II.

 

Marie schalt sich eine blutige Närrin. Wie hatte sie nur annehmen können, dass man ihr verzweifeltes Gestammel ernst nehmen würde? Aber sie war nicht dazu gekommen, richtig nachzudenken, denn sie hatte zum ersten Mal, seit sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, einen anderen Menschen vor sich gesehen als die Mohrin und die gefangenen Kinder. Daher hatte sie die Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen, nicht ungenützt verstreichen lassen wollen. Der Mann hatte ihr jedoch nicht einmal richtig zugehört, sondern ihr einen Schlag mit seinem Stock versetzt, der immer noch schmerzte, wenn auch nicht so stark wie ihre Wut auf sich selbst.

»Ich bin dumm, ganz einfach nur dumm! Ich hätte mir doch selbst nicht geglaubt, wenn ich solch eine Geschichte gehört hätte.« Alika sah Marie sorgenvoll an. Die junge Mohrin hatte Maries Versuch mit angesehen, mit dem Maat der Geit zu reden, aber da sie die Worte nicht verstanden hatte, begriff sie auch nicht, warum die Frau nun so verzweifelt war. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, legte sie ihr das kleine Mädchen in den Schoß.

Marie blickte auf das Kind und sagte sich, dass das Schicksal sie mit einer Pflicht geschlagen hatte, die sich bei einer möglichen Flucht als ein Hemmschuh erweisen würde. Die Kleine war nicht ihr Fleisch und Blut, dennoch fühlte sie sich für das kleine Würmchen verantwortlich.

Während der letzten Tage hatte das Mädchen regelmäßig trinken können und war sichtlich gediehen. Dazu mochte auch beigetragen haben, dass Maries Milch reichlicher floss als während ihrer Krankheit. Sie freute sich, dass es dem Kind besser ging, und wunderte sich über ihre fast mütterlichen Gefühle der Tochter jener Frau gegenüber, der sie ihre elende Lage zu verdanken hatte. Sie konnte ihr Schicksal jedoch nicht einem Geschöpf übel nehmen, das von seiner eigenen Mutter in die gleiche Hölle gestoßen worden war. Da sie und das Kleine nun einmal mit unsichtbaren Banden aneinandergefesselt waren, musste das Kind einen Namen bekommen. Sie bezweifelte, dass Hulda ihre Tochter christlich hatte taufen lassen, denn dann hätte sie sich offiziell zu ihr bekennen müssen. Sollte das kleine Mädchen nun trotz aller Fürsorge sterben, würde seine Seele den Lehren der Kirche zufolge dem Teufel verfallen sein. Bei dem Gedanken erschrak Marie und entschloss sich, sofort eine Nottaufe zu vollziehen. Sie benetzte die Fingerspitzen mit Wasser aus dem Schlauch, den man Alika gegeben hatte, um sie zu versorgen, benetzte damit die Stirn des Mädchens und schlug das Kreuz über ihm.

»Da Gott dich nun einmal mir anvertraut hat, gebe ich dir einen Namen. Du sollst Elisabeth heißen, im Andenken an die Mutter des heiligen Johannes des Täufers, an dessen Stelle ich dir dieses heilige Sakrament spende, auf dass du in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wirst.«

Als es vollbracht war, atmete Marie auf. Mit einer richtigen Taufe durch einen Priester konnte sie in nächster Zeit nicht rechnen, denn in den Bauch des Schiffes, in das man sie und die Kinder aus der Rheinbarke zu etlichen anderen jungen Mädchen und Kindern gesteckt hatte, stieg gewiss kein Prediger hinab.

»Rufen werde ich dich Lisa«, sagte Marie zu dem zufrieden glucksenden Kind.

Sie lächelte auf die Kleine hinab, aber ihre Gedanken befassten sich schon wieder mit der Situation, in der sie steckte. Selbst mithilfe der Satzfetzen, die sie beim Umladen auf dieses Schiff vernommen hatte, war es ihr nicht möglich gewesen, herauszufinden, wo sie sich befand. Sie nahm an, dass die Hafenstadt, die sie gesehen hatte, zu Holland gehörte. Der Größe nach konnte es Amsterdam sein, von dem die Kaufleute am Rhein Waren bezogen, die auch ihr schon angeboten worden waren. Leider hatte sie, als sie von der Rheinbarke auf die Kogge gebracht worden war, die kurze Zeit an der frischen Luft damit vergeudet, auf einen Kerl in weiten, dunklen Hosen, einer eng anliegenden waidblauen Jacke und einer Wollmütze mit Bommel einzureden, der einen höheren Rang einzunehmen schien als die Schifferknechte. Vielleicht hätte sie stattdessen stärker auf den Ort hinter dem Hafen achten sollen, denn jede Information über den Weg, den sie entlanggeschleppt wurde, konnte ihr später einmal helfen, zurückzufinden.

Das Einzige, das sie nun beschreiben konnte, war ihr neues Gefängnis, das sich tief im Bauch des großen Schiffes befand. Der Zugang zu dem Verschlag, dessen Außenwand von dem gekrümmten Schiffsrumpf gebildet wurde, war ebenfalls nur durch eine Luke in der Decke möglich, und die wurde, wie sie deutlich hatte hören können, mit einem großen Riegel oder schweren Balken versperrt. Also würde sie jeden Gedanken an Flucht aufschieben müssen, bis sie wieder festes Land unter ihren Füßen hatte und wusste, wo sie sich befand. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht auf eine Insel gebracht wurde, denn von dort würde sie nicht weglaufen können.

Ein Zupfen an ihrem Ärmel lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Alika. Das Gesicht der Mohrin hatte sich grau verfärbt und wirkte verzerrt, und sie deutete auf ihren Bauch. Marie begriff nicht, was ihre neu gewonnene Freundin damit ausdrücken wollte, doch ehe sie versuchen konnte, sich mit ihr zu verständigen, kroch das Mädchen auf Knien auf den großen Eimer zu, der hier die Stelle des Abtritts übernahm. Auf halbem Weg übergab sie sich mit einem gequälten Stöhnen.

Marie legte Lisa auf den dünnen Strohsack, der ihr als Lager diente, und trat zu Alika. »Was ist mit dir?« Im ersten Augenblick glaubte sie, die junge Mohrin könnte schwanger sein, dann aber rebellierte auch ihr eigener Magen. Einige andere Gefangene begannen ebenfalls zu würgen, und ein paar schrien so laut auf, dass es von den hölzernen Wänden zurückhallte.

Oben wurde der Riegel zurückgeschoben und die Luke geöffnet. Ein Mann sprang herab und blieb grinsend stehen. »Wenn ihr jetzt schon kotzt, während das Schiff vor dem Anker schwingt, wie wird es euch erst ergehen, wenn wir auf der offenen See sind?«

Es fiel Marie schwer, ihn zu verstehen. Viele Worte klangen ähnlich wie die gewohnten, während andere für sie keinen Sinn ergaben. Trotzdem versuchte sie ihre Chance zu ergreifen. Sie zwang ihren Magen mit eiserner Disziplin zur Ruhe und wischte ihren Mund ab, bevor sie sich dem Mann zuwandte.

»Verzeih, doch vielleicht kannst du mir einen Gefallen erweisen? Ich bräuchte Papier, Feder und Tinte, um einen Brief schreiben zu können. Wenn du diesen rheinaufwärts bis zum Main und auf diesem zur Herrschaft Kibitzstein schickst, wird man dich für die Nachricht, die er enthält, reich belohnen.«

»Hä?« Der Mann zeigte, dass er mit Maries Aussprache dieselben Schwierigkeiten hatte wie sie mit seiner. Nach einer weiteren Erklärung begriff er, was sie wollte, und winkte lachend ab. »Woher soll ein Matrose wie ich Papier und Schreibzeug nehmen? Und weißt du überhaupt, wie viel es kostet, einen Brief tief ins Reich zu senden? Der Postmeister unserer Gilde würde mir gewiss zwanzig Schillinge dafür abverlangen.«

»Wenn du es tust, wirst du zehnmal so viel erhalten«, erklärte Marie ihm verzweifelt.

»Genauso könntest du mir die ewige Seligkeit versprechen, denn es liegt nicht in deiner Macht, mir das eine wie das andere zu geben. Hier, wisch den Boden auf. Es stinkt nämlich gewaltig.« Mit diesen Worten griff der Matrose nach oben, brachte einen riesigen nassen Lappen zum Vorschein und warf ihn Marie an den Kopf. Danach stieg er von ihren Flüchen begleitet die Leiter hinauf und schloss die Luke hinter sich.

Marie starrte auf den Lumpen in ihrer Hand und feuerte ihn dann in die nächste Ecke. Als hätte er darauf gewartet, öffnete der Matrose erneut die Luke und sah grinsend auf sie herab.

»Wenn bis zum Abend hier nicht alles sauber ist, erhältst du weder etwas zu essen noch eine Decke – und die Nächte auf dem Meer sind um diese Jahreszeit verdammt kalt.«

Damit verschwand er wieder, und Marie kämpfte verbissen gegen die Tränen an, die in ihr aufsteigen wollten. Das Schicksal meint es wirklich nicht gut mit mir, dachte sie, während sie sich auf die Suche nach dem Lumpen machte und im Schein der Laterne, die diesen Raum nur wenig erhellte, den Boden zu säubern begann.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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