermutete, einen wütenden Blick zu. »Lass die Hure heute Nacht erwürgen oder ihr den Kopf abschlagen! Solange sie lebt, stellt sie eine Gefahr für dich dar. Wenn sie erst verscharrt ist, brauchst du keinen Gedanken mehr an sie zu verschwenden.«

Seine Tochter fletschte die Zähne. »Das werde ich nicht tun! Sie soll erleben, wie ich meinem ermordeten Gemahl einen Erben schenke.«

»Dummes Zeug!« Lauenstein seufzte, denn wie so oft musste er feststellen, dass nichts von dem, was er sagte, zu seiner Tochter durchdrang.

Hulda drehte sich um und befahl Tautacher, Marie in das tiefste Turmverlies zu sperren. Dann fiel ihr Blick auf Mine, die wie verloren im Burghof stand. »Komm endlich herauf! Es ist eine Schande, dass ein so schmutziges Ding wie du in einer guten Kammer wohnen wird; doch bevor du nicht geworfen hast, darfst du nicht in den Dreck zurück, aus dem du gekommen bist.«

Die schwangere Magd schlang die Arme um sich, als friere sie. Da versetzte Beate ihr einen Schlag. »Hast du nicht gehört, was die Herrin befohlen hat, du dumme Kuh?«

Mine setzte sich gehorsam in Bewegung, aber ihre Gedanken führten immer noch einen wilden Tanz auf. In ihrem Kopf echoten Tautachers prahlerische Worte, er und Xander hätten Trine beritten wie eine Stute. Über das, was danach geschehen war, hatte er zwar nicht gesprochen, doch sie erinnerte sich nur zu gut an den seltsamen Ausdruck, den sie in den Augen des Hauptmanns wahrgenommen hatte, und an seine Gesten, die ihr mehr Angst eingejagt hatten als die Worte, die ihrer Herrin während der Fahrt herausgerutscht waren. Tautacher hatte so ausgesehen, als müsse er Blut von seinen Händen waschen, und sie war nun sicher, dass Trine tot war.

»Schneller, du Trampel!« Frau Huldas schroffer Ausruf gaben den Gedanken der Magd eine andere Richtung. Sie erinnerte sich nicht nur an die Schläge, die sie von Hulda selbst oder deren Lieblingsmägden für jede Kleinigkeit und auch für vorgebliche Vergehen erhalten hatte, sondern auch an die Tatsache, dass die Herrin sie und Trine von einem der Reisigen hatte auspeitschen lassen, nur weil Falko von Hettenheim Gefallen an ihnen gefunden hatte. Das war natürlich erst geschehen, nachdem der Ritter die Burg verlassen hatte, um nach Nürnberg zu ziehen und sich wieder dem Gefolge des Kaisers anzuschließen.

Mine biss sich auf die Lippen und spürte den Geschmack von Blut im Mund. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, sie hätte das Kind unter den Schlägen des Reisigen verloren. Dann könnte sie nun zusehen und lachen, wenn die Herrin ihre siebte Tochter gebar – und ihre Schwester wäre noch am Leben. Mine hasste die Frucht der Vergewaltigung, die in ihr wuchs, kaum weniger als deren Erzeuger, aber am meisten verabscheute sie die plumpe, verblühte Frau über ihr.

Im diesem Augenblick begriff die Magd, was sie tun musste. Wenn die Herrin ihr Kind als das eigene ausgeben wollte, würde man sie bestimmt nicht am Leben lassen. Da war es besser, den Schritt in die Ewigkeit selbst zu tun, auch wenn ihre Seele dafür im Höllenfeuer schmoren musste. Mit diesem Entschluss begann sie, so schnell die Treppe hinaufzulaufen, wie das in ihrem Zustand möglich war.

Oben blieb sie vor Hulda stehen und blickte ihr spöttisch ins Gesicht. »Irgendwann werdet Ihr an Eurer eigenen Bosheit ersticken! Doch mir könnt Ihr nichts mehr antun.«

Mit diesen Worten trat sie an den Rand der Treppe und ließ sich in die Tiefe fallen. Bevor ihre Herrin begriff, was sich vor ihren Augen abspielte, schlug Mine mit einem hässlichen Laut unten auf.

»Nein! Nein!« Hulda kreischte auf, als sei sie von Sinnen, und starrte fassungslos auf die verkrümmte Gestalt unter ihr. Ihr Vater musste sie packen und festhalten, sonst wäre sie ebenfalls hinabgestürzt.

Unten beugte sich Beate über Mine und rüttelte sie. Doch es gab keinen Zweifel: die Magd war tot. Wie zum Tort für Hulda spielte ein Lächeln auf Mines Lippen, als hätte die Magd im letzten Augenblick einen Blick ins Himmelreich getan. Von Grauen erfüllt wich Beate vor dem Leichnam zurück und schlug die Hände vors Gesicht.

An ihrer Stelle bestätigte Tautacher seiner Herrin den Tod der Magd. »Das Miststück hat der Teufel geholt!«

»Was ist mit ihrem Kind? Los, schneidet ihr den Bauch auf! Ich muss es haben!«, antwortete Hulda mit überschnappender Stimme.

Tautacher wandte sich zu seinen Männern und wies auf die Tote.

»Schafft das Ding in einen Schuppen und seht zu, dass ihr das Kind lebend aus ihr herausbringt.«

Der ihm zunächst stehende Reisige wich vor ihm zurück. »Wir sollen Mine ausweiden wie eine tote Sau? Nein, das tue ich nicht, und wenn du mich erschlägst.«

Seine Kameraden schüttelten ebenfalls die Köpfe. Sie waren harte Männer, denen ein Leben wenig galt. Doch diese Aufgabe wollte keiner übernehmen. Tautacher begriff, dass er selbst tun musste, was Frau Hulda von ihm verlangte, und hoffte, dass die Belohnung hoch genug sein würde, sein Gewissen einzuschläfern.

»Bringt sie weg! Um das Kind kümmere ich mich selbst.« Er zog seinen Dolch und prüfte mit der Kuppe des linken Daumens die Schärfe. Als die Klinge tiefer in seine Haut schnitt als beabsichtigt, zuckte er zusammen und leckte das Blut vom Finger. Unterdessen packten vier Reisige die Tote an Armen und Beinen und schleiften sie zum nächsten Schuppen. Bevor Tautacher ihnen folgen konnte, traten sie bereits wieder ins Freie und verschwanden eilig zwischen den übrigen Gebäuden.

Alke rief unterdessen ihre Schwester zu sich und führte gemeinsam mit ihr die Herrin ins Haus. Die beiden Mägde setzten Frau Hulda auf einen gepolsterten Stuhl, reichten ihr Wein und Naschereien und schlichen um sie herum, bereit, jeden noch so unsinnigen Befehl zu befolgen.

Lauenstein war seiner Tochter gefolgt und hielt sich an seinem Weinbecher fest, bis Tautacher hereinkam. Der düstere Gesichtsausdruck des Hauptmanns verriet sofort, dass ihm der Erfolg versagt geblieben war. »Das Kind war ebenfalls tot.«

»Und? War es wenigstens ein Mädchen?«

Tautacher schüttelte den Kopf. »Es war ein Junge.«

Er schauderte, als er an die Arbeit der letzten Minuten dachte. Einen Menschen zu töten war eine Sache, aber einer toten Frau den Leib aufzuschneiden und in ihren Eingeweiden herumzuwühlen, war auch für ihn zu viel gewesen. Dieses Bild würde ihn wohl bis zu seinem Lebensende verfolgen.

Rumold von Lauenstein funkelte seine Tochter zornig an. »Ich will nur hoffen, dass du mit einem Sohn niederkommst, denn ich habe verdammt viel Geld ausgegeben, damit einige wackere Ritter und Bürger bereit sind, die glückliche Geburt des Erben von Hettenheim zu beurkunden, ohne dabei gewesen zu sein.«

Hulda strich mit ihren Händen über ihren weit vorgewölbten Bauch und spürte, wie eine erste Schmerzwelle sie erfasste. Sollte sie jetzt nach Mines auch noch ihr eigenes Kind verlieren?, fragte sie sich entsetzt. Doch dann keimte Hoffnung in ihr auf. Sie hatte das Kind lange genug ausgetragen, um es lebend zur Welt bringen zu können. »Alke, Beate, helft mir! Ich glaube, gleich ist es so weit.«

»Aber es ist doch noch zu früh!«, schrie Lauenstein erschrocken auf.

Mehr konnte er jedoch nicht mehr sagen, denn Beate kam auf ihn zu und wies auf die Tür. »Es ist besser, Ihr verlasst den Raum, Herr, und Ihr, Tautacher, ebenfalls. Nun ist Frauenwerk angesagt.«

Lauenstein wechselte einen kurzen Blick mit dem Hauptmann, und dann schossen die beiden so eilig hinaus, als wäre eine Meute Bärenhunde hinter ihnen her. Erst im Rittersaal hielten sie inne und befahlen einem Diener, Wein zu bringen. Es blieb nicht bei einem Krug, und als die Knechte Fackeln und Kienspäne anzündeten, um den Saal zu erhellen, war Lauensteins Zuversicht wiederhergestellt. Wohl hatte die Geburt überraschend eingesetzt, doch schließlich war es nicht das erste Kind, das seine Tochter gebar, und sie hatte sich nie lange damit abplagen müssen.

Als Tautacher spät in der Nacht berauscht vom Stuhl sank und schnarchend unter dem Tisch liegen blieb, streckte die Angst ihre langen, kalten Finger nach Lauenstein aus. Er blickte zur Decke, als könne er bis in den Raum hineinsehen, in dem seine Tochter in den Wehen lag, und lauschte den Geräuschen, die zu ihm herabdrangen. Lange Zeit vernahm er nur Schreie, die von entsetzlichen Qualen kündeten, und als er die Gebete jener Mägde vernahm, deren Hilfe bei der Geburt nicht benötigt wurden, begann er mit dem Schlimmsten zu rechnen.

In der Morgendämmerung stieg Alke die Treppe in den Rittersaal hinab. Ihre Miene wirkte so verkniffen, dass Lauenstein schon annahm, Hulda habe die Geburt nicht überlebt. »Was ist mit meiner Tochter?«

»Sie hat es überstanden«, antwortete die Leibmagd mit einer Stimme, die das Gegenteil hätte vermuten lassen. Sie fasste sich jedoch rasch und winkte Lauenstein, ihr zu folgen. »Kommt mit, Herr, und seht selbst.«

Lauenstein lief hastig die Treppen hoch und erreichte die Kemenate noch vor der Magd. Als er eintrat, sah er seine Tochter blass und abgespannt, aber bei vollem Bewusstsein auf ihrem Bett liegen. Obwohl sich das Bündel in ihren Händen bewegte, machte sie ein Gesicht, als würde sie das Neugeborene am liebsten zur nächsten Schießscharte hinauswerfen. Ohne ein Wort zu sagen, schlug sie das Tuch auf. Ein winziger, rotfleckiger Säugling ruhte darin. Lauensteins Blick suchte sorgenvoll die Stelle zwischen den Beinen, die über das Schicksal Hettenheims entscheiden würde, und als er die verräterische Kerbe entdeckte, stieß er einen Fluch aus, der einen Söldner hätte rot werden lassen.

Hulda reichte Beate ihre siebte Tochter und stemmte sich mit den Ellbogen hoch. »Bezähme dich, Vater, denn noch ist nicht alles verloren. Es gibt noch eine schwangere Frau auf der Otternburg, nämlich Marie Adlerin.«

Lauenstein starrte seine Tochter entgeistert an. »Du willst den Sohn einer Hure als deinen eigenen ausgeben? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Dieses unedle Blut …«

»Dieses unedle Blut, wie du es nennst, wird mir dabei helfen, den letzten Willen meines toten Gemahls zu erfüllen und Heinrich von Hettenheim von Falkos Erbe fernzuhalten. Ich werde die Herrin aller Burgen und Liegenschaften bleiben und meinen Töchtern die Mitgift verschaffen können, die ihnen gebührt. Der Balg hier ist jedoch überflüssig.«

Frau Hulda betrachtete das Neugeborene mit einem mörderischen Blick. Plötzlich hielt sie inne, nahm das Kind von Beate zurück und entblößte ihre schweren, tief hängenden Brüste. Mit der rechten Hand quetschte sie eine der blassen Brustwarzen, um zu sehen, ob schon Milch floss. Als ein wässriger Tropfen austrat, versuchte sie zur Verwunderung ihres Vaters die Tochter zu säugen. Frau Hulda bemerkte seinen verständnislosen Blick und lachte spöttisch auf. »Wenn ich in wenigen Wochen den Erben von Hettenheim nähren will, brauche ich meine Milch. Wir können es uns in dieser Situation nicht leisten, eine Amme zu rufen.«

Lauenstein schüttelte es bei dem Gedanken, seine Tochter würde den Sohn eines Wirtsschwengels und einer ehemaligen Hure tatsächlich als ihr eigenes Kind ausgeben, und rief innerlich alle Heiligen an, Marie mit einem Mädchen niederkommen zu lassen. Dann aber dachte er an den reichen Besitz, der Hulda und seinen Enkelinnen in diesem Fall verloren gehen würde, und er verstand ihre Beweggründe.

»Nun gut, hoffen wir, dass deine Feindin dir das Geschenk macht, das du dir von ihr erwartest.« Damit drehte er sich brüsk um und verließ den Raum.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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