III.

 

Wie lange das Schiff im Hafen geblieben war, vermochte Marie später nicht zu sagen. Wahrscheinlich waren es nicht mehr als zwei oder drei Tage, doch ihr kam die Zeit endlos vor. Sie war an ein reiches Tagwerk gewöhnt, und da sie wieder etwas zu Kräften gekommen war, fiel es ihr schwer, fast regungslos in dem Verschlag zu sitzen, der zu klein war, als dass sich alle darin Eingesperrten zum Schlafen ausstrecken konnten. Wenigstens wollte man sie nicht verhungern lassen, denn es gab genug zu essen. Aber die beiden Mahlzeiten, die morgens und abends gereicht wurden, bestanden immer nur aus Eintopf mit Heringen, denen Marie schon früher wenig hatte abgewinnen können und die sie nun hassen lernte. Von Zeit zu Zeit musste sie zusammen mit Alika den Eimer für die persönlichen Bedürfnisse hochreichen, damit er geleert werden konnte. Dabei konnte sie einen Blick auf das nächsthöhere Deck des Schiffes erhaschen, auf dem jedes Mal mehr Fässer und Ballen verstaut worden waren. Von dort führte, wie sie wusste, eine weitere Leiter ins Freie, doch auch die konnte mit einer Luke versperrt werden.

Die Matrosen sorgten dafür, dass sich den Sklaven nicht die geringste Chance zur Flucht bot, denn sie schlossen und verriegelten die Luke sofort wieder, wenn sie ihre Gefangenen versorgt hatten. Marie machte keinen Versuch mehr, einen von ihnen anzusprechen, denn um etwas erreichen zu können, hätte sie Geld benötigt. Also konnte sie nur warten und hoffen, dass sie an einen Ort geschafft wurde, den sie auf eigenen Füßen Richtung Heimat verlassen konnte. Hie und da fragte sie sich, was man wohl mit ihr vorhatte, wenn man sie wie ein Stück Vieh in die Fremde geschafft hatte. Sie hatte schon von den schrecklichen Schicksalen christlicher Sklaven in den Händen der Heiden gehört und fragte sich, ob man sie ebenfalls an die Wilden verschachern würde. Es war auch möglich, dass man sie an einen Landbesitzer verkaufte, der sie unter seine Leibeigenen steckte und zu Frondiensten zwang. Dann musste sie davonlaufen, ehe dieser sie, wie es üblich war, einem seiner Hörigen zum Weib gab.

Als das Schiff sich mit einem Ruck auf die Seite legte und wesentlich stärker schwankte als vorher, begriff Marie, dass ihre Heimat nun noch weiter hinter ihr zurückblieb. Wahrscheinlich würde sie in Gegenden verschleppt, deren Namen man im Reich noch nicht gehört hatte. Sie musste sich zwingen, gelassen zu bleiben, denn einige der Kinder, die nur auf dem verhältnismäßig ruhigen Rhein transportiert worden waren, gerieten in Panik, schlugen um sich und schrien ohrenbetäubend.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als Lisa festzuhalten, die sich auch in dieser Situation vertrauensvoll an sie schmiegte, und Alika zu beruhigen. »Anscheinend geht es los.«

Die junge Mohrin kniff die Augen zusammen, als müsse sie über diese Worte nachdenken. Während jener Tage auf dem Rhein, an denen sie bei Bewusstsein gewesen war, hatte Marie versucht, sich besser mit Alika zu verständigen, doch die Zeit war zu kurz gewesen, genügend Worte in der jeweils anderen Sprache zu lernen.

Als das Schiff sich hob und dann wie im freien Fall nach unten sackte, schlug Marie mit dem Kopf so stark an die Wand, dass ihr für einen Augenblick die Sinne schwanden. Danach krümmte sie sich vor Übelkeit und Schmerzen. Zu ihrer Erleichterung überwand sie ihre Beschwerden schnell wieder und es blieb nur eine kleine Beule zurück. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie über Schiffsreisen wusste, doch ihre Kenntnisse reichten nicht über eine gemütliche Prahmfahrt auf dem Rhein oder dem Bodensee hinaus. Das Meer kannte sie nur aus den abenteuerlichen Erzählungen von Händlern und Spielleuten.

Um sich abzulenken, begann Marie sich um die übrigen Sklaven in ihrem Gefängnis zu kümmern, das, wie seine Form vermuten ließ, nur einen Teil des Schiffsrumpfes ausmachte. Zwar konnte sie sich lediglich durch Gesten verständlich machen, aber die Kinder waren ihr sichtlich dankbar, wenn sie sie kurz an sich drückte und ihnen mit sanfter Stimme Mut zusprach.

Sechs Mahlzeiten, vermutlich also drei Tage, später schien das Schiff in einem Hafen anzulegen, denn seine bockenden Bewegungen hörten auf und es schwang nur noch leicht hin und her. Der Aufenthalt dauerte jedoch nicht lange, und noch während sie spürten, dass es wieder Fahrt aufnahm, wurde die Luke geöffnet und die Matrosen trieben ein halbes Dutzend Frauen hinab.

Marie war froh, auf Schicksalsgefährtinnen zu treffen, denn sie hoffte, sich mit ihnen unterhalten und etwas mehr erfahren zu können. Daher begrüßte sie sie freundlich, erhielt als Antwort aber nur einen abschätzigen Blick und eine Bemerkung, die so klang wie »Goeden Dag«. Die Frauen trugen keine einfachen Kittel, sondern weite, dunkle Röcke, braune Mieder über gleichfarbenen Blusen, wollene Umschlagtücher und eng anliegende Kappen aus hellem Leinen.

Ihre Anführerin sah sich kurz um und wies auf eine Stelle direkt neben der Luke. Dann scheuchten sie und ihre Gefährtinnen die Kinder, die dort lagen, mit harschen Worten fort und ließen sich nieder. Dabei unterhielten sie sich eifrig in einer Mundart, die in Maries Ohren noch fremder klang als das Holländisch der Matrosen. Dennoch versuchte sie, die Neuankömmlinge noch einmal anzusprechen, wurde aber mit unfreundlichen Handbewegungen vertrieben. Verärgert wandte sie sich ab und tröstete die verstörten Kinder, denen das Auftreten der Frauen Angst eingeflößt hatte.

Da die sechs viel Platz für sich in Anspruch nahmen, mussten die Kinder im Sitzen oder zusammengerollt wie Tierchen schlafen. Marie legte Lisa auf sich, so dass Alika sich eng an sie drängen und eines der kleineren Mädchen auf ihren Schoß nehmen konnte. Ungeachtet ihrer Hautfarbe und ihrer Herkunft fühlten die beiden, dass sie einander näher standen als den großen, breit gebauten Frauen mit ihren kalten Augen.

Am Abend zeigte es sich, dass die sechs ihren Platz schlecht gewählt hatten, denn als die Luke das nächste Mal geöffnet wurde, forderte einer der Matrosen sie barsch auf, den Latrineneimer hochzureichen. Auch mussten sie nun anstelle von Marie und Alika das Essen verteilen. Die Frauen schimpften und schienen sich zu weigern, doch ein Guss kalten Meerwassers, den einer der Matrosen über sie schüttete, brachte sie rasch zum Verstummen. Während sie mürrisch ihre Arbeit verrichteten, lächelte Marie schadenfroh in sich hinein und wunderte sich ein wenig, dass die recht gut gekleideten Frauen von den Matrosen noch verächtlicher behandelt wurden als sie und die Mohrin. Sie spitzte die Ohren, und da sie allmählich lernte, die Worte besser auseinander zu halten, glaubte sie zu verstehen, dass der Schiffer die Frauen aus dem Schuldturm freigekauft hatte, um sie in fernen Häfen als Huren an Bordellwirte zu verkaufen.

Marie erschrak nicht wenig, denn sie begriff nun, dass sie wohl ebenfalls als Hure in einer Hafentaverne enden würde. Für eine Weile war sie völlig niedergeschlagen und wünschte sich zu sterben. Schon schmiedete sie Pläne, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen konnte, aber Lisas Weinen erinnerte sie daran, dass sie noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Wichtiger als ihr eigenes Wohlergehen war es, ihren Sohn zu finden und zu Michel zu bringen. Also musste sie um jeden Preis und mit jedem Mittel überleben und nach Hause zurückkehren. Unwillkürlich dachte sie an Trudi, die sie wohl sehr vermissen würde, und kämpfte mit den Tränen, denn sie fürchtete, ihre Tochter nie mehr in die Arme schließen zu dürfen.

Schon bald darauf lernte Marie die rauen Seiten der See kennen, mit denen die Frauen von der Küste vertraut zu sein schienen. Nun war sie froh um die Anwesenheit der sechs Weiber, deren Gesten so ordinär waren wie die von Pfennighuren, als hätten sie das ihnen bestimmte Gewerbe bereits ausgeübt. Solange die sechs das mitunter heftige Rollen und Stampfen des Schiffes gleichmütig ertrugen, bestand wohl kaum die Gefahr, dass die Kogge vom Meer verschlungen wurde. Daher fand Marie zu einer gewissen Gelassenheit zurück, und es gelang ihr, auch die Kinder ein wenig zu beruhigen. Sie bemühte sich, einigen ihre Sprache beizubringen, merkte aber rasch, dass nur Alika an einer besseren Verständigung mit ihr interessiert war.

Die jüngeren Sklaven wirkten auf eine seltsame Weise gelähmt, als hätten sie das Denken verlernt. Das musste eine Folge der Gefangenschaft in dem düsteren Kasten sein, in den kein Tageslicht fiel und der auch ihr wie der Vorraum zur Hölle erschien. Sie erwachte häufig aus einem von Albträumen erfüllten Schlaf und vermochte eine Weile keinen klaren Gedanken zu fassen. Auch die sechs Frauen, die zu Beginn noch laut und ohne Rücksicht auf andere miteinander geredet hatten, wurden mit zunehmender Dauer der Fahrt stiller.

Marie hatte immer noch nicht herausgefunden, wohin die Reise führen sollte, denn die Namen, die die sechs immer wieder nannten und die zu Orten gehören mussten, sagten ihr nichts. Reval oder Riga konnten genauso gut an den Küsten Spaniens liegen wie am Nordmeer. Als sie wieder einmal versuchte, etwas zu erfragen, ließ eine der Frauen, die Brocken ihrer Sprache beherrschte, sich herab, ihr zu antworten. Demnach handelte es sich um große Städte, die an der Ostsee lagen. Aber die Verständigung reichte nicht aus, Marie begreiflich zu machen, wie viele Tagesreisen diese Orte von Nürnberg oder einer der anderen großen Städte des Reiches entfernt waren und in welche Himmelsrichtung man von den Ufern der Ostsee aus wandern musste, um dorthin zu gelangen.

Die Fahrt schien länger zu dauern, als die sechs Frauen angenommen hatten, denn sie wirkten von Tag zu Tag besorgter und ängstigten sich schließlich sogar. Dabei blieben das Verteilen der Näpfe und das Ausleeren des Kübels, was immer gleichzeitig geschah, der einzige Anhaltspunkt, dass wieder ein Morgen oder ein Abend gekommen war. Der Geruch, der sich während dieser Augenblicke in ihrem Gefängnis ausbreitete, verdarb Marie jedes Mal den Appetit, doch sie zwang sich, ihre Schale zu leeren, weil sie stark bleiben musste für die Flucht und für das Kind, das sie säugte. Während sie sich bemühte, die Nahrung bei sich zu behalten, stellte sie sich vor, wie sie demjenigen, der für den Fraß verantwortlich war, sämtliche Heringe an Bord in den Rachen stopfte.

Das Schiff legte noch in vielen Häfen an, blieb aber nie länger als sechs Mahlzeiten vor Anker. Die Geräusche, die von oben herabdrangen, verrieten Marie, dass Waren aus- und eingeladen wurden. Einmal vernahm sie barsche Stimmen und das Klirren von Ketten, als würden Sträflinge vom Schiff geschafft.

Die sechs Frauen wurden jedes Mal ganz nervös und schienen bei jedem Aufenthalt zu beten, dass auch sie endlich von Bord gelassen würden, und je weiter die Fahrt ging, umso wilder wurden ihre Vermutungen und Tränenausbrüche. Gesprächsfetzen konnte Marie entnehmen, dass sie sich davor fürchteten, zu den schrecklichen Moskowitern oder gar zu den grausamen Tataren verschleppt zu werden.

Diese Begriffe sagten Marie wieder etwas, und sie bedauerte, die Sprache ihrer sechs Leidensgefährtinnen nicht gut genug zu verstehen, um mehr in Erfahrung bringen zu können. Ihres Wissens war Moskau ein kleines Ländchen am Rande der bewohnten Welt, hinter dem nur noch jene Wesen lebten, die Tataren genannt wurden. Diese sollten keine richtigen Menschen mehr sein, sondern halbe Dämonen, die Menschenblut zum Frühstück tranken. Marie wurde es mulmig zumute, denn sie bezweifelte mehr und mehr, dass es ihr gelingen konnte, aus solch fernem Land den Weg in die Heimat zu finden.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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