VII.

 

Der Kerkermeister, dem Herr Rumold und Schäfflein übergeben wurden, behandelte die beiden wie andere Adelige, die in Arrest genommen wurden, und sperrte sie in eine luftige, mit Betten ausgestattete Zelle. Das erwies sich als Fehler, denn am nächsten Morgen fand man den Wormser Kaufherrn tot auf dem Boden vor der Tür liegen, und die Spuren an seinem Hals wiesen darauf hin, dass er erwürgt worden war.

Marie interessierte sich nicht für das Ende des Mannes, Schäfflein war ihren Gedanken längst entschwunden. Sie betete beinahe stündlich zur Jungfrau Maria und der heiligen Maria Magdalena, dass Hulda von Hettenheim sich dem Willen des Pfalzgrafen beugen und ihr das Kind übergeben würde. Statt der sprochenen Kerze hatte sie schon deren fünf in den Kirchen der Stadt geopfert, doch die Boten, die der Pfalzgraf ausgeschickt hatte, kehrten nach drei Wochen harten Rittes unverrichteter Dinge zurück. Hulda von Hettenheim hatte sie nicht einmal in die Burg gelassen, sondern ihnen vom Turm herab höhnisch erklärt, dass sie sich dorthin schleichen sollten, wo sie hergekommen waren.

Der Pfalzgraf, der Marie, Michel und Ritter Heinrich empfing, um ihnen die Nachricht von seinem Misserfolg mitzuteilen, versuchte seinen Ärger hinter lang geübter Souveränität zu verbergen. Er ließ ihnen Klappstühle und Wein bringen, als wären die drei hoch geachtete Gäste, und musterte sie durchdringend. Dann reichte er Michel ein mit mehreren großen Siegeln versehenes Pergament.

»Das Weib Hulda von Hettenheim weigert sich, ihrem Vater und mir zu gehorchen. Daher erteile ich Euch das Recht, ihren Willen mit Gewalt zu brechen.«

Michel starrte ihn verblüfft an und kniff die Augenlider zusammen. »Herr, ich verstehe nicht recht, was …«

»Ich erteile Euch das Recht zur Fehde mit Hulda von Hettenheim. Gleichzeitig verbiete ich meinen Vasallen bei Androhung höchster Ungnade, dieser Frau beizustehen. Reitet mit meinem Segen!«

Ludwig von Wittelsbach fühlte sich nicht besonders wohl bei dieser Entscheidung, Michel Adler und seine von den Toten auferstandene Frau auf diese Weise abzuspeisen. Aber ihm waren die Hände gebunden, denn er wollte den anderen Reichsfürsten nicht das entwürdigende Schauspiel bieten, Krieg gegen eine ungehorsame Vasallin führen zu müssen. Zudem wäre er in dem Fall selbst für das Leben und die Sicherheit von Maries Sohn verantwortlich gewesen, und er sah keinen Weg, Hulda von Hettenheim daran zu hindern, das Kind angesichts einer Niederlage umbringen zu lassen.

Im Stillen verfluchte er Falkos Witwe für ihren Starrsinn, der es ihm unmöglich gemacht hatte, sich als gnädiger und gerechter Fürst zu erweisen. Michel Adler das Recht der Fehde zu gewähren erschien ihm zwar selbst als Akt der Feigheit, aber angesichts der Lage sah er keinen anderen Ausweg als so zu handeln wie einst Pontius Pilatus. Er wusch seine Hände in Unschuld, damit ihn niemand für den Ausgang des Streits verantwortlich machen konnte. Dieser Gedanke brachte ihn beinahe so weit, doch noch offen Partei für Michel Adler zu ergreifen. Dann aber sagte er sich, dass der Ritter ja nicht allein stand, denn er hatte den Fehdebrief so verfasst, dass Adler dieses Recht auf Heinrich von Hettenheim ausdehnen konnte. War Heinrich der Gefolgsmann, den er sich erhoffte, würde der Ritter die Hettenheimer Burgen stürmen und sich in ihren Besitz setzen. Gelang ihm das nicht, war er kein Mann, den er brauchen konnte.

Mit diesem Gedanken lehnte sich Ludwig von Wittelsbach zufrieden zurück und blickte Michel auffordernd an. »Verbündet Euch mit Ritter Heinrich und zieht mit meinem Segen gemeinsam gegen die Sünderin!«

Während Michel noch an diesen Worten kaute, musste Marie an sich halten, um dem Pfalzgrafen nicht ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm hielt. In ihren Augen machte der Herr es sich allzu einfach; weder Michel noch Heinrich besaßen die Mittel für eine groß angelegte Fehde, zumal der Winter hereingebrochen sein würde, bevor der Kriegszug beginnen konnte. Wohl stellte Kibitzstein im Gegensatz zu Hettenheim eine reichsfreie Herrschaft dar, doch Michel war es wichtiger gewesen, anstelle von Reisigen Knechte einzustellen, die die Arbeit taten. Anders als er konnte Frau Hulda auf ihre eigenen Gefolgsleute bauen und wohl auch auf die ihres Vaters.

Heinrich von Hettenheim begriff, dass Michel und Marie über das Urteil nicht sehr glücklich waren, und trat neben sie. »Fasst Mut, meine Freunde! Es wird uns gelingen, euren Sohn zurückzuholen. Jeder, der euch einmal Freunde genannt hat, wird an unsere Seite eilen und das Schwert ziehen.«

Der Pfalzgraf fand, dass es Zeit für eine noble Geste war, und nickte Ritter Heinrich zu. »Einige Truppenteile, die dem Kaiser zur Verfügung gestellt worden sind, lagern hier in der Nürnberger Gegend. Im bevorstehenden Winter werden sie wohl kaum gegen die Böhmen ausrücken, also kann ich euch ein paar Fähnlein zukommen lassen.«

»Ich danke Euch, Herr.« Michel neigte den Kopf, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er diesen Kriegszug auf die Beine stellen sollte. Das Versprechen des Pfalzgrafen ließ ihn jedoch hoffen, ein paar Dutzend Söldner mit Kriegserfahrung zu erhalten. Wenn es ihm und Ritter Heinrich dazu noch gelang, einige ihrer Freunde als Verbündete zu gewinnen, konnte die Fehde einen glücklichen Ausgang nehmen.

Marie teilte den Optimismus ihres Mannes nicht. Sie kannte Hulda von Hettenheim und verging fast vor Angst um ihr Kind. Doch sosehr sie auch nachsann, ihr fiel keine Möglichkeit ein, den Jungen noch vor Beginn des Kriegszugs Frau Huldas Händen zu entreißen. Falkos Witwe würde ihr Land und vor allem den Knaben scharf bewachen lassen, denn er war ihr Trumpf in diesem bösen Spiel.

Ludwig von Wittelsbach lächelte seinen Gästen noch einmal huldvoll zu und wedelte dann leicht mit der Hand. Marie, Michel und Ritter Heinrich verstanden die Geste und zogen sich zurück. In ihrer Kammer spie Marie ihre Wut aus. »Ich war eine Närrin, mich an den Kaiser zu wenden! Wäre ich stattdessen in Verkleidung nach Hettenheim gereist, hätte ich mein Kind weitaus gefahrloser befreien können.«

Michel zog sie an sich und versuchte sie zu trösten. Ritter Heinrich trat neben das Paar und legte die Arme um beide. »Weinen und klagen hilft uns nicht! Wir müssen handeln. Außerdem bezweifle ich, dass es Euch gelungen wäre, Euren Sohn diesem Weib abzunehmen. Hulda hätte jede Eurer Verkleidungen durchschaut.«

»Nicht, wenn sie mich im fernen Russland oder bei den Tataren vermutet hätte.« Marie packte den nächstgelegenen Gegenstand und feuerte ihn gegen die Wand.

»Hier, nehmt diese irdenen Näpfe. Die zerbrechen wenigstens schön!« Ritter Heinrich reichte ihr die Schüsseln, die zum Füttern der Kinder verwendet wurden, und brachte Marie gegen ihren Willen zum Lachen.

»Ihr habt Recht! Es nützt nichts, ungenutzten Möglichkeiten nachzutrauern. Wir müssen unsere Gedanken auf das richten, was jetzt zu tun ist. Wie viele Krieger, glaubt Ihr, müssen wir sammeln, um Hulda von Hettenheim die Fehde antragen zu können?«

»Etwa dreihundert! Dazu benötigen wir ein halbes hundert Handwerker und Knechte, die Belagerungsgeräte bauen können. Ich hoffe, wir werden nicht jede der Hettenheimer Burgen erstürmen müssen, sondern nur die eine, in der sich unsere Feindin aufhält.«

»Wie viele Krieger bringen wir zusammen?« Maries Frage galt mehr Ritter Heinrich als ihrem Mann, denn sie glaubte zu wissen, dass Kibitzstein nicht in der Lage war, eine größere Kriegerschar aufzustellen.

Heinrich von Hettenheim bleckte die Zähne. »Zu wenige, um auf Erfolg hoffen zu können. Kommt, lasst uns Botschaft an all jene Freunde senden, von denen wir uns Hilfe erhoffen können.« Er trat an das Schreibpult, das Marie sich in die Kammer hatte stellen lassen, weil sie die wichtigsten Erlebnisse ihrer unfreiwilligen Reise aufzuschreiben begonnen hatte, und ließ sich Papier und Feder reichen. Seine Zuversicht flößte Marie und Michel Mut ein und bald beugten auch sie die Köpfe über einen Bogen Papier. Ehe der Tag geschwunden war, hatten sie etliche Briefe geschrieben und nahmen kühn das kaiserliche Botensystem in Anspruch, um die Schreiben zu ihren Empfängern bringen zu lassen.

Als sie beim Schein von Wachskerzen in größerer Runde zusammensaßen, hob Heinrich von Hettenheim seinen Weinbecher und trank seiner einstigen Marketenderin zu. »Auf Eure glückliche Rückkehr, Frau Marie. Nehmt sie als Zeichen, dass auch dieses Unternehmen ein gutes Ende finden wird.«

»Ich hoffe es.« Marie war nicht ganz so überzeugt wie er, doch sie wollte keinen Missklang in die Runde bringen und nahm daher ihren Becher auf.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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