IV.

 

Ludwig von Wittelsbach hätte den Kaiser verfluchen können. In seinen Augen war Sigismund für diese verworrene Situation verantwortlich, doch anstatt sie zu lösen, hatte der Kaiser Nürnberg beinahe fluchtartig verlassen und war nach Ungarn zurückgekehrt, obwohl weder ein Überfall noch eine akute Bedrohung durch die Osmanen gemeldet worden war. Damit hatte Sigismund es ihm überlassen, die verknoteten Fäden zu entwirren. Auch für ihn war die überraschende Rückkehr der totgeglaubten Marie Adlerin auf Kibitzstein ein Schock gewesen, und ihre Anklagen gegen die Tochter seines Beraters Lauenstein rückten ihn als Pfalzgrafen und Lehnsherrn in ein schlechtes Licht. Er hatte Falkos Witwe in ihrem Erbstreit mit Heinrich von Hettenheim unterstützt und deren Sohn, auf den Frau Marie nun Anspruch erhob, trotz vieler von Seiten seiner Höflinge und anderer Edler geäußerten Zweifel als neuen Herrn auf Hettenheim anerkannt. Ein Diener füllte den geleerten Weinpokal. In Gedanken versunken griff der Pfalzgraf nach dem Gefäß, trank aber nicht, sondern legte beide Hände um den Kelch, als wäre es ein Hals, den es zuzudrücken galt. Als er sich dessen bewusst wurde, konnte er sich nicht entscheiden, welchem Hals er am liebsten den Atem abgeschnürt hätte. Lauenstein hatte ihm immer treu gedient, und wenn er sich jetzt gegen dessen Tochter stellte, würde er sich in Zukunft nicht mehr auf das Wort des Mannes verlassen können. Aber er durfte die Anklage, die Marie Adlerin erhob, nicht achtlos beiseite wischen. Wenn ihre Behauptung stimmte, so hatte Hulda von Hettenheim jeden Anspruch auf seinen Schutz und seine Gunst verwirkt.

Das nächste Problem war die zweite Ehe Michel Adlers mit seiner Verwandten Schwanhild. Auch wenn er die Ehe seiner Base mit dem Reichsritter auf Magoldsheim nie akzeptiert und ihre Tochter daher nicht offiziell als Verwandte anerkannt hatte, so floss in Schwanhilds Adern doch das gleiche Blut wie in den seinen. Nähme Frau Marie ihren alten Platz wieder ein, würde dies eine Frau seiner eigenen Sippe auf eine Stufe mit einer Bettmagd stellen.

»Der Teufel hole die Weiber!« Der Pfalzgraf hob den Pokal, um ihn gegen die Wand zu feuern, brachte es dann aber doch nicht über sich, den Wein sinnlos zu vergeuden. Während er trank, drehten sich seine Gedanken im Kreis. Ganz gleich, wie diese Sache ausgehen mochte – für ihn käme jede Lösung einem Biss in einen sehr sauren Apfel gleich. Schon überlegte er, wie er es drehen konnte, Maries Bericht als Phantasie eines überspannten Weibes zu bezeichnen und die Frau in ein Kloster zu sperren. Aber alle Fakten sprachen gegen einen solchen Schritt, und wenn er ein falsches Urteil sprach, würde die Geschichte wie ein Lauffeuer durch das Reich gehen und seinem Ruf schaden.

Es stand nun einmal fest, dass Marie Adlerin auf dem Heimweg von Rheinsobern nach Kibitzstein überfallen und verschleppt worden war. Er hatte mithilfe eines gelehrten Mönches, der sowohl der russischen wie auch der griechischen Sprache mächtig war, Fürstin Anastasia und Ritter Andrej befragt und von beiden erfahren, dass die Ehefrau eines deutschen Reichsritters wie ein Stück Vieh auf dem Markt verkauft worden war. Dieses Verbrechen durfte nicht ungesühnt bleiben.

»Ist Lauenstein immer noch nicht hier?« Ludwig von Wittelsbach wurde immer aufgebrachter. Sonst hatte Herr Rumold sich stets in seiner Nähe aufgehalten, doch ausgerechnet jetzt weilte er auf einer seiner Burgen, um dringende Angelegenheiten zu regeln. Da Ludwig von Wittelsbach keine Antwort erhielt, hieb er mit der Faust auf die Lehne seines Sessels. Sofort eilte sein Leibdiener herbei und wollte neuen Wein einschenken.

Der Pfalzgraf packte den Mann am Brustteil seines Kittels. »Ich will wissen, wo Lauenstein bleibt!«

»Euer Bote müsste ihn bereits erreicht haben, aber da dieser ebenfalls noch nicht zurückgekehrt ist, weiß niemand, wann Herr von Lauenstein hier eintrifft.«

Der Diener hoffte, sich gut aus der Affäre gezogen zu haben, doch Ludwig von Wittelsbach gab ihm einen Stoß, der ihn beinahe zu Boden warf. Dabei schwappte Wein aus der Kanne und nässte den Boden. Der Pfalzgraf schien es nicht einmal zu bemerken, sondern presste wütend die Zähne aufeinander und starrte in die Ferne. Ihm war nur allzu gut bekannt, wie hartnäckig diese ehemalige Wanderhure sein konnte, und wenn er gegen sie entschied, würde dieses Weib es fertig bringen, ihn beim Kaiser anzuklagen.

Sein Diener hatte unterdessen einen Lappen geholt und wischte den Boden trocken. Herr Ludwig sah ihm einen Augenblick zu, nahm dann seinen Pokal und leerte den Rest mit hinterhältiger Freude neben seinem Sessel aus.

»Hier kannst du weitermachen«, erklärte er dem verblüfften Diener und fühlte sich sofort ein wenig besser. Seine Laune sank jedoch wieder, als einer seiner Höflinge, der sich ebenso wie die anderen Edelleute seines Gefolges in den letzten Stunden wohlweislich fern gehalten hatte, Ritter Heinrich von Hettenheim ankündigte.

Ludwig von Wittelsbach verzog die Lippen. »Der Mann kann es wohl nicht erwarten, sich an die Fleischtöpfe seines Vetters zu setzen.«

»Wenn Frau Maries Worte der Wahrheit entsprechen, wurde er zu Unrecht davon fern gehalten, mein Gebieter.« Es war kühn, dem Pfalzgrafen so in die Parade zu fahren, doch dem Höfling ging es auch um das eigene Recht und das seiner Freunde. Keiner von ihnen wollte ein ihm zustehendes Erbe durch eine Laune seines Lehnsherrn oder gar durch Betrug verlieren.

Das war eine der Gefahren, die Herr Ludwig auf sich zurollen sah. Selbst wenn es zu höherem Nutzen war, durfte er sich nicht offen über Gesetz und Recht hinwegsetzen, denn dies konnte ihn die Treue seiner besten Gefolgsleute kosten.

»Bringt Ritter Heinrich zu mir, und du«, ein strenger Blick traf den Diener, »besorgst einen Becher für Hettenheim. Vorerst reicht einer aus Leder. Zinn oder gar Silber muss er sich erst verdienen.«

Da es ein Privileg war, bei einer Audienz Wein kredenzt zu bekommen, beanstandeten weder der Höfling noch der Diener Herrn Ludwigs Entscheidung, denn es zeigte beiden, dass ihr Herr die Angelegenheit nach bestem Wissen und Gewissen regeln wollte.

Der Höfling eilte hinaus und kehrte kurz darauf mit Heinrich von Hettenheim zurück. Dieser verbeugte sich tief vor Herrn Ludwig, der, wie er hoffte, in Zukunft sein Lehnsherr sein würde. Zwar waren die einst nur bis zum Tod des Lehennehmers vergebenen Burgen und Güter längst in den Familien erblich geworden, dennoch war es nicht ratsam, sich die Gunst des Landesherrn zu verscherzen. Wenn er den Empörten spielte und dem Pfalzgrafen vielleicht sogar Mitwisserschaft unterstellte, würde er sein Erbe verspielen, noch ehe er es angetreten hatte.

»Willkommen, Hettenheim! Ich freue mich, Euch zu sehen.« Ludwig von Wittelsbach musterte seinen Gast wie einen Hengst, bei dem er nicht sicher war, ob er ihn in seinem Stall haben wollte.

»Euer Diener, mein Herr!« Heinrich von Hettenheim beugte sein Knie, um seine Ergebenheit zu bekunden, und vernahm überrascht, dass der Pfalzgraf seinen Leibdiener anwies, ihm einen Becher Wein zu reichen.

»Ihr habt von dieser üblen Sache gehört, Hettenheim?«

»Nicht sehr viel, Herr. Man erzählt sich, Frau Marie sei wieder aufgetaucht, und Frau Hulda habe einen Bastard ihres verstorbenen Gemahls als eigenes Kind ausgegeben, um mich von dem mir zustehenden Erbe fernzuhalten.«

Der Pfalzgraf lehnte sich in seinen Sessel zurück und bleckte die Zähne. »Es handelt sich nicht um einen Bastard, Hettenheim. Frau Marie schwört bei Gott und allen Heiligen, Frau Huldas Sohn wäre ihr Kind.«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, denn Hulda von Hettenheim hasst die Kibitzsteiner wie die Pest. Wie könnte sie da einen Sohn von Marie und Michel Adler als ihren eigenen ausgeben und aufziehen?«

Der Pfalzgraf blickte den Ritter scharf an, fand aber weder in seiner Miene noch in seiner Stimme eine Spur von Falschheit. Daher schob er seinen vagen Verdacht beiseite, die Sache mit dem Kind könne zwischen Ritter Heinrich und den Kibitzsteinern abgesprochen sein. Dieser Gedanke hatte wohl auch jeglicher Grundlage entbehrt, denn wenn ein Betrug geplant gewesen wäre, hätte Michel Adler ein Kind zweifelhafter Herkunft als seinen Sohn und Erben annehmen müssen.

»Die Wahrheit wird ans Licht kommen. Ich habe Lauenstein und seine Tochter hierher bestellt. Sobald sie hier sind, werde ich meine Entscheidung treffen.« Ludwig von der Pfalz ergriff seinen Pokal und gönnte sich einen großen Schluck, bevor er Heinrich von Hettenheim freundlich zunickte.

»Soviel ich gehört habe, nennt Ihr drei Söhne Euer Eigen?«

»So ist es, Euer Gnaden. Inzwischen sind es schon vier, aber der jüngste ist noch nicht größer als so.« Ritter Heinrich deutete die Größe eines etwa halbjährigen Kindes an und lächelte versonnen. Der Pfalzgraf rieb sich mit der Rechten über das Kinn und sah im Geiste vier kampfkräftige Ritter vor sich. Sein Gast hatte sich im böhmischen Krieg bewährt, und es war gewiss kein Schaden, ihn als Lehnsmann zu gewinnen. Mit den Söhnen konnte er sein kriegerisches Gefolge verstärken, während Huldas Töchter für ihn nutzlos waren, denn sie bekamen nicht genug Mitgift, um seine jungen Ritter mit ihnen belohnen zu können.

»Trinkt Euren Wein aus, bevor Ihr geht, Herr Heinrich. Ich lasse Euch und die anderen rufen, sobald die Entscheidung naht.« Ludwig von Wittelsbach nahm selbst einen Schluck und trieb im Geiste seinen Vertrauten Lauenstein an, sich mit seiner Rückreise zu beeilen.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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