XII.
Das Erwachen war fürchterlich. Lange Zeit schien Marie nur aus einem Kopf zu bestehen, der sich im Takt ihrer Herzschläge unter schier unerträglichen Schmerzen weitete und wieder zusammenzog. Nach einer Weile fühlte sie auch ihre Zunge wieder, die wie altes, rissig gewordenes Leder in ihrem Mund lag. Noch länger dauerte es, bis sie sich ihrer Gliedmaßen bewusst wurde. Erst als sie mit der Hand zum Kopf greifen wollte, nahm sie den Strick wahr, der ihre Arme an etwas Kaltem, Rauen festhielt, das wohl ein Eisenring sein musste.
»Wieso bin ich gefesselt?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Ihre Stimme kam ihr vor wie das Krächzen eines Raben, und doch hatte jemand sie gehört.
»Weil du unsere Gefangene bist, du widerliche Hure!«
Die Stimme war Marie bekannt, doch in ihrem elenden Zustand konnte sie sie nicht einordnen. Vergebens durchforschte sie ihr Gedächtnis, vermochte sich aber nicht zu erinnern, was geschehen war. Jemand musste sie niedergeschlagen und später mit Mohnsaft betäubt haben. Aber wer und warum? War sie einem der Ritter am Rhein in die Hände gefallen, der ein hohes Lösegeld für sie fordern wollte? Sie fürchtete schon, sie habe ihre Erinnerungen verloren so wie Michel damals in Böhmen. Langsam aber wurde ihr klar, dass sie in dem Fall nichts mehr von ihrem Mann, von Trudi und ihren Freundinnen auf Kibitzstein gewusst hätte. Nach einer Weile stiegen Bilder von einer Barke in ihr auf und von einer Herberge, in der sie auf die Weiterfahrt des Schiffes gewartet hatte. Dort war sie mitten in der Nacht zum Abtritt gegangen und hatte eine Frau weinen gehört. Sie war auf diese zugetreten und hatte sich über sie gebeugt. In dem Augenblick musste jemand hinter sie getreten sein und sie niedergeschlagen haben.
Ihrer Bewacherin schien ihr Schweigen zu lange zu dauern. Sie spürte einen Tritt gegen den Oberschenkel und riss die Augen auf. Jemand richtete eine Blendlaterne auf sie. »Das hast du von deinem falschen Stolz, du Hure! Nun erhältst du, was dir zusteht.«
»Marga?«, fragte Marie verblüfft. Es gab keinen Zweifel. Ihre Bewacherin war die ehemalige Wirtschafterin der Sobernburg, die sie als einfache Magd wiedergetroffen hatte.
»Ja, ich bin es!« Die Frau schnurrte vor Zufriedenheit.
»Warum hast du das getan?« Noch während Marie die Frage stellte, wusste sie, dass es die falsche war. Allein hätte Marga nie die Möglichkeiten gehabt, ihr unterwegs aufzulauern und sie zu entführen. Es musste eine weitaus mächtigere Person dahinterstecken.
»Ich habe dir schon immer einmal zeigen wollen, was ich von so einem Geschmeiß wie dir halte. Doch all die Jahre über musste ich den Nacken vor dir beugen, obwohl mein Vater ein Ritter und früherer Burghauptmann von Rheinsobern gewesen ist und meine Mutter die Tochter seines Vorgängers mit dessen damaliger Wirtschafterin. In meinen Adern fließt zu drei Viertel adeliges Blut! Du aber bist nur eine lumpige Hure und dein Mann ist ein Wirtsbalg. Euch Gesindel musste ich dienen, als wäret ihr das Pfalzgrafenpaar persönlich!« Marga begleitete jeden Satz mit einem Tritt. Sie achtete jedoch darauf, Marie nicht in den Bauch zu treffen, damit dem Kind nichts geschah. Für einen Augenblick überlegte Marga, ob sie Marie unter die Nase reiben sollte, in wessen Hände sie gefallen war. Doch sie durfte Hulda die Überraschung nicht verderben. Marga nahm einen Krug zur Hand und setzte ihn an Maries Lippen.
»Wenn es nach mir ginge, würdest du verhungern und verdursten. Aber ich habe den Befehl, dich am Leben zu erhalten. Also trink!«
Das Wasser hatte einen üblen Nachgeschmack, als wäre die Zisterne schon lange nicht mehr gereinigt worden. Maries Durst war jedoch groß genug, um den Ekel zu überwinden. Sie trank, so rasch sie konnte, und stöhnte enttäuscht auf, als Marga ihr den Krug wegnahm. Dafür stopfte die Frau ihr ein Stück Brot in den Mund. Marie kaute die aus grob gemahlener Gerste bestehende Kante sorgfältig und schluckte sie Bissen für Bissen hinunter. Ihr Lebenswille war wieder erwacht, und sie wusste, dass sie alle Kraft brauchen würde, um eine Gelegenheit zur Flucht ergreifen zu können.