VIII.

 

Marie fand es bedrückender als vor vier Jahren, sich auf einem Kriegszug zu befinden. Anders als damals saß sie nicht auf einem Ochsenkarren und plagte sich mit störrischen Zugtieren ab, sondern ritt auf Häschen, der sanften Stute, die ihre Aufmerksamkeit nur wenig beanspruchte. Es wäre ihr auch schwer gefallen, ein lebhafteres Pferd zu reiten, denn ihre Gedanken schwirrten wie Hummeln in ihrem Kopf. Immer wieder drehte sie sich im Sattel um und überflog das kleine Heer mit kritischem Blick, fand aber nichts auszusetzen. Die Männer marschierten zügig, und die Gespanntiere des Trosses folgten unverdrossen dem Hauptheer, während sich die Nachhut gut hundert Schritt hinter ihnen hielt, um die Truppe zu sichern.

Die Männer waren bester Laune, obwohl sie diesmal nicht auf nennenswerte Beute hoffen konnten. Den kaiserlichen Söldnern gefiel die Aussicht, den böhmischen Krieg fürs Erste hinter sich zu lassen, zumal die Winterquartiere, die ihnen bei Nürnberg angewiesen worden waren, aus den ärmlichsten Bauernkaten bestanden hatten und es dort höchstens Rübenbrei und hartes Brot zu essen gab. Michel hatte seine Proviantwagen neben Gerstenschrot auch mit Schinken, Würsten und ähnlich feinen Sachen beladen lassen, die die Soldaten sonst eher selten zu Gesicht bekamen. Das Kommando über den Tross führte sein einstiger Feldwebel Timo, der mit ihm von Rheinsobern gen Böhmen aufgebrochen war und dort in den Kämpfen ein Bein verloren hatte.

Der Einbeinige hatte, nachdem sein Herr verschollen gewesen war, Unterschlupf bei einer Nürnberger Witwe gefunden und es bei Michels überraschender Wiederkehr zunächst nicht gewagt, zu ihm zurückzukehren. Doch als die Gerüchte von der bevorstehenden Fehde in Nürnberg die Runde machten, hatte er die Gelegenheit ergriffen, Frau Gretes Pantoffel zu entrinnen, und Michel aufgesucht. Entgegen seiner Erwartung hatte dieser in seinem Heer tatsächlich Platz für einen einbeinigen Krüppel gefunden. Nun hockte Timo mit sich und der Welt zufrieden auf dem vordersten Wagen und brachte es fertig, die Trossknechte in strenger Zucht zu halten.

Michels einstiger Waffenmeister war nicht der einzige Getreue aus alter Zeit, der sich dem Kriegszug angeschlossen hatte. Direkt an der Spitze der Truppe ritt Ritter Dietmar von Arnstein mit einem Aufgebot aus seiner Schwarzwälder Heimat. Ihn begleitete sein ältester Sohn Grimald, ein schmucker Jüngling, der im nächsten Jahr den Ritterschlag erhalten sollte. Der junge Arnsteiner hatte bisher noch keinen Kriegszug mitgemacht und rutschte so nervös im Sattel herum, als erwarte er jeden Augenblick einen Überfall gegnerischer Truppen.

Marie schenkte dem jungen Mann ein aufmunterndes Lächeln und sah sich dann nach Ritter Heinrich und dessen Leuten um. Der Abt des Klosters zu Vertlingen hielt offensichtlich große Stücke auf seinen Vogt, denn er hatte ihm nicht nur den größten Teil seiner Kriegsknechte mitgegeben, sondern auch Nachbarn dafür gewonnen, sich Heinrich anzuschließen.

Die Nachhut unterstand Heribert von Seibelstorff, der sich auf dem böhmischen Feldzug in die angebliche Marketenderin Marie verliebt hatte und nach Michels Rettung sein Glück bei der Gräfin Sokolna gefunden hatte. Er war immer noch so begeisterungsfähig wie zu jener Zeit und gierte danach, Marie und Michel ebenso wie Heinrich von Hettenheim zu ihrem Recht zu verhelfen. Neben ihm ritt Andrej Grigorijewitsch in seinem vergoldeten Schuppenpanzer und dem spitz zulaufenden Helm. Für ihn stellte diese Fehde eine willkommene Gelegenheit dar, sich auszuzeichnen und einem der hohen Herren aufzufallen, denn auf Kaiser Sigismunds halbes Versprechen, ihm ein Reichslehen zu überlassen, wollte er sich nicht verlassen.

Mit diesem schlagkräftigen Heer konnte Marie ebenso zufrieden sein wie mit dem bisherigen Kriegsverlauf. Die Ritter und Kastellane, die die Burgen Rumold von Lauensteins verwalteten, hatten nicht gewagt, sich dem Befehl des Pfalzgrafen zu widersetzen, und offen erklärt, nicht für die Tochter ihres Herrn kämpfen zu wollen. Der gleiche Grund hatte – zusammen mit der Fama eines mächtigen Heerbanns, der dem zukünftigen Herrn des Hettenheimer Lehens folgte – zwei von Huldas Gefolgsleuten bewogen, die Tore ihrer Burgen für Heinrich zu öffnen. Nur Hettenheim selbst und die abgelegene Otternburg standen treu zu ihrer Herrin.

Marie glaubte Hulda von Hettenheim gut genug zu kennen und nahm an, dass diese sich der Treue der Leute auf der kleineren Burg sicherer sein konnte als auf der wesentlich größeren Stammburg, deren Männer noch von ihrem Ehemann ausgesucht worden waren. Deswegen hatte sie Michel und Ritter Heinrich gebeten, Hettenheim links liegen zu lassen und gegen die Otternburg zu ziehen. Dort, wo ihr Elend begonnen hatte, würde wohl auch die Entscheidung fallen.

Eine Hand griff in ihren Zügel. Als Marie aufschaute, sah sie Michel vor sich. »Unsere Vorreiter melden, dass die Burg in Sicht ist. Wir werden sie in weniger als zwei Stunden erreicht haben.«

»Endlich!« Marie atmete tief durch, entzog Michel den Zügel und ließ Häschen antraben. »Ich muss sie sehen!«

»Nimm die Kuppe des nächsten Hügels. Von dort aus müsstest du einen guten Blick auf die Wehranlage haben. Weiter lasse ich dich nicht reiten.«

Michel folgte Marie ein Stück und seufzte erleichtert, als er sah, dass sie tatsächlich oben auf dem Kamm anhielt. Gleichzeitig machte ihn der Anblick der Frau, die er liebte, ein wenig traurig. Ihr Verhältnis war noch nicht endgültig geregelt, und deswegen bestand Marie darauf, in getrennten Betten zu schlafen. Michel aber sehnte sich mehr denn je nach ihr und glaubte auch bei ihr den Wunsch zu spüren, in seine Arme zurückzukehren, doch sie hielt ihn freundlich, aber bestimmt auf Abstand. Er hoffte inständig auf einen glücklichen Ausgang dieses Feldzugs, denn wenn Marie erst ihren Sohn in Armen hielt, würde das Eis zwischen ihnen brechen und sie auch wieder für ihn da sein, daran glaubte er fest. Für einen Augenblick empfand Michel eine rasende Eifersucht auf jenes kleine Wesen, das die Sinne seiner Frau völlig gefangen zu nehmen schien, und fürchtete sich ein wenig vor der Zukunft. Im Grunde zweifelte er daran, das Kind nach einem Sieg noch lebend vorzufinden. Ob es ihm dann gelänge, Marie aus jener Starre zu wecken, in die sie sich dann flüchten würde? Leicht würde sie es ihm gewiss nicht machen.

Gleich darauf schalt er sich einen Narren. Noch war nichts verloren, und er würde alles tun, um Maries und seinen Sohn zu retten. Er hob den Kopf und blickte zu der Burg hinüber, die sich auf der nächsten Hügelkuppe erhob. Dort mussten Huldas Leute in letzter Zeit hart gearbeitet haben, um die veraltete Anlage auf eine Belagerung vorzubereiten. Die Mauern waren verstärkt worden, und ein neuer Turm schützte das Tor. Trotzdem schätzte Michel den Wert der Befestigung eher gering ein. Einem Heer wie dem seinen würde sie nicht widerstehen können.

»Ja, das ist die Burg, auf der man mich gefangen gehalten hat.« Hatte Marie vorhin noch so nervös gewirkt, als hätte sie Hummeln in ihrem Hinterteil, schien sie nun völlig ruhig und gefasst zu sein. Sie lenkte Häschen sogar ein wenig von der Straße, um die Vorhut ungehindert passieren zu lassen.

Dietmar von Arnstein ritt zu ihr, zügelte sein Pferd und zeigte lachend zur Otternburg hinüber. »Bei diesem Mäuerchen brauchen wir nicht einmal Sturmböcke. Das zerbreche ich mit meiner gepanzerten Hand!«

»Dabei werde ich dir aber helfen müssen!«, fiel Grimald ernsthaft ein und brachte nicht nur Marie und Michel, sondern auch seinen Vater zum Lachen.

»Das will ich auch hoffen!«, sagte Ritter Dietmar, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Aber erst einmal sollen die Knechte Katapulte und Rammböcke bauen, damit sie es nicht verlernen. In ein paar Tagen werden wir vor einer stärkeren Festung stehen, und da sind Belagerungsgeräte vonnöten.«

Herr Dietmar winkte Marie kurz zu und machte sich an den Abstieg. Marie verharrte ungeachtet des Windes, der kalt über die Hügelkuppe fegte, noch eine Weile auf ihrem Aussichtspunkt und ließ die Otternburg nicht aus den Augen. Plötzlich rieb sie sich über die Augen und blinzelte noch einmal. Aber es war keine Täuschung. Aus einer der kleinen Ausfallspforten im hinteren Teil der Burg schlüpften Leute. Erregt wies sie in die Richtung und rief ihren Mann zurück.

»Schau dort!«

Michel kniff die Augen zusammen und spähte hinüber. »Das sind entweder Flüchtlinge oder Boten, die Hilfe herbeirufen sollen. Wer es auch ist, er darf uns nicht entwischen.« Er wandte sich im Sattel um und winkte Ritter Heinrich zu. »Es sind Leute aus der Burg gekommen. Sorgt dafür, dass sie gefangen genommen werden!«

Heinrich von Hettenheim rief seinen Ältesten zu sich, der ebenso wie Ritter Dietmars Sohn bei dieser Fehde Kriegserfah rung sammeln sollte, und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

»So, mein Junge, jetzt zeig du, was du kannst!«

Das ließ der Bursche sich nicht zweimal sagen. Er winkte einigen Männern, ihm zu folgen, und trabte an. Sofort gesellten sich Michi und Grimald von Arnstein zu ihm, die sich das erste Abenteuer auf diesem Zug nicht entgehen lassen wollten.

»Seid vorsichtig und lasst euch in keine Falle locken!«, schrie Ritter Heinrich ihnen nach, doch die jungen Leute drehten sich nicht einmal um. Daher zog er sein Schwert und befahl einem Fähnlein, sich für den Notfall bereitzuhalten.

»Es könnte ein Trick der Witwe meines Vetters sein, an Geiseln zu kommen«, erklärte er Marie.

Er musste jedoch nicht eingreifen, denn durch die winterkahlen Bäume hindurch konnte er sehen, wie Friedrich von Hettenheim und seine Begleiter die Flüchtlinge einholten und umzingelten, ohne dass irgendetwas geschah.

Das Vermächtnis der Wanderhure
cover.html
title.html
dedication.html
part001.html
part001chapter001.html
part001chapter002.html
part001chapter003.html
part001chapter004.html
part001chapter005.html
part001chapter006.html
part001chapter007.html
part001chapter008.html
part001chapter009.html
part001chapter010.html
part001chapter011.html
part001chapter012.html
part001chapter013.html
part002.html
part002chapter001.html
part002chapter002.html
part002chapter003.html
part002chapter004.html
part002chapter005.html
part002chapter006.html
part002chapter007.html
part002chapter008.html
part002chapter009.html
part002chapter010.html
part002chapter011.html
part002chapter012.html
part002chapter013.html
part002chapter014.html
part003.html
part003chapter001.html
part003chapter002.html
part003chapter003.html
part003chapter004.html
part003chapter005.html
part003chapter006.html
part003chapter007.html
part003chapter008.html
part003chapter009.html
part003chapter010.html
part003chapter011.html
part003chapter012.html
part003chapter013.html
part003chapter014.html
part003chapter015.html
part004.html
part004chapter001.html
part004chapter002.html
part004chapter003.html
part004chapter004.html
part004chapter005.html
part004chapter006.html
part004chapter007.html
part004chapter008.html
part004chapter009.html
part004chapter010.html
part004chapter011.html
part005.html
part005chapter001.html
part005chapter002.html
part005chapter003.html
part005chapter004.html
part005chapter005.html
part005chapter006.html
part005chapter007.html
part005chapter008.html
part005chapter009.html
part005chapter010.html
part005chapter011.html
part006.html
part006chapter001.html
part006chapter002.html
part006chapter003.html
part006chapter004.html
part006chapter005.html
part006chapter006.html
part006chapter007.html
part006chapter008.html
part006chapter009.html
part006chapter010.html
part006chapter011.html
part006chapter012.html
part006chapter013.html
part006chapter014.html
part007.html
part007chapter001.html
part007chapter002.html
part007chapter003.html
part007chapter004.html
part007chapter005.html
part007chapter006.html
part007chapter007.html
part007chapter008.html
part007chapter009.html
part007chapter010.html
part007chapter011.html
part007chapter012.html
part007chapter013.html
part007chapter014.html
part007chapter015.html
part008.html
part008chapter001.html
part008chapter002.html
part008chapter003.html
part008chapter004.html
part008chapter005.html
part008chapter006.html
part008chapter007.html
part008chapter008.html
part008chapter009.html
part008chapter010.html
part008chapter011.html
part008chapter012.html
part008chapter013.html
part008chapter014.html
part008chapter015.html
part008chapter016.html
part008chapter017.html
part008chapter018.html
part008chapter019.html
backmatter001.html
abouttheauthor.html
copyright.html