IX.

 

Der nächste Tag begann mit einer Überraschung. Ein Herold des Kaisers erschien in Fürstin Anastasias Gemächern und überbrachte die Nachricht, dass die Einladung in den Manganapalast nicht allein Andrej gelten würde, sondern auch dessen Herrin und ihrer fremdländischen Haushofmeisterin. Da es im Allgemeinen nicht üblich war, Frauen zu solchen Anlässen zu bitten, kämpfte Anastasia sofort mit der Angst, der Kaiser werde sie gleich an die Moskauer Delegation übergeben, und nun drängte sie auf eine sofortige Flucht. Dafür aber war es zu spät. Bis es ihnen gelungen wäre, ein Schiff zu finden, das sie aus Konstantinopel hinausbringen konnte, würde man sie bei der Audienz vermissen und die kaiserlichen Wachen losschicken, um sie aufzuspüren und zu verhaften.

»Beruhige dich, Herrin! Sollte jemand es wagen, Hand an dich legen zu wollen, schlage ich sie ihm eigenhändig ab!« Andrejs Versprechen klang in Maries Ohren ein wenig großspurig, doch die Fürstin beruhigte sich so weit, dass sie der Audienz halbwegs gefasst entgegensehen konnte.

Sie ließ sich von Gelja und einer griechischen Dienerin in ihre beste Gewandung kleiden, die aus einem dünnen Seidenhemd, einem weiteren Hemd aus gemusterter Baumwolle und einer bodenlangen Tunika aus schimmerndem Damast bestand, an der ein Kragen aus Goldschnüren befestigt war. Ihren Kopf zierte ein Diadem, das zwar golden glänzte, aber aus mit Blattgold überzogenem Messing bestand, wie eine schadhafte Stelle Marie verriet. Ein Rosenkranz aus Halbedelsteinperlen und ein Gebetbuch vervollständigten Anastasias Erscheinung.

Marie musste sich ähnlich kleiden, nur fehlte ihr das Diadem, und ihr Rosenkranz bestand aus kleineren und weniger wertvollen Steinperlen. Heimlich befestigte sie ihren Dolch an einem Gürtel, den sie über das erste Hemd schlang, und schlitzte ein Stück der Tunika und des oberen Hemdes auf, um an die Waffe kommen zu können. Dann legte sie sich ein großes, dunkles Schultertuch um, das zwar nicht so recht zu der gemusterten Tunika passen wollte, aber die offene Naht kaschierte und ihr zusammen mit einer strengen Frisur das Aussehen einer weitaus älteren Frau verlieh.

Als Anastasia und Marie den Vorraum betraten, wartete Andrej bereits auf sie. Neben ihm stand Pantelej, der nicht mit ihnen kommen, sondern mit Alika und Gelja zusammen die Kinder bewachen sollte. Daher trug der Pope nur seine normale Kutte, die bereits arg schäbig wirkte. Andrej hingegen bot in seinem goldglänzenden Schuppenpanzer, dem spitzen, mit Otterfell eingefassten Helm und dem weiten roten Umhang das Bild eines großen Kriegers.

Anastasias Augen leuchteten bei seinem Anblick auf und Marie musste ein Lächeln verbergen. Sie hätte nicht dagegen gewettet, dass Andrej in den Träumen der Fürstin einen besonderen Platz einnahm, genauso wie sie in den seinen. Die beiden waren durch die gemeinsame Flucht aneinander geschmiedet, und Andrej würde nie aufhören, Anastasia zu beschützen. Marie sah das Ganze pragmatisch und sagte sich, dass er die selbst auferlegte Pflicht als Ehemann besser würde erfüllen können, als wenn er der Leibwächter der Fürstin blieb. Andrej war ein kühner Mann und würde sich gewiss einen bedeutenden Platz im Leben erkämpfen. Wenn sich keine andere Aussicht für ihn ergab, konnte er immer noch in die Dienste Kaiser Sigismunds treten, auch wenn es ihm wahrscheinlich schwer fallen würde, einem Lateiner zu gehorchen. Doch in der Not frisst sogar der Teufel Fliegen, dachte sie leicht boshaft, während sie auf den Hof des Bukoleonpalasts traten, in dem bereits zwei Sänften auf Anastasia und sie warteten. Für Andrej hatte man einen falben Hengst mit türkischer Zäumung bereitgestellt.

Der Recke musterte die Träger und die drei Gardisten, die diese begleiteten, und deutete durch eine Berührung seines Schwertgriffs an, dass er auf der Hut sein würde. Seine Anspannung löste sich, als die Sänften im gemächlichen Tempo in Richtung Manganapalast getragen wurden, so dass er nichts anderes tun musste, als neben Anastasias Sänfte herzureiten. Die Menschen, an denen sie vorbeikamen, wichen ehrerbietig aus, und Marie vernahm sogar Segenssprüche, die dem Recken und den Insassen der beiden Sänften galten. Es war so ein krasser Gegensatz zu den Ereignissen am Vortag, an dem sie fast an der gleichen Stelle durch die Straßen gehetzt worden war, dass sie nicht wusste, ob sie darüber lachen oder weinen sollte.

Nicht lange, da passierten sie das von einem Doppelposten bewachte Eingangstor der kaiserlichen Residenz und durchquerten mehrere Vorhöfe, bis sie von Dienern empfangen und unter Dutzenden Bücklingen in die große Halle geführt wurden. Der Manganapalast war ebenso wie der Bukoleonpalast nur einer von vielen Palästen in Konstantinopel, die die Kaiser im Lauf der Zeit errichtet hatten, und auch bei diesem befand sich kaum noch die Hälfte in bewohnbarem Zustand. Dennoch versuchten die Verantwortlichen, den Glanz des alten Imperiums heraufzubeschwören, so verblichen er auch sein mochte.

Der Saal war mit kunstvollen Mosaiken ausgelegt, die Tiere und Menschen in so natürlicher Weise darstellten, als könnten diese jeden Moment aufstehen und herumlaufen. An den Wänden befanden sich Gemälde mit Darstellungen aus der Heiligen Schrift sowie die Bilder verschiedener Heiliger, von denen Marie nur die wenigsten kannte. Unter dem Bild, neben dem sie warten musste, entzifferte sie die Inschrift Nikolaos, Bischof von Myra. Noch während sie nachsann, wer dies gewesen sein mochte, wurde die Gruppe ein Stück weitergeführt, und nun konnte sie einen Blick auf den kaiserlichen Thronsessel werfen, auf dem Johannes VIII. gerade Platz nahm.

Der Herr von Konstantinopel hatte wenig mit seinem kraftvollen Bruder gemein, sondern wirkte mit seiner blassen Haut und Augen, die überall hinblickten, nur nicht in das Hier und Jetzt, eher wie ein Gelehrter oder Geistlicher. Seine Robe glich der eines Bischofs, denn er trug über seinem bis zum Boden reichenden Gewand Pallium und Stola, die anders als bei den Kirchenmännern aus bunt gemustertem Brokat bestanden und mit Halbedelsteinen verziert waren. Auf seinen sorgfältig frisierten Locken saß eine Krone, von der zwei kleine Kreuze über den Schläfen herabhingen.

In der rechten Hand hielt er ein beinahe halbmannslanges Zepter und in der anderen ein kleines goldenes Kästchen, das, wie Andrej ihr zuflüsterte, die Reliquie eines als besonders mächtig geltenden Heiligen enthielt. Den Beistand der himmlischen Kräfte hatte Johannes VIII. wohl auch nötig, denn der Erste, der zur Audienz vorgelassen wurde, war der türkische Pascha, der Prinz Konstantinos am Vortag die Siegesparade verdorben hatte. Sultan Murads Bote trat breitbeinig vor den Kaiser und deutete nicht einmal eine Verbeugung an, als wolle er von vorneherein klarstellen, wer hier der Überlegene war. Johannes VIII. hob die Hand zum Gruß und lächelte, als hätte er einen geehrten Gast vor sich und nicht einen Abgesandten des Feindes. Malwan Paschas Kleidung unterstrich die Machtdemonstration seines Auftretens, denn sein mit Goldstickereien bedeckter Kaftan und die mit Edelsteinen geschmückte Agraffe auf dem voluminösen Turban waren gewiss wertvoller als der gesamte Schmuck, den die Griechen in diesem Raum zu zeigen vermochten.

»Mein erhabener Herr, Sultan Murad, entbietet dir, Ioannis von Konstantinopel, seine Grüße.« Die Stimme Malwan Paschas klang so hochmütig, als hätte er es mit einem lehnspflichtigen Untertan zu tun. Wäre er so vor Kaiser Sigismund aufgetreten, hätten dessen Gefolgsleute ihn für diese Unverschämtheit in Stücke gehauen. Doch im Gegensatz zum Herrn des Oströmischen Reiches vermochte Sigismund noch Heere aufzustellen, die in der Lage waren, den Türken Widerstand zu leisten.

Ein leises Murmeln aus einer dunklen Ecke lenkte Maries Aufmerksamkeit ebenso wie die des Türken auf sich. Gleich darauf trat Konstantinos Dragestes aus dem Schatten und musterte den Pascha herausfordernd. »Mein erhabener Bruder beherrscht weitaus mehr als diese Stadt, mein Freund. Oder solltest du vergessen haben, wessen Banner über dem Peloponnes weht?«

Der Türke drehte sich zu dem kaiserlichen Feldherrn um, ging auf ihn zu und umarmte ihn lachend. »Wie sollte ich vergessen, wer dort herrscht? Spricht man doch auch am Hofe meines erhabenen Herrn von den Waffentaten, die du dort vollbracht hast. Ich glaubte nur, es wäre dein Herzogtum. Doch nun sehe ich, dass der Bär immer noch dem Lamm dient.« Ein fast beleidigender Blick streifte dabei den Kaiser.

Marie sah den Grimm auf Konstantinos Dragestes’ Gesicht und begriff, wie schwer es dem Mann fiel, sich zu beherrschen. Er klopfte dem Türken auf die Schulter und lachte misstönend. »Ihr Türken mögt immer dem stärksten Häuptling nachlaufen, doch wir halten unsere Traditionen in Ehren. Solange Konstantinopel Bestand hat, werden wir dem Reich und seinem jeweiligen Kaiser mit all unserer Kraft dienen.«

Der Zeremonienmeister begriff, dass die Audienz des Türken beim Kaiser in ein längeres Gespräch mit Prinz Konstantinos auszuufern drohte, räusperte sich und bat Malwan Pascha, weiterzugehen. Dieser packte Konstantinos ungeniert beim Ärmel und zog ihn mit sich.

»Komm, mein Freund, lass uns miteinander reden. Ich würde gerne wissen, auf welche Art du die letzten Burgen der Franken erobert hast.«

»Um dieses Wissen dann gegen uns zu verwenden?« Dragestes’ Antwort klang spöttisch, doch er folgte dem Pascha ohne Widerstreben in einen anderen Raum.

Nun wurden Gäste vor den Kaiser geführt, bei deren Anblick Marie zusammenzuckte. Es waren Russen, und unter ihnen befanden sich Andrejs Onkel Lawrenti und Sachar Iwanowitsch. Der Bojar musste seine kurzzeitige Rebellion gegen Großfürst Wassili rasch aufgegeben und sich wieder auf dessen Seite gestellt haben. Marie nahm an, dass er einige von Wassilis Feinden an den Großfürsten verraten hatte, anders konnte sie es sich nicht erklären, wieso der Mann sich wieder in der Gunst des Moskowiters sonnte. Jetzt stand er breit und wuchtig vor dem Thron und versuchte die übrigen Mitglieder der Delegation allein durch seine Körperfülle auszustechen.

Ein Priester übersetzte das, was gesprochen wurde, vom Russischen ins Griechische und wieder zurück. Dabei schweifte Lawrentis Blick mehrfach zu ihnen herüber. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er dachte, aber Sachar Iwanowitsch beherrschte sich weniger gut, denn jedes Mal, wenn er zu Andrej herüberblickte, funkelte Hass in seinen Augen.

»Wir müssen uns mit unserer Flucht beeilen«, raunte Marie Anastasia zu. Diese konnte nicht mehr antworten, denn der aufmerksame Zeremonienmeister winkte die Russen weiter und rief nun Maries Gruppe vor den Thron. Während Anastasia vor dem Kaiser in die Knie sank, knickste Marie so, wie sie es von zu Hause gewöhnt war. Johannes’ dunkle Augen weiteten sich für einen Augenblick, dann richtete er mitfühlende Worte an die Fürstin, in denen er ihr Schicksal bedauerte und sie seiner Unterstützung versicherte. Es klang wie auswendig gelernt und ohne Kraft, daher fand Marie sich in ihrer Annahme bestätigt, Anastasia dürfe nicht auf die Hilfe des Kaisers bauen.

Auch Andrej wurde mit ein paar freundlichen Worten bedacht, in denen Johannes zum Ausdruck brachte, dass er den Recken gerne als Gefolgsmann seines Bruders auf dem Peloponnes sehen würde. Doch auch hier fehlte in Maries Augen der Nachdruck, ihr schien fast, als sei Anastasias und Andrejs Anwesenheit dem Kaiser lästig. Sie stellten für ihn ein Problem dar, das er am liebsten weit von sich geschoben hätte.

Eine schwache Handbewegung seines Herrn veranlasste den Zeremonienmeister, Anastasia und ihre Begleiter unbarmherzig weiterzuscheuchen. Marie hoffte schon, sie könnten den Manganapalast verlassen und wieder in ihr Quartier zurückkehren. Doch der Leiter des kaiserlichen Zeremonialamts wies auf einen offenen Torbogen, hinter dem mehrere Tische standen. An einem davon saßen Konstantinos Dragestes und der Türke, die sich von Dienern gerade gebratene Hühnchen und Fisch vorlegen ließen. Der Pokal des Prinzen wurde mit dunklem Wein gefüllt, während der Pascha der Farbe des Getränks nach zu urteilen Zitronensorbet erhielt.

»Setzt euch zu uns!«, lud der Prinz Marie und ihre Begleiter ein.

Der Türke blickte erstaunt auf. Seiner Miene nach behagte es ihm wenig, dass Frauen am selben Tisch wie er Platz nehmen sollten. Sein Blick wanderte zu Andrej und er musterte dessen kriegerische Gewandung. Dann wandte er sich an Konstantinos.

»Was ist das für ein Russe, der sich nicht zu den anderen Russen gesellt?«

Er wies auf die Gruppe um Lawrenti und Sachar Iwanowitsch, denen gerade ein anderer Tisch zugewiesen wurde. Marie sah, dass die beiden Männer, die sie als Einzige der russischen Delegation kannte, sich so setzten, dass sie Andrej und die Fürstin im Auge behalten konnten.

»Die werden saufen, bis sie unter dem Tisch liegen, so wie es die Art der Russen ist!«, spottete Malwan Pascha.

Sein Pfeil prallte an Andrej ab. »Da du als Moslem die Freuden nicht kennst, die der Wein zu spenden vermag, kannst du darüber nicht urteilen.«

»Wein macht Männer zu greinenden Kindern«, parierte der Türke.

»Oder zu wilden Bestien.«

Maries Worte brachten den Pascha dazu, sie anzublicken. »Du sprichst wohl aus Erfahrung, Weib? Nicht umsonst hat der Prophet – Allah sei mit ihm – den Wein verboten.«

Anastasia seufzte tief. »Manchmal wünschte ich mir, er wäre auch unseren Männern verboten.« Sie spielte darauf an, dass der Vollrausch ihres Mannes und seiner Gefolgsleute den Moskowitern die Gelegenheit gegeben hatte, Worosansk einzunehmen.

Marie nickte, obwohl sie nicht glaubte, dass allein der Branntwein Fürst Dimitri und dessen Höflinge kampfunfähig gemacht hatte. Ihrer Überzeugung nach war dem Getränk ein Mittel beigemischt worden, das die Zecher in tiefen Schlaf versetzt hatte.

Der Türke wusste ebenfalls, was Anastasia angedeutet hatte, und machte sich über die leichte Art lustig, mit der Dimitri von Worosansk sein Leben und sein Fürstentum verloren hatte. Andrej versuchte dagegenzuhalten, und so entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, der Marie kaum noch folgen konnte. Die anderen redeten in drei Sprachen durcheinander, von denen sie eine gar nicht, eine nur wenig und die dritte halbwegs verstand.

Andrej fiel es leicht, sich mit dem Pascha zu verständigen, denn der tatarische Dialekt, den er als Knabe bei Terbent Khans Stamm gelernt hatte, war eng mit der türkischen Sprache verwandt.

Während sich die Männer am Tisch unterhielten, spürte Marie, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten, und blickte sich suchend um. Irgendwo lauerte Gefahr. Sie sah unwillkürlich zu den Moskowitern hinüber und stellte fest, dass Sachar Iwanowitsch und drei oder vier andere Russen fehlten, während Lawrenti zu Andrej herüberstarrte, als hätte er Sehnsucht, mit ihm zu reden. Nach einer Weile hieb Dimitris einstiger Berater jedoch mit der Hand durch die Luft, als wolle er einen Gedanken verscheuchen, und widmete sich dem Wein, den ein aufmerksamer Diener ihm einschenkte.

Auch Andrej trank Wein, hielt aber ebenso wie Prinz Konstantinos Maß. Der türkische Pascha schlürfte seinen mit Zucker gesüßten Saft und machte sich über den Aufwand lustig, den seine Gastgeber trieben. »Man könnte meinen, in euren Truhen wimmle es nur so von goldenen Pokalen und Tellern, dabei weiß ich so gut wie du, Freund Konstantinos, dass dein erhabener Bruder im Allgemeinen aus irdenen Bechern trinkt und von Zinntellern isst. Das Wenige an Wert, dass er noch besitzt, hebt er auf, um Gäste zu beeindrucken, die längst nicht mehr zu beeindrucken sind. Alles andere haben er und seine Vorgänger längst verkauft, um ihr Söldnerheer bezahlen zu können. Dabei ist die Zahl eurer Kriegsknechte viel zu klein, um die Stadt halten zu können. Wenn es meinem Herrn gefällt, wird er schon morgen in Konstantinopel einziehen und aus eurer Hagia Sophia eine Moschee machen.«

»Wenn es so leicht ist, warum hat er es dann noch nicht getan?« Konstantinos Dragestes blitzte den Türken herausfordernd an. »Ich sage dir, warum! Er scheut den Angriff, weil die Mauern Konstantinopel ihm zu fest sind und dahinter Männer stehen, die ihre Heimat mit jeder Faser ihres Herzens verteidigen werden.«

»Der Aufwand wäre wirklich ein wenig hoch«, gab Malwan Pascha zu. »Mit derselben Zahl an Kriegern, die es bräuchte, Konstantinopel einzunehmen, vermag mein Herr Landstriche in Ungarn zu erobern, die weitaus größer und ertragreicher sind als eure halb verfallene Stadt. Einst mag sie ja mächtig und gefürchtet gewesen sein, doch diese Zeit ist längst Vergangenheit. Jetzt zittert ihr bereits, wenn der Lieblingsrappe des Sultans furzt.«

Prinz Konstantinos zuckte nur mit den Schultern. »Ich zittere nicht!«

»Das weiß ich, mein Freund.« Der Türke klopfte Dragestes auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Bei Allah dem Allmächtigen, warum wollt ihr nicht einsehen, dass es vorbei ist? Unterwirf dich Murad, und er wird dich zum Pascha von ganz Morea machen. Dein Bruder kann als Pascha über Konstantinopel herrschen, wenn er nur das Haupt neigt und uns das Tor öffnet. Oder träumt er immer noch, die Franken kämen ihm zu Hilfe, wie einst zu Zeiten eines Alexios Komnenos? Bei Allah, diese Hoffnung sollte er aufgeben. Wir haben Serbien und Bosnien unterworfen, und der Sultan lässt seine Standarte bereits über Ungarn wehen, das uns bald in die Hände fallen wird wie dir dieser Pfirsich.«

Der Türke ergriff eine Frucht und warf sie Konstantinos zu, der sie in einer Reflexbewegung auffing. Scheinbar ungerührt von den Worten des Paschas zückte dieser sein Messer und teilte den Pfirsich in zwei Hälften, von denen er Marie und Anastasia je eine reichte.

»Gib zu, du siehst es genauso wie ich. Der Westen wird euch nicht helfen, und selbst wenn er dazu bereit und in der Lage wäre, würden es eure Griechen nicht zulassen. Sie hassen die Franken weitaus mehr als uns Türken. Oder wurde nicht erst gestern wieder eine Frau aus dem Frankenviertel jenseits des Goldenen Horns vom Pöbel hier in der Stadt in Stücke gerissen?«

»Ganz wohl nicht, denn sonst säße ich nicht hier.« Marie wurde der Türke, der alles zu wissen schien, was in Konstantinopel vorging, direkt unheimlich. Anastasia und Andrej vernahmen nun erst, dass sie in Gefahr gewesen war, und stellten Fragen, die Marie mit Ausflüchten beantwortete. Sie interessierte mehr, was der Türke über Ungarn und Kaiser Sigismund zu berichten wusste. Zu ihrer Enttäuschung wechselte Malwan Pascha jedoch das Thema und wies zu den Moskowitern hinüber, die kurz davor waren, dem Wein zu unterliegen. Dabei nahm Marie wahr, dass Sachar Iwanowitsch noch immer nicht zurückgekehrt war.

»Hofft ihr vielleicht auf deren Hilfe?« Der Türke sah Konstantinos von oben herab an. »Der Mund der Russen verspricht mehr, als ihr Schwertarm zu leisten vermag. Außerdem kostet es meinen erhabenen Herrn und Sultan nur einen Wink, die Tataren der Krim oder die von Astrachan dafür zu gewinnen, sich in die Sättel zu schwingen und das russische Land bis nach Nowgorod hinauf zu verwüsten. Selbst wenn die Russen sich einig wären – was sie nicht sind –, stellten sie keine Gefahr für uns und keine Hilfe für euch dar.«

»Was ereiferst du dich dann so, mein Freund? Wenn unsere Stadt für euch nur noch eine Frucht ist, die ihr mit einer Hand pflücken könnt, so gibt es doch niemanden, den ihr fürchten müsst.« Bevor der Pascha sich versah, warf Konstantinos ihm spöttisch den Kern des Pfirsichs zu.

»Das ist das, was ihr bisher erreicht habt. Das Fruchtfleisch, sprich das flache Land, habt ihr erobern können. Doch Konstantinopel ist wie dieser Kern, hart und in der Lage, euren begehrlichen Zähnen noch lange zu widerstehen!«

»Für einen harten Kern braucht man einen harten Hammer. Wenn es so weit ist, werden wir ihn besitzen.« Der Türke schlenzte den Kern auf etliche Schritte in die Öffnung eines Kruges, den ein Diener gerade vorbeitrug. Es war Wein für die Moskowiter, und der Lakai wollte bereits auffahren, wagte es nach einem Blick auf den Türken dann doch nicht, sondern schenkte den Russen so vorsichtig nach, dass der Kern nicht in einen der Pokale rutschte.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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