V.

 

Marie bemerkte die Schatten der drohenden Gefahr erst, als der Pope Sachars Weib Fürstin Anastasia vorstellte und Lawrenti kurz darauf an der Spitze etlicher Krieger die Herberge verließ. Wenig später wurde Dimitri ins Haus gebracht. Zunächst glaubte Marie, er sei verwundet, denn er wurde von zwei Knechten getragen. Dann aber nahm sie den Geruch nach Erbrochenem wahr und begriff, dass der Fürst sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hatte. Als man ihn auf sein Bett legte, erbrach er sich erneut, und seine Helfer hatten Mühe, ihn vor dem Ersticken zu bewahren.

Im Unterschied zu dem Herrn von Worosansk wirkten Lawrenti und Andrej, die kurz nach ihm eintrafen, erstaunlich nüchtern. Lawrenti redete auf einige Krieger ein, die ihn begleitet hatten und nun ihre Waffen fester fassten. Dann eilten vier von ihnen hinaus, als wären sie zur Wache eingeteilt. Marie fragte sich, was geschehen sein mochte, denn der beinahe herzliche Empfang in diesem Ort hatte sie annehmen lassen, die Worosansker befänden sich unter Freunden. Sie verstand jedoch viel zu wenig Russisch, um sich einen Reim auf die Vorgänge machen zu können. Als sie versuchte, Andrej auf die Situation anzusprechen, gab der junge Edelmann nur ein unwirsches Brummen von sich, und Marie stellte fest, dass sein Körper gespannt war wie eine Bogensehne.

Enttäuscht wandte sie sich ab. In dem Augenblick zupfte jemand sie am Ärmel. Sie drehte sich um und sah Alika vor sich. »Was machen? Sollen weggehen?«

Marie drehte die Handflächen nach oben und zog die Schultern hoch. »Nein! Dafür ist es viel zu früh. Wir wissen nicht einmal, in welchem Land wir uns befinden und welcher Weg nach Hause führt.«

Alikas Lippen zuckten, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Sie litt unter den verächtlichen Gesten und der Art, in der die Mägde in ihrer Gegenwart über sie sprachen, als wäre sie ein unverständiges Tier. Auch flößten ihr die sichtliche Abscheu des Popen und die Blicke der übrigen Männer Angst ein. Einige verzogen ihre Mienen, als bestünde sie aus Hundedreck, und die anderen schienen zu überlegen, wo sie sie ungesehen in eine dunkle Ecke zerren konnten. Doch sie vertraute Maries Urteil.

Mit einem etwas ängstlichen Lächeln deutete sie in eine Ecke des Raumes, in der es noch einen freien Schlafplatz gab. »Gehen Bett wir beide. Besser.«

Marie nickte ihr aufmunternd zu, sah sich aber noch einmal zu Andrej um. Der alte Lawrenti, der gerade zu ihm trat, machte eine so düstere Miene, als erwarte er jeden Augenblick den Angriff überlegener Feinde, während der junge Edelmann mit einem Mal entspannter und sogar ein wenig übermütig wirkte. Offensichtlich hatte er etwas gegen das drohende Unheil unternommen. Marie fühlte, dass auch ihre Beunruhigung wich, und atmete tief durch, um den Ring um ihre Brust zu sprengen. Dann nahm sie Alikas Hand und zog die Freundin schnell zu dem freien Strohsack, damit kein anderer das Lager in Beschlag nehmen konnte. Da noch genügend Fackeln brannten, konnte sie die beiden Adeligen beobachten, die sich mit nervösen Gesten unterhielten.

Lawrenti sprach so leise, dass ihn weder die Knechte verstehen konnten, die die betrunkenen Edelleute in die Halle trugen, noch das Gesinde, das sich auf den Bänken niedergelegt hatte und ängstlich zu ihm und Andrej herüberstarrte. »Dimitri wird dein Eingreifen nicht belohnen, sondern es dir übel nehmen, weil du dich umsichtiger gezeigt hast als er.« Damit wiederholte er jene Bemerkung, die er in Sachar Iwanowitschs Halle gemacht hatte, noch einmal so eindringlich, als fürchte er um Andrejs Leben.

»Du meinst, er wird mich dafür bestrafen? Immerhin habe ich ihn und uns vor Tod oder Gefangenname bewahrt.«

»Du hast ihm gezeigt, dass du besser bist als er, und das mag er nicht. Sein Bruder Jaroslaw hätte sich trotz seiner Jugend nicht so leicht in die Falle locken lassen, denn der ist bereit, auf seine Ratgeber zu hören, und schlägt keine Warnungen in den Wind.«

Andrej starrte seinen Onkel ungläubig an. So offen hatte Lawrenti den älteren Sohn seines verehrten Fürsten Michail noch nie kritisiert. Die Worte grenzten an Hochverrat, und kämen sie Dimitri zu Ohren, würde dieser ihn foltern und auf bestialische Art hinrichten lassen.

Ein rascher Blick in die Runde zeigte ihm, dass niemand sie belauscht haben konnte. Dennoch hob er mahnend die Hand. »Du solltest vorsichtiger sein, Onkel. Der Herr von Worosansk ist nun einmal Dimitri, und er liebt seinen Bruder nicht gerade.«

»Er hasst ihn noch mehr als den jungen Großfürsten und fürchtet, Jaroslaw könne einen Weg finden, ihn zu stürzen. Aus welch anderem Grund hält er ihn beinahe wie einen Gefangenen? Der Junge darf keinen Schritt ohne Bewachung tun, weil Dimitri Angst hat, er könnte nach Moskau fliehen und Wassili Wassiljewitsch auf seine Seite bringen.«

Lawrenti gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen, und stürzte Andrej damit in ein Dilemma. Der junge Edelmann betrachtete seinen Fürsten trotz aller Gehässigkeiten und der unvermittelten Wutanfälle als Freund, und bis zu diesem Tag hätte er sein Leben für ihn gegeben. Jetzt aber krochen auch in ihm Zweifel hoch, und er hatte das Gefühl, als schwinde die bedingungslose Treue zu Dimitri, die sein Leben bis jetzt bestimmt hatte.

Er schüttelte sich, um die giftigen Gedanken zu vertreiben, die sich wie hässliches Gewürm in ihm breit machten. »Diese Worte will ich nicht gehört haben, Onkel. Wer weiß, wie Jaroslaw sein würde, nähme er Dimitris Stelle ein. Bis jetzt ist er nur ein unbeholfenes Kind.«

»Das bist du ebenfalls – ein Junge, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist.« Lawrenti wandte ihm verärgert den Rücken zu und schritt zur Tür, um, wie er laut ankündigte, die Wachen zu kontrollieren.

Andrej suchte mit in sich gekehrter Miene das Lager auf, das er sich vor dem Besuch bei Sachar mit seinem Mantel reserviert hatte. Aber er fand keine Ruhe, an diesem Tag war zu viel über ihn hereingebrochen.

Das Vermächtnis der Wanderhure
cover.html
title.html
dedication.html
part001.html
part001chapter001.html
part001chapter002.html
part001chapter003.html
part001chapter004.html
part001chapter005.html
part001chapter006.html
part001chapter007.html
part001chapter008.html
part001chapter009.html
part001chapter010.html
part001chapter011.html
part001chapter012.html
part001chapter013.html
part002.html
part002chapter001.html
part002chapter002.html
part002chapter003.html
part002chapter004.html
part002chapter005.html
part002chapter006.html
part002chapter007.html
part002chapter008.html
part002chapter009.html
part002chapter010.html
part002chapter011.html
part002chapter012.html
part002chapter013.html
part002chapter014.html
part003.html
part003chapter001.html
part003chapter002.html
part003chapter003.html
part003chapter004.html
part003chapter005.html
part003chapter006.html
part003chapter007.html
part003chapter008.html
part003chapter009.html
part003chapter010.html
part003chapter011.html
part003chapter012.html
part003chapter013.html
part003chapter014.html
part003chapter015.html
part004.html
part004chapter001.html
part004chapter002.html
part004chapter003.html
part004chapter004.html
part004chapter005.html
part004chapter006.html
part004chapter007.html
part004chapter008.html
part004chapter009.html
part004chapter010.html
part004chapter011.html
part005.html
part005chapter001.html
part005chapter002.html
part005chapter003.html
part005chapter004.html
part005chapter005.html
part005chapter006.html
part005chapter007.html
part005chapter008.html
part005chapter009.html
part005chapter010.html
part005chapter011.html
part006.html
part006chapter001.html
part006chapter002.html
part006chapter003.html
part006chapter004.html
part006chapter005.html
part006chapter006.html
part006chapter007.html
part006chapter008.html
part006chapter009.html
part006chapter010.html
part006chapter011.html
part006chapter012.html
part006chapter013.html
part006chapter014.html
part007.html
part007chapter001.html
part007chapter002.html
part007chapter003.html
part007chapter004.html
part007chapter005.html
part007chapter006.html
part007chapter007.html
part007chapter008.html
part007chapter009.html
part007chapter010.html
part007chapter011.html
part007chapter012.html
part007chapter013.html
part007chapter014.html
part007chapter015.html
part008.html
part008chapter001.html
part008chapter002.html
part008chapter003.html
part008chapter004.html
part008chapter005.html
part008chapter006.html
part008chapter007.html
part008chapter008.html
part008chapter009.html
part008chapter010.html
part008chapter011.html
part008chapter012.html
part008chapter013.html
part008chapter014.html
part008chapter015.html
part008chapter016.html
part008chapter017.html
part008chapter018.html
part008chapter019.html
backmatter001.html
abouttheauthor.html
copyright.html