III.

 

Der große Platz, der sich zwischen dem Palast und den Ställen erstreckte, wurde von vier Feuerstößen fast taghell erleuchtet. Auf einem der beiden Sessel, die am Rand eines markierten Kreises standen, saß Fürstin Anastasia, die über einem dunkelroten Sarafan einen Umhang aus Wolle trug, mit dem sie sich vor der kalten Feuchtigkeit der Nacht zu schützen suchte. Der zweite Sessel war leer.

Marie und Gelja wurden von Dimitris Wachen zu einer Gruppe eng zusammenstehender Mägde gescheucht, in deren Mienen sich so viel Entsetzen spiegelte, als sollten sie ebenso bestraft werden wie Darja. Dabei sah Marie etliche scheele Blicke auf sich gerichtet, doch es fiel kein böses Wort. Auch wenn die Russinnen sie nicht mochten, weil sie in ihren Augen eine Ketzerin war, so schüttelten sie sich alle bei dem Gedanken, Darja hätte ihre Tat ausführen können. In dem Fall hätte der Zorn des Fürsten alle Mägde im Terem getroffen, und er wäre imstande gewesen, jede von ihnen dafür umbringen zu lassen. Aus diesem Grund waren sie der Fremden sogar ein wenig dankbar, weil diese den Mord an dem Kind vereitelt hatte, doch das wollte keine von ihnen offen zugeben.

Stattdessen wurde Marie von einer älteren Magd getadelt. »Warum hast du Darja nicht gleich niedergestochen? Das wäre gnädiger gewesen.«

Sie kam nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben, denn Anastasia hatte sie entdeckt und winkte sie zu sich. Auf ihren Befehl musste sie sich zu der alten Kräuterfrau gesellen, die links von der Fürstin stand und offensichtlich dem Schlaf nachtrauerte, von dem der Befehl des Fürsten sie fern hielt. Hinter ihr standen Andrej, der Wassilissa um mehr als Haupteslänge überragte, und neben ihm, fast hinter Anastasias Sessel, der Priester.

Von ihrem neuen Platz aus hatte Marie keine Chance, sich hinter andere Zuschauer zurückzuziehen und den Blick unauffällig abzuwenden, insbesondere weil Anastasia sie immer wieder musterte, als wolle sie ihre Standhaftigkeit oder ihr schlechtes Gewissen prüfen. Daher heftete Marie ihren Blick auf die Stelle, an der Dimitris Tataren sich versammelt hatten. Es handelte sich um zwanzig Männer, die erwartungsvoll grinsten und immer wieder auflachten. Sie ließen einen Weinkrug kreisen und sahen dabei zu, wie eines der Branntweinfässchen angeschlagen wurde, die Lawrentis Freund Anatoli aus Nowgorod mitgebracht hatte. Ein Knecht füllte den Inhalt in große Becher und verteilte sie an die Steppenkrieger. Während die Tataren tranken, begannen sie zu würfeln und benahmen sich dabei wie fröhliche Kinder. Freudige Rufe klangen auf, wenn einer von ihnen gewonnen hatte, während die Verlierer enttäuscht aufstöhnten. Nichts an der friedlichen Szene deutete darauf hin, dass diese Männer in Kürze ein Todesurteil vollstrecken würden.

»Das ist typisch für unseren Fürsten«, murmelte Wassilissa vor sich hin. »Uns lässt er hier in der Kälte stehen, während er selbst seinen Vergnügungen nachgeht. Bis er sich ausgerammelt hat, sind wir zu Eis erstarrt.«

Zum Glück für die Kräuterfrau stand niemand nahe genug, um die Worte verstehen zu können, außer Marie, die der Alten im Stillen Recht gab. Der Herr von Worosansk schien sich wirklich nur für seine eigenen Bedürfnisse zu interessieren, denn er ließ sich viel Zeit. Dem Stand des Mondes nach war Mitternacht längst vorüber, als er auf den Hof hinaustrat. Eingehüllt in einen Mantel aus Zobelfellen, ließ sich er sich auf seinem Sessel nieder und winkte seinem Leibdiener, der ihm einen Becher voll Branntwein brachte. Während Dimitri genüsslich trank, schlüpfte Alika zwischen den dicht stehenden Leuten hindurch und blieb neben Marie stehen. Ihr Gesicht wirkte starr und sie hatte ihre Lippen zu einem schmalen Spalt zusammengepresst.

»War es schlimm?«, fragte Marie besorgt.

Alika machte eine verächtliche Handbewegung. »Habe gemacht, was Ziege tut, wenn Bock sie bespringt, nämlich stillgehalten.« Sie sagte es nicht besonders laut, benutzte aber die russische Sprache, wie die Fürstin es ihr und Marie befohlen hatte, so dass Anastasia ihre Worte verstand und zu kichern begann. Doch sie wurde sofort wieder ernst, als sie ein zorniger Blick ihres Gemahls streifte.

Dimitri ließ sich einen zweiten Becher voll Branntwein reichen und hob die Hand. »Wo ist Jaroslaw?«

»Hier!« Lawrenti schob den Bruder des Fürsten nach vorne.

Man hatte Jaroslaw nicht einmal mehr Zeit gelassen, sich richtig anzuziehen, daher steckte er trotz der kühlen Nacht nur in einem bis zu den Knien reichenden Kittel, dessen Ärmel oberhalb der Ellbogen endeten. Er sah so verschreckt aus, als fürchte er, in dieser Nacht selbst seinen Kopf zu verlieren.

Dimitri schenkte ihm einen Blick, mit dem ein Adler das Kaninchen betrachtet, welches er schlagen will, und entblößte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen. »Sieh gut zu, mein Bruder, wie ich diejenigen bestrafen lasse, die meinem Sohn übel wollen.

Beim letzten Mal warst du leider nicht dabei.«

»Beim letzten Mal?«, fragte Marie Wassilissa entgeistert.

Die Russin nickte mit düsterer Miene. »Er meint die erste Amme des Thronfolgers, deine Vorgängerin. Sie hat versucht, ihre Brustwarzen mit Gift einzuschmieren, um das Kind zu töten. Darja hat es durch Zufall gesehen und den Mord verhindert. Nun wird sie den gleichen Tod sterben.«

Marie spürte ein nervöses Kribbeln im Nacken. »Wie wird man sie hinrichten?«

»Das wirst du gleich sehen!«

Mehr konnte sie nicht sagen, denn der Fürst befahl den Tataren, mit der Bestrafung zu beginnen. Bis zu diesem Augenblick hatten die Männer unbeirrt weitergewürfelt und gezecht. Nun sprangen sie auf, und Marie konnte jetzt erkennen, dass sie statt der Lederkleidung und der Rüstungen, ohne die sie sich sonst kaum außerhalb ihrer Unterkünfte sehen ließen, nur Hosen und eng am Körper liegende Jacken trugen. Jeder von ihnen nahm sich eine Hetzpeitsche, dann stellten sie sich im Kreis auf.

Wassilissas Finger deutete auf ein am Boden liegendes Bündel, und erst als Marie genauer hinsah, erkannte sie Darja, die wie ein Paket verschnürt und geknebelt war. Einer der Tataren trat jetzt auf sie zu und nahm ihr den Knebel ab. Die Frau jammerte vor sich hin, rührte sich aber auch nicht, als er die Fesseln löste. In dem Augenblick jedoch, in dem er zurücktrat, schnellte sie hoch und versuchte, nach seinem Dolch zu greifen. Der Krieger wich ihren Händen fast spielerisch aus, packte sie und drehte sie so, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Dann riss er ihr das Kleid vom Leib.

Darja war eine noch junge Frau mit kleinen, festen Brüsten und schmalen Schenkeln, die von einem dunkelblonden Dreieck gekrönt wurden. Früher hatte sie als hübsch gegolten, doch jetzt glich ihr blutig geschlagenes Gesicht mit den aufgeschwollenen Lippen einer grotesken Fratze. Sie wirkte wie in Trance, wand sich jedoch im Griff des Tataren, der nun sein Glied aus der Hose holte, sie zu Boden warf und in eine Stellung brachte, in der er sie nehmen konnte wie ein Hengst die Stute. Da die Frau alles stumm über sich ergehen ließ, riss der Tatar ihr die Arme nach hinten und drehte so heftig daran, dass ihre Gelenke hörbar knirschten.

Nun brüllte Darja ihren Schmerz heraus und erntete grölendes Gelächter. Der Mann über ihr bewegte noch ein- oder zweimal die Hüften und ließ die Frau dann los. Sie rollte sich zusammen und jammerte vor Angst und Scham, und als der nächste Tatar auf sie zukam, versuchte sie, von ihm fortzukriechen.

Der Mann schlug mit der Peitsche auf sie ein, bis sie sich aufbäumte, dann packte er sie und vergewaltigte sie auf die gleiche Weise wie sein Vorgänger. Auch ihm schien sein Opfer nicht laut genug zu schreien, denn er versetzte ihr ein paar Hiebe mit dem Knauf seiner Peitsche und zielte dabei auf ihren Kopf.

Das widerwärtige Schauspiel dauerte wohl über eine Stunde. Kaum war ein Tatar mit der Magd fertig, stürzte sich der nächste auf Darja, quälte sie und benutzte sie geradezu bestialisch. Als der letzte der zwanzig Krieger fertig war, nahm wieder der erste dessen Platz ein. Längst hatte die Magd jede Beherrschung verloren und brüllte und kreischte, dass den Umstehenden die Ohren gellten. Marie hatte in ihrem Leben schon viel erlebt, doch jetzt fühlte sie sich am Rande einer Ohnmacht. Zwar hielt sie ihren Blick nun starr auf das Stalldach gerichtet, um diese Scheußlichkeiten nicht weiter mit ansehen zu müssen, doch Darjas Schreie ließen Bilder in ihrem Kopf entstehen, die noch schlimmer sein mochten als die Wirklichkeit.

»Bei Gott, wie entsetzlich! Hätte ich das gewusst, hätte ich ihr einen schnellen Tod verschafft«, flüsterte sie Wassilissa erschüttert zu.

Die alte Kräuterfrau schnaubte. »Sei nicht so weich, Frau aus dem Westen. Das Weib da erleidet nur das Schicksal, das es dir zugedacht hat.«

Das war Marie klar, aber dennoch hinderte diese Erkenntnis sie nicht, die Verurteilte zu bedauern. Die Tataren machten sich einen Spaß daraus, Darja auf alle möglichen Arten Schmerzen zuzufügen, und als die Frau nicht mehr stehen konnte, zerrten sie sie wie einen Sack Lumpen herum und dachten sich immer neue, für ihr Opfer qualvolle Stellungen aus. Marie musste mit ihrem Magen kämpfen, der schon gegen ihre Kehle stieß. »Wollen die Männer Darja auf diese Weise zu Tode bringen?«

»Das ist der Zweck des Ganzen.« Wassilissa hatte in ihrem langen Leben schon viele brutale Strafen miterleben müssen, auch wenn Dimitris Vater Michail es niemals zu solchen Exzessen hatte kommen lassen. Ihr Blick wanderte zu Jaroslaw hinüber, der seine Hände in die Rückenlehne des Sessels gekrallt hatte, auf dem sein Bruder saß, und so aussah, als müsse er sich jeden Augenblick übergeben. Die alte Kräuterfrau hoffte für den Jungen, dass er sich beherrschen konnte, denn Dimitri Michailowitsch war so gereizt, dass er seinen Bruder für jede Schwäche mit der Knute züchtigen lassen würde.

Allmählich schien den Tataren die Lust zu vergehen, über das blutige Bündel Mensch herzufallen, denn sie traten zurück und der Anführer blickte den Fürsten fragend an. Als Dimitri nickte, zog der Krieger seinen Dolch und stellte sich breitbeinig über die sich am Boden krümmende Frau. Einen Augenblick blickte er auf sie herab, als wolle er seine Tat auskosten, dann riss er ihren Kopf hoch und schnitt ihr die Kehle durch.

Als Stille eintrat, hatte Marie unwillkürlich ihren Blick auf die Szene gerichtet und schüttelte sich nun vor Grauen. Gleichzeitig wuchs in ihr der Druck, dieses barbarische Land zu verlassen, so stark, dass er ihr schier den Atem abschnürte.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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